Alan Lee Hemmswood

Gnadenwolf


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Arme im rechten Winkel vom Körper ab und blickte an die Schlafzimmerdecke. Ein grober Riss teilte sie in zwei. Vielleicht sollte er auch dies noch als mögliche Todesursache auf seiner langen Liste vermerken: Tod durch Deckeneinsturz. Ich lebe wirklich in einem Drecksloch …

      Kapitel 12

      Die heiße Dusche ließ seine Lebensgeister ihren Dienst wieder aufnehmen. Liebig schritt im Bademantel in die kleine Küche des Appartements und sah aus dem Fenster in die noch von Dunkelheit gehüllte Außenwelt. Außenwelt. Diesen kreativen Namen hatte er der Welt außerhalb seiner Wohnung gegeben, als er diese für Wochen nicht mehr verließ. Sie erschien ihm zu dieser Zeit als feindliches Territorium, auf dem bösgesonnene Kräfte auf ihn lauerten. Er musste lachen: Diese irreale Angstneurose war mittlerweile in eine eigentlich begründete Angst mutiert und doch verlässt er zu jederzeit seine sichere Burg. Das war das beeindruckende Werk von Hoffmann gewesen. Hoffmann zeigte ihm, wie er die Oberhand über seine Ängste gewinnt und die Ketten der Depressionen sprengt. Ein nicht geringer Teil der Therapie hatte auf hypnotischen Elementen basiert, Hoffmanns Passion.

      Der Teekessel auf dem Herd pfiff. Just in diesem Moment mischte sich ein zweiter Ton unter das des pfeifendes Teekessels: das der Türklingel. Und derjenige, der klingelte, machte mit den kurz getakteten Klingelstößen keinen Hehl aus der Dringlichkeit seines Besuches. Liebig ließ den Teekessel weiter pfeifen, lief aus der Küche durch den schmalen Flur und spähte durch den Türspion. Nicht auch das jetzt noch. Er drückte die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür. Der Anblick war ihm sehr vertraut.

      „Du mieses Schwein, spionierst du uns jetzt schon nachts nach. Welch krankes Hirn kommt auf solch durchgedrehte Ideen?“, schrie die Frau und schlug ihm mit beiden Händen gegen die Brust. Ihre Augen waren verweint und die Haare zerzaust. Das hingegen kam Liebig wenig vertraut vor.

      Entgeistert blickte er sie an. „Wovon redest du, Sarah?“

      „Spar‘ dir die Mühe. Ich habe die Schuhabdrücke im Schnee gesehen. Und gestern waren die noch nicht da. Du schleichst nachts bei uns ums Haus! Dass du dich nicht vor deiner Tochter schämst!“

      „Sarah … Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst. Ich war gestern Abend …“ stockte er. Ihn durchfuhr ein Schauer, als ob unzählige Nadelstiche seine Haut traktieren würden. Dieses Schwein. Dass er so weit geht. Nach einem kurzen Moment hatte er sich wieder gesammelt.

      „Sarah, pass auf. Ich schwöre dir, dass ich gestern Abend zu Hause war und meine Wohnung nicht mehr verlassen habe“. Er blickte ihr tief in die Augen, jedoch kratze er damit nur an der Oberfläche. Der Schutzwall, den sie um sich errichtet hatte, erlaubte kein Durchbrechen. Zwei Tränen rann über ihre Wange. Er konnte erkennen, dass ihr Gehirn arbeitete, versuchte den Wahrheitsgehalt seiner Aussage herauszufiltern.

      „Ich glaub‘ dir kein Wort. Wehe, ich sehe dich noch einmal ums Haus schleichen. Dann wirst du deine Tochter nie wieder sehen“. Eigentlich sprach Sarah seit ihrer Scheidung über ihre Tochter immer nur im Vornamen. Sie sagte stets “Lisa“, versuchte tunlichst den Ausdruck “Tochter“ zu vermeiden. Als versuche sie zu verdrängen, dass Lisa unser gemeinsames Fleisch und Blut ist. Doch nun brach sie mit dieser Regel, jedoch nur, weil sie ihm Angst machen wollte.

      Sarah machte kehrt und ging schnellen Schrittes und klackernden Absätzen den Flur hinunter. Liebig wusste, es würde keinen Sinn machen ihr nachzulaufen. Er schloss die Tür wieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen diese und atmete tief durch.

      Dieses Schwein. Das kann nur er gewesen sein. Urgewaltiger Hass stieg in ihm auf. Doch Bezugspunkt war nicht der Rabe. Er war es. Er war schuld, dass der Typ nachts um sein Haus schleicht. Ich habe das zu verantworten. Ich alleine. Unter die wütende Fratze des Hasses mischte sich noch ein weiteres Gefühl. Ohnmacht. Sie drang durch alle Poren und legte sich wie ein erstickender Schleier um ihn. Ich muss irgendetwas machen. Ich kann nicht nur bloß da sitzen und auf mein Ende warten.

      Kapitel 13

      Liebig blickte sich um. Wenn schon der Anlass kein schöner war, so war doch wenigstens der Rahmen ein angenehmer. “Die Runde“ hielt ihre wöchentlichen Treffen in der Praxis von Hoffmann ab. Die Praxis war, ganz wie sein Anwesen, ein geschmackvoller und gemütlicher Ort, bediente voll und ganz das Bild einer Psychologenpraxis, die wenig mit der einer gewöhnlichen Arztpraxis gemein hatte. Die Wände des großzügigen, mit hoher Decke gestalteten Therapiezimmers waren mit Ölgemälden gesäumt. Davor gesellten sich, wie an einer Perlenkette aufgereiht, Büsten antiker Philosophen aus Alabastergips auf einem dicken Perserteppich. Zwischen Denkern wie Aristoteles, Sokrates und Plato lässt es sich anscheinend besser therapieren … Der Geist der großen Denker eben. Liebig glaubte zwar nicht an Hokuspokus wie Fengshui, aber er konnte die harmonische Wirkung dieses Raumes nicht verleugnen.

      Ganz klischeegetreu saßen die Teilnehmer in einem Stuhlkreis, der unter der Schirmherrschaft von Hoffmann moderiert wurde. Viele Gesichter kannte er nicht mehr. Wie in meinem Leben ist auch hier die Fluktuation die einzige Konstante. Er wurde reumütig. An diesem Ort hatte das Schicksal damals seinen verhängnisvollen Lauf genommen, als er noch im festen Glauben daran war, sein Leben würde bald ein jähes Ende nehmen. Dahingerafft von einer hinterhältigen Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen schien. Doch wie so häufig: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Und nun? Ja, nun steht ich vor meinem eigens verursachten Scherbenhaufen.

      Hoffmann richtete das Wort an die Gruppe und begrüßte jeden persönlich. Die Gruppe war nicht sehr groß, bestand lediglich aus neun Personen, vornehmlich Männern. Hoffmanns Konzept baute darauf die Menschen, die in dem facettenreichen Feld möglicher Lebensprobleme gefangen waren, miteinander zu vernetzen. Neben Junkies unterschiedlichster Süchte bildeten die schwer Erkrankten die zweite elementare Untergruppe. Sie alle einte jedoch eins: Depressionen und Lebensverdrossenheit. Die Menschen, die überwiegend auch Patienten von Hoffmann waren, stammten aus allen Gesellschaftsschichten. Liebig rechnete es Hoffmann hoch an, dass er auch sozial und finanziell schlechtgestellte Personen aufnahm, deren Kostenbeitrag von einer Stiftung Hoffmanns getragen wurde.

      Zäh flossen die Minuten dahin. Liebig hatte die Gruppentherapie noch nie gemocht, geschweige denn für sinnvoll erachtet. Beweggrund für seinen Besuch war allerdings auch hauptsächlich ein anderer. Er war zwar gewillt, den Raben als ständigen Gast aus seinem Kopf zu vertreiben, vielmehr noch wollte er aber nicht mehr hilflos seinem Schicksal ausgeliefert sein und wusste, dass die Zeit gekommen war zu handeln. Ich habe einen Ansatzpunkt. Und der ist Calvin.

      Am ersten Tag eines neuen Mitgliedes war es üblich, sich vorzustellen und seine Probleme vor der Gruppe zu erläutern. Also biss auch Liebig in den sauren Apfel und schilderte den Übrigen sein Leid, versucht, seine Widerwilligkeit bestmöglich zu verschleiern. Die anderen hörten halbherzig zu, aus dem Augenwinkel nahm Liebig ab und an ein aufmunterndes Kopfnicken Hoffmanns wahr. Als der Kelch dann endlich durch seine Hände gegangen war, sank er wieder zurück in den Stuhl und wartete ungeduldig auf das Ende der Sitzung.

      Nachdem Hoffmann die Gesprächsrunde dann nach fast zwei Stunden Seelsorgerei endlich schloss, erhoben sich die Mitglieder müde von ihren Stühlen und verharrten deplatziert im Raum, als warteten sie auf weitere Anweisungen. Liebig hingegen steuerte einen dünnen Mann an, der ihm den Rücken zuwandte und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen interessiert eine Nachbildung van Goghs berühmter Sternennacht beäugte. Liebig gesellte sich in gleicher Haltung neben ihn, ohne in anzublicken.

      „Beeindruckendes Bild“.

      Der Mann begann geistesabwesend zu flüstern, ohne sich zur Seite zu drehen, ohne die Wimpern niederzuschlagen. „Ich mag die wilde Strichführung“. Er neigte den Kopf etwas. „Und die ineinanderfließenden Farben. Das Wirre an dem Bild gibt mir Ruhe“.

       Wirres gibt Wirren Halt. Wen wundert’s? Aber in der Tat. Das Bild scheint weniger Gemälde als bewegtes Bild zu sein. Die Sterne scheinen über den Nachthimmel zu fliegen. Man kann ihnen beinahe über das Firmament