Martha Mohr

Bogdansky


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ist. Ich weiß nur, dass die letzten fünf Jahre einfach so verflogen sind. Mein sechzigster Geburtstag hat noch keine trübsinnigen Gedanken hervorgerufen, obwohl es mir zu diesem Zeitpunkt nicht besonders gut ging, hatte ich noch kein Problem mit dem Alter. Diese Sichtweise muss sich also in den letzten fünf Jahren eingeschlichen haben. Freunde und Bekannte sind verstorben. Diese Ereignisse sind schon sehr bedrückend, machen traurig und nachdenklich. Mag sein, dass es daran liegt, nein, es ist die Zahl. Ignoranz wäre eine Lösung. Aber wie soll man das schaffen?

      Als ich jung war, habe ich mich oft gefragt wie es wohl ist, wenn man sich im fortgeschrittenen Alter befindet und mit dem Gedanken leben muss, diese schöne Welt bald verlassen zu müssen. Ich hätte gern meine Eltern gefragt. Aber dazu ist es nie gekommen und nun muss ich selber herausfinden wie das geht. Das Thema an sich ist heikel und zwischen Eltern und Kindern ist es tabu. Meistens gehen solche Gedanken im Alltag unter, aber heute sind sie präsent, bauen sich auf und lassen sich nicht vertreiben.

      65 Jahre sind eine lange Zeit. Es ist viel passiert. Ich habe einen wunderbaren Mann und wir haben drei zauberhafte Kinder und fünf süße Enkelkinder und es könnten leicht noch ein paar dazukommen. Die Zeit verging schnell, viel zu schnell. Nun sind wir alt und doch bilde ich mir ein, dass ich noch immer ich bin, nämlich genau die Frau, die ich vor 20 oder 30 Jahren war. Natürlich nicht äußerlich, da hat sich leider einiges verändert, aber ich fühle wie immer.

      Zugegeben die Schnelligkeit und Flexibilität haben auch etwas nachgelassen und die Vergesslichkeit hat sich eingestellt. Und dann ist da noch etwas „Bogdansky“. Er geht mir nicht aus dem Kopf. Er drängt sich mir regelrecht auf, aber ich kenne niemand der so heißt. Vielleicht ist es der Name eines Sportlers, eines Schauspielers oder sonst irgendeiner Persönlichkeit. Es wird sicher jemand geben der so heißt. Zuerst war es nur der Name, der mir im Kopf herumspukte aber so nach und nach, ganz unauffällig, entwickelte er sich und jetzt spricht er mit mir dieser Bogdansky.

      Es gab schon viele Namen, Namen von Menschen oder einfach Wörter, die ich tage-, manchmal wochenlang mit mir herumgetragen habe. Irgendwann verschwanden sie, wie sie gekommen waren von ganz allein und ich wusste auch etwas über ihre Bedeutung. Wahrscheinlich liegt das an den Wortspielereien, die ich mit mir selbst spiele, um mein Gedächtnis zu trainieren. Bei Bogdansky allerdings verhält es sich anders. Er verschwindet nicht. Er spricht mit mir, er durchkreuzt meine Gedanken, mischt sich in alles ein, meint immer die besseren Ideen zu haben, redet mir zuweilen ein schlechtes Gewissen ein oder hält mir Feigheit, mangelnde Schlagfertigkeit und Unentschlossenheit vor. Meistens nervt er, mein Bogdansky, obwohl es auch Situationen gibt, in denen ich ihn fast ein bisschen liebe.

      Kindheitserinnerungen

      Wenn ich so zurückblicke, glaube ich, dass sich auch mein Erinnerungsvermögen minimiert hat. Besonders die eigene Kindheit ist doch ziemlich verblichen, ähnlich den Fotos oder Negativen aus dieser Zeit. Ich glaube, es sind immer nur die herausragenden Erlebnisse aus der Kindheit an die man sich erinnert oder sich zu erinnern glaubt, weil man oft darüber gesprochen hat oder sie durch Fotos lebendig erhalten hat. Eine dieser Begebenheiten aus meiner Kindheit wird immer aktueller und passt zu meiner Geburtstagsmissstimmung.

      Meine Schwester und ich hatten unseren Lieblingsplatz am Küchenfenster eingenommen. Wir standen auf Stühlen, um die Möglichkeit zu haben, unseren Oberkörper aus dem Fenster zu lehnen. Wir liebten es, dazustehen und rauszusehen. Dabei beulten wir den Latz unserer rotweißkarierten Schürzen so, dass es den Eindruck erweckte, wir hätten einen Busen. Wir fanden unser Spielchen sehr aufregend und führten dabei Gespräche über Dinge, die uns kleine Mädchen von sechs und acht Jahren bewegten. Besonders interessant wurde es, wenn jemand vorbeikam. Aber wir wohnten auf dem Dorfe und es war nicht ungewöhnlich, wenn stundenlang keine einzige Seele unser Küchenfenster passierte. Wir lebten ohne Fernsehen, ohne Telefon und ein Handy gab es schon gar nicht. Zu unseren Vergnügungen gehörte das Spielen mit Freunden am Bach und auf den Wiesen. Zur Fortbewegung besaßen wir allerdings einen flotten gummibereiften Tretroller und auch die Schule bot uns einiges an Abwechslung und machte Spaß. Aber unsere Zerstreuungen waren im Verhältnis zur heutigen Zeit eingeschränkt. Das erklärt vielleicht die Freude, die wir an unserem Küchenfensterspielchen hatten.

      An diesem Tag war ein Thema aktuell mit dem wir noch nie zuvor konfrontiert wurden. Unsere Großmutter war gestorben.

      Wir kannten sie kaum und waren deshalb auch nicht wirklich traurig über ihren Tod. Sie war eben eine ganz, ganz alte Frau. Alte Menschen sterben einfach irgendwann. Aber was bedeutet das und wie war das mit uns? Wir machten die Augen zu, versuchten uns wegzudenken und überlegten, wie es wohl sein könnte, wenn man gestorben war. Vielleicht wäre man dann bei Gott und würde dort weiterleben. Aber wo sollte das sein und wie und mit wem würde man in dieser unbekannten Welt zusammen sein? Was wäre mit unseren Eltern und allen die wir liebten? Nein, diese Aussicht gefiel uns nicht. Wir könnten wahrscheinlich nie mehr gemütlich am Fenster stehen, nie mehr mit unseren Freunden spielen, nie mehr Eis essen. Nein, tot sein kam für uns nicht in Frage. Unsere Vorstellung ließ es einfach nicht zu, eines Tages nicht mehr auf dieser Welt, unserer kleinen Welt, die für uns nur schön war, zu sein. Wir beschlossen, dass wir allenfalls im Omaalter sterben könnten, aber auch nur vielleicht.

      Enkelkinder

      Als fünffache Großmutter befinde ich mich mitten im Omaalter. Ich liebe meine Enkelkinder und mein Mann und ich freuen uns sehr, dass wir sie haben, sie aufwachsen sehen können und ein wenig an ihrem Leben teilhaben können. Das Zusammensein mit ihnen, die Unternehmungen, die wir mit den Kindern machen, beflügeln uns regelrecht. Ich fühle mich um Jahre jünger und mache Dinge, die ich allein oder mit meinem Mann nie machen würde. Es ist herrlich, ihre Unbeschwertheit zu genießen, mit ihnen zu plaudern und zu spielen. Kinder geben uns so unendlich viel. Sie sind ohne Vorurteile, sie sagen spontan ganz ehrlich was sie meinen und können sehr amüsant sein. Sei es durch ihre in den Anfängen noch etwas unbeholfene Sprache, durch ihre Gebärden und natürlich auch durch ihre Mimik. Kindergesichter sprechen auch ohne Sprache. Sie sind einfach zum Verlieben. Ich war bereits in meine eigenen Kinder verliebt und jetzt als Großmutter weiß ich es sehr zu schätzen, dass ich die Chance habe, mich in meine Enkelkinder verlieben zu können.

      Eine echte Oma möchte ich allerdings gar nicht sein. Die Hälfte aller Tage fühle ich mich nicht so, aber die andere Hälfte lässt mich deutlich spüren, dass ich nicht nur eine Oma bin, sondern auch omaähnlich aussehe und mich auch omaähnlich fühle. Meistens ist das Wetter Schuld an diesem miesen Gefühl.

      „Ich soll die Verantwortung für meine abstrusen Gefühle und abwegigen Gedanken selbst übernehmen und nicht das harmlose Wetter beschuldigen. Ach, Bogdansky, das Wetter kann sehr wohl deprimierend sein und hat auch Auswirkungen auf das Wohlbefinden. Schlechtes Wetter macht einfach müde und antriebslos und taucht die Welt in traurige Grautöne, die nach Sonne verlangen. Ich gehöre zu den Menschen, die mit dem Wetter, mit den Jahreszeiten leben und bei schönem Sommerwetter nur draußen anzutreffen sind. Ja, ich verlege dann alle möglichen Arbeiten auf die Terrasse oder in den Garten, um die Sonne zu genießen. Alles Ausreden, man muss sich im Griff haben. Gut, bei der nächsten Attacke werde ich dich um professionelle Hilfe bitten.“

      Meine kleine fünfjährige Enkelin meinte vor ein paar Tagen, als wir mal wieder über Jungen und Mädchen, eben über die unterschiedlichen Geschlechter sprachen, dass sie ein Mädchen sei und Mama eine Frau. Ich allerdings wäre keine Frau mehr, ich wäre schon eine Oma. So etwas sagt sie mit Überzeugung und einer Selbstverständlichkeit, die es einem unmöglich macht, ihr zu widersprechen.

      Seit sie aufgegeben hat, irgendwann ein Junge zu werden wie ihre Brüder, beschäftigt sie sich gern mit diesem Thema. Vor einiger Zeit war sie noch der Meinung alle Babys wären Mädchen und es würde ihnen später ein Schniepelchen wachsen, damit sie auch im Stehen Pipi machen können. Denn all ihre Versuche es ihren Brüdern bei der Verrichtung dieser Sache gleich zu tun, sind jämmerlich fehlgeschlagen. Für diese Gespräche und Erkenntnisse bin ich gern eine Oma.