Alan Lee Hemmswood

Gnadenwolf


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werden wir dann Einzelstunden abhalten“.

       Und er trägt etwas Rätselhaftes in sich. Vielleicht ist das der Grund für seine Anziehungskraft. Er ist der perfekte Menschenfänger …

      „Gut, das hört sich vernünftig an. Ich will jetzt nicht noch mehr Ihrer kostbaren Zeit beanspruchen“. Liebig stand auf und streckte seine Hand aus. Von der Gruppentherapie hielt er wenig, doch es gab auch noch andere Gründe ihr beizuwohnen.

      Hoffmann ergriff die Hand und drückte kräftig zu „Standhaftigkeit ist eine Tugend, mein Freund. Wir werden dich schon wieder geradebiegen“. Ein Lächeln glitt über Hoffmanns Lippen, während er Liebig hypnotisierend ansah.

      Die Hausdame brachte Liebig zur Tür. Als er den Weg zur Straße herunterschlenderte, war er erleichtert diesen Schritt gewagt zu haben.

      Kapitel 10

       Ich sehe dich, ich sehe alles.

       Viele meiner Vertragspartner versuchen sich ihrer Schuldtilgung zu entziehen, aber das liegt nun einmal in der Natur des Menschen. Im Angesicht erschütternder Todesangst offenbart ein jeder sein wahres Gesicht, lässt die Maske aus gesellschaftlichen Konventionen fallen, wird triebgesteuert und ist zu allem bereit. Das ist der Moment, für den ich gewappnet sein muss. Jedoch bin ich ein Meister effektiver Vorkehrungen. Der Schachspieler nennt es Spieß. Ich stelle den König Schach und bin in selber Situation fähig die Dame zu schlagen. Ein unausweichliches Dilemma für das Gegenüber …

       Der Tag ist wieder einmal der Nacht gewichen. Sie ist mein Verbündeter, umschlingt mich, nimmt mich in sich auf, bis ich mit ihr konturenlos verschmelze. Ich steige über den kleinen Jägerzaun hinüber in den Garten und wate durch den tiefen Schnee. Im Haus sind alle Zimmer hell erleuchtet. In der Küche sitzen zwei Personen und essen zu Abend. Ich kann sie sehen, doch sie vermögen es nicht aus dem hellerleuchteten Raum herauszublicken und die Gefahr zu erspähen. So ist es immer. Die Menschen fühlen sich im Lichte sicher, doch in Dunkelheit werden sie von existenzieller Angst ergriffen. Aber: Wo sind sie für ihre Gegner unsichtbar? Im Lichte? Dass ich nicht lache. Ein gefährlicher Irrglaube.

       Die beiden lachen herzhaft und die Frau tätschelt sanftmütig den Kopf des kleinen Mädchens. Ja, ihre Blutlinie ist unverkennbar dieselbe. Sie sind beide hübsch. Sehr hübsch. Aber das wird sie im Zweifel nicht bewahren. Vanitas vanitatum et omnia vanitas… Nichts ist vergänglicher als die Schönheit. Zwar weiß ich die Schönheit zu schätzen, allerdings verzehre ich mich nicht nach ihr. Und schon gar nicht nach Körperlichkeit. Nichts als ein niederer menschlicher Trieb, der Fleisch und Geist schwach macht. Von derartigem habe ich mich schon vor langer Zeit freigemacht.

       Ob er schon Pläne geschmiedet hat, mir zu entkommen? Müßig darüber zu spekulieren. Letztendlich wird er meinen Fängen nicht entweichen können. Ich habe zu lange auf ihn gewartet.

       Für heute habe ich genug gesehen. Ich schleiche vom Grundstück, übersteige den Zaun und mache mich auf den Weg zu meinem heutigen Termin. Tugendhaftigkeit ist dieser Tag rar gesät … Wir leben in wahrlich schlechten Zeiten.

      Kapitel 11

      Schrilles Läuten. Schlaftrunken schlug Liebig nach dem Wecker. Nach einer weiteren unruhigen Nacht wollte er einfach noch nicht Morpheus‘ Armen entgleiten. Doch der gellende Lärm wollte nicht abklingen. Erst dann sah er, dass ihn nicht der Wecker, sondern sein läutendes Handy aus dem Schlaf gerissen hatte. Er nahm das Handy zur Hand.

      „Wer da?“, säuselte er gequält ins Handy.

      „Schau aufs Display, du Idiot“.

      Ein Moment der Stille. „Hm, danke. Aber das kann ich mir sparen. Dein liebliches Stimmchen ist unverkennbar. Was willst du so früh?“.

      „Ganz ruhig Sonnenschein. Ich habe dir doch versprochen mich zu melden, sobald es was Neues gibt. Unserer spezieller Freund hat heut‘ Nacht wieder sein Unwesen getrieben. In einer kleinen Wohnung im Ostviertel der Stadt wurde wieder eine Männerleiche gefunden. Durchtrennte Kehle“.

      „Wie kommt ihr darauf, dass er das war?“.

      „Ganz einfach: Schau‘ dir das Bild an, was ich dir gesendet habe“.

      Wortlos beendete Liebig das Telefonat und öffnete das übersandte Bild auf seinem Handy. Seine Hände wurden schlagartig schweißnass.

      Vor seinen Augen zeichnete sich ein düsteres Bild ab: Ein korpulenter Mann lag in unnatürlicher Weise verkrümmt auf dem Sofa. Das Blut aus der Wunde an der Kehle hatte alles in ein durchdringendes Scharlachrot getränkt. Dann fiel sein Blick auf die Wand. „Ohja, das ist eindeutig unser Freund“, murmelte er leise vor sich hin.

      „Mene mene tekel u-pharsin“

      Unter jedem einzelnen der Buchstaben verlief eine getrocknete Blutspur. Die weiße Wand, auf der sich die mysteriösen Worte abzeichneten, tat das Übrige und sorgte für den richtigen Kontrast. Hastig tippte er auf seinem Handy und hielt es sich wieder ans Ohr. Er hörte seinen eigenen Herzschlag, tief im Ohr. So als ob sein Herz nicht in seiner Brust, sondern eine Etage weiter oben angestammt wäre.

      „Das passt. Das ist er. Aber was soll dieses Kauderwelsch bedeuten?“.

      „Ich hab’s einfach mal ins Blaue hinein gegooglet. Mene mene tekel u-phrasin ist ein Referenz auf eine Erzählung im Alten Testament. Aber jetzt pass auf: Viele Jahrhunderte später verfasste Heinrich Heine eine Ballade über besagte Erzählung. Dieser Verrückte hat ein verdammtes Faible für Balladen. Die Erzählung handelt davon, wie der blasphemische König Belsazar, König von Babylon, von Gott bestraft wird, nachdem er Gott verhöhnt, indem er aus einem Kelch trinkt, den sein Vater Nebukadnezar II. aus einem Tempel in Jerusalem geraub...“.

      „Ja und weiter? Wir sind hier nicht in irgendeinem beschissenen Hollywood-Blockbuster. Spar‘ dir die Spannung und komm auf den Punkt“, unterbrach er seinen Kollegen ungeduldig.

      „Jaja schon gut, Moment. Ich zitiere:

      „Und sieh! Und sieh! An weißer Wand

      Da kam’s hervor wie von Menschenhand;

      Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

      Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.“

      „Und das Kauderwelsch sind dann die Worte, die der biblischen Erzählung nach geschrieben wurden. Ende der Geschichte ist, dass König Belsazar von seinen Knechten umgebracht wird“.

      „Dann sag mir jetzt bitte, dass du auch schon weißt, was der Schwachsinn übersetzt bedeutet“.

      „Diese Lösung, mein wissbegieriger Freund, liefert die gute alte Bibel gleich mit: Es bedeutet wohl so viel wie: Deine Tage sind gezählt, du wurdest gewogen und für zu leicht befunden, und dein Königreich wird zerteilt. Toni hat auch schon wieder seine qualifizierte Meinung kundgetan“, sagte er, nicht ohne das Wort “qualifizierte“ in die Länge zu ziehen und ihm somit eine mehr als ironische Note zu versetzen.

      „Er ist skrupellos, ein selbstgerechter Narzisst auf Kreuzzug gegen das Leben im Namen einer zweifelhaften Moral. Silvester, Erlkönig und Belsazar, wohl alles Allegorien. Der Gerichtsmediziner hat auch bestätigt, dass das erste Opfer um Mitternacht, wie in der Silvester-Ballade, getötet wurde. Das dritte Opfer hat dem Kerl wahrscheinlich irgendetwas gestohlen. Etwas, das ihn sehr erzürnt hat, wie König Nebukadnezar II., Vater des Belsazar. Nun ja und wir vermuten, dass das zweite Opfer vor der drohenden Gefahr flüchten wollte und deswegen am Flughafen gefunden wurde, in der Tasche ein One-Way-Ticket nach Neuseeland. Das Opfer war nicht willig, also holte er es sich eben mit Gewalt, wie der Erlkönig.“

      „Kann gut sein … Mein Kopf dröhnt. Nach deinem Überfall zur unchristlichen Zeit brauch‘ ich jetzt erst einmal eine Dusche und einen