Alan Lee Hemmswood

Gnadenwolf


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      „Calvin, wie geht’s dir?“.

      Erst jetzt schien Calvin die Anwesenheit Liebigs richtig zu begreifen. Er drehte sich und sah zu ihm auf. „Andreas … schön dich zu sehen“. Der zierliche Mann schien zerbrechlich wie eine historische Mingvase. Selbst seine Worte schienen brüchig und schüchtern.

      „Hast du kurz zwei Minuten?“, fragte er Calvin und deutete mit dem Kopf in Richtung des Ausgangs. Nach hastigem Kopfnicken folgte er Liebig und die beiden verschwanden durch den Flur hinaus, aus dem eine Seitentür in die eisige Nacht führte. Die beiden standen sich auf dem schneeüberzogenen Boden in einer kleinen Seitengasse gegenüber. Beidseits türmten sich nasse Backsteinwände auf.

      „Calvin, hör gut zu, ich brauche deine Hilfe. Es ist wirklich dringend. Du weißt noch, welchen Namen du mir vor einiger Zeit gegeben hast, um …“, Liebig rang nach Worten, „ … um mein Problem zu lösen“.

      Calvin starrte Liebig mit großen Augen an. „Ja, natürlich. Aber wie soll ich dir helfen?“.

      „Ich brauche Informationen über diesen jemand, ich muss ihn ausfindig machen“.

      „Andreas, ich weiß doch auch nicht mehr … “. Die letzte Silbe verstummte in einem erstickenden Laut. Liebig hatte beide Hände fest um den Hals von Calvin gelegt, der die Augen nun noch weiter aufgerissen hatte, im vergeblichen Versuch den festen Griff zu lösen. Liebig war zwar von der Krankheit geschwächt, aber er verspürte jeden Tag, wie seine Körperkraft langsam zurückkehrte.

      „So, wir sprechen jetzt mal Klartext. Wer hat dir von der Sache mit der Annonce erzählt?!“, flüsterte Liebig emotionslos im konspirativen Ton.

      Keine Antwort. Nur paraverbales Röcheln. Er drückte die Luftröhre noch ein Stück weiter zu. Die gesunde Gesichtsfarbe wich langsam einem bläulichen Teint. Liebig merkte, dass Calvin etwas sagen wollte und reduzierte die Krafteinwirkung.

      „Ich habe den Tipp von einem alten Gruppenmitglied. Ich kenn‘ nur seinen Vornamen: Elias“, keuchte Calvin und glotzte Liebig weiter fassungslos an. Das hatte er nicht erwartet.

      „Ich will den Nachnamen“. Der Griff wurde wieder enger.

      „Ich schwöre … Ich kenn‘ nur den Vornamen. Du weißt doch, dass hier niemand seinen Nachnamen nennt, nur Vornamen … Bitte. Er war auch krebskrank, krebskrank, das weiß ich noch“.

      Liebig brachte die Schraubzwänge bis in den Anschlag. Er konnte die Adern auf seinen Händen heraustreten sehen. Kommt da noch was? Calvin glotzte weiterhin schockiert. Als er keine Anstalten machte noch etwas preiszugeben, ließ Liebig von ihm ab. Calvin sank entkräftet zu Boden in den Schnee und prustete laut. Der kleine Mann hielt seine Hände abwehrend über den Kopf. „Bitte … nicht weiter, bitte hör auf. Ich weiß doch nichts“. Dann schluchzte er laut.

      Scheiße, was machte ich hier eigentlich? Liebig starrte ungläubig auf seine Hände, erschrocken von sich selbst. Calvin nun dort auf dem Boden kauernd zu sehen, war kein schöner Anblick. Es war, als hätte ihn jemand anders gesteuert, seine Hände an Calvins Kehle geführt … der skrupellose Überlebensinstinkt? Eigentlich mochte Liebig Calvin sogar. Er sah immer so verträumt aus, wenn Hoffmann seine Reden hielt. Als befände er sich in einer ganz anderen Welt. Und mit seiner Krankheit ging es dem armen Kerl ohnehin schon schlimm genug. Manie und Schizophrenie, mit dem Intellekt eines Jugendlichen.

      „Hey Calvin, tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist“. Als Liebig seine Hand ausstreckte, um Calvin hoch zu helfen, zuckte dieser zusammen. „Schon gut, alles ist gut“. Liebig half ihm wieder auf die Beine und klopfte den Schnee von seiner Hose.

      „Alles wieder gut?“, nahm Calvin die Worte von Liebig auf.

      „Ja, komm, geh wieder rein. Ich mach mich jetzt schon mal aus dem Staub“.

      Calvin erhob sich vom Boden, wie ein Kitz, das erstmals auf die Beine kommt, und ging zurück zur Tür, während er ängstlich über seine Schulter zu Liebig sah. Er versuchte ein gutmütiges Gesicht zu machen und zwang sich ein beschämtes Lächeln ab.

      Auf dem Heimweg überlegte Liebig sein weiteres Vorgehen. Elias und krebskrank. Das ist wenigsten schon mal ein Ansatz, damit kann ich arbeiten. Aber jetzt brauch' ich die Hilfe von Hoffmann, sonst hilft auch der Vorname nicht weiter. Im Hausflur angekommen, öffnete er seine Schubladenwohnung und legte sich auf direktem Weg ins Bett.

      Kapitel 14

      Das trübe Pergament saugt die Tinte gierig auf. Schatten tanzen wild über die geschwungenen Lettern:

      Pactum

      Was wurd‘ dir gegeben, werde ich dir nehmen. Aber auch dein Lohn soll fürstlich sein. Aufwiegen will ich deine Zeit. Jedoch wirst du dich verweigern der Schuld, die dein,

      so wird es die Deinen ereilen, das erbarmungslose Leid. Drum sei dir eines gewiss: Ich hole mir das, was meines ist.

      Die Unterschrift besiegelt es. Der Rabe erhebt sich von seinem aus Eichenholz gefertigten Stuhl und reicht die Hand. Gleich werden sich die Hände berühren …

      Liebig saß wieder kerzengerade im Bett. Sein Herz pochte wie wild, beschleunigte auf ungeahnte Schlagzahlen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, sein Atem raste, die Augen waren weit aufgerissen. Sein gehastetes Luftschnappen glich beinahe einem tierischen Hecheln, zeugte von unermesslicher Panik. Auch wenn er dreimal so schnell atmete wie sonst, rang sein Körper noch nach Sauerstoff. Es schien, als seien seine Lungen ihrer Funktion überdrüssig geworden. Nach einigen Sekunden des Hyperventlierens beruhigte sich seine Atmung wieder. Er stand auf, zog sein verschwitztes Shirt aus und ging hinüber zur Küche.

      Liebig zog die klapprige Kühlschranktür auf und öffnete ein kühles Bier. Das wird meine Nerven beruhigen. Der kühle Gerstensaft strömte seine Kehle herab und löschte die Feuersbrunst, die in ihm tobte. Anschließend tigerte er unruhig, wie ein gefangenes Raubtier, durch seine kleine Wohnung. Verdammt! Er hatte wieder mal die Heizung nachts angelassen. Kein Wunder, dass er bei den tropischen Temperaturen die hässliche Sorte von Träumen erlebte.

      Wenn Liebig nervös war, schaute er immer nach, ob es noch da war. Mit einem Küchenmesser bewaffnet ging er von der Küche ins Bad, kniete sich neben die Badewanne, führte das Messer in eine Fuge zwischen zwei Kacheln unter dem Waschbecken, hebelte die obere Kachel heraus und griff in die Öffnung hinein. Zum Vorschein kam ein akkurat sortiertes Bündel an Geldscheinen, umfasst von einer Banderole. Das Corpus Delicti, Quell all meines Übels. Jedes Mal, wenn er das blutige Geld aus seinem Versteck holte, fühlte er sich, als öffne er aufs Neue die Büchse der Pandora. Er wiegte das Bündel. Es lag schwer in seiner Hand, so als bestünde es nicht aus ordinärem Papier, sondern aus schwerem Metall, geschmiedet in Feuersbrunst.

       Wie viel Geld braucht es, um eine menschliche Seele aufzuwiegen? Das hängt wohl ganz davon ab, wie viel sie wert ist. Und wie viel sollte das bei der Seele eines Lebensmüden schon sein? Gemessen am Geschenk des Lebens ist es definitiv zu wenig. Aber der Rabe hat auf diesem Markt nun einmal das Monopol und diktiert den Preis. Pures Blutgeld …

      Nachdem das Geld auf dem kleinen Berg weiterer Bündel seinen ursprünglichen Platz wieder eingenommen hatte, verschloss er die Öffnung und schlich zurück in die Küche, wo er sich Teewasser aufsetzte. Während das Wasser köchelte, stand Liebig am Fenster. Er mochte den Schnee. Überhaupt mochte er alle Jahreszeiten. Er liebte die Wärme des Sommers, die gefärbten Blätter und Gemütlichkeit des Herbsts, den Schnee des Winters und das Wiedererwachen der Natur im Frühling. Zu Beginn seiner Beziehung mit Sarah waren sie noch zu jeder Jahreszeit in den Urlaub gefahren. Gewiss, es waren keine großen, kostspieligen Reisen, das war ihm bewusst, aber sie konnten alle drei Monate für wenige Tage die Schönheit des neuen Jahresabschnittes erleben. Und dann, als er in die Mordkommission berufen wurde, war es vorbei mit dem Urlaub. Maximal alle zwei Jahre waren sie seitdem verreist.

      Bevor Liebig Zeit hatte,