Wilhelm Thöring

Verknotungen Erzählungen


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fragen sie nicht, Mutter Jettchen. Wenn so ein Baulöwe erst einmal eine Sache in den Pranken hat, dann reißt der das an sich. Der fragt nicht danach, ob wir hier Wurzeln haben ...“

      Danach ist Frau Pleskow gegangen. Mutter Jettchen blieb allein mit ihren Gedanken, die wie Fliegen durch ihren Kopf schwirrten. Fliegen lassen sich verscheuchen, aber keine Gedanken!

      Frau Pleskow war eine unter den ersten, die den Möbelwagen in die Kronprinzenstraße Nummer zwölf kommen ließen. Kurz danach zogen die jungen Leute, die über Mutter Jettchen in der vierten Etage wohnten. Die hochnäsige Witwe von nebenan mit ihrem sonderbaren Herrn zog aus, der lahme Rentner vis-a-vis, die schrullige Gattin des Musikdirektors – Schritt für Schritt leerte sich die Straße, leerte sich das Haus.

      Und Mutter Jettchen sitzt auf ihrem weißen Stuhl mit den vielen Kissen und wartet.

      Im Flur ist Lärm, schwere Tritte, Rufen und leises Schimpfen. Mutter Jettchen geht vor die Tür, putzt das Messingschild neben der Klingel. Das ist nur ein Vorwand, sie will horchen. Sie putzt lange, dann blinkt es: ‚Henriette Bräsicke, Ww’, dass die Möbelträger, die die Wohnungen ausräumen, es lesen können.

      „Na, Mutter Jettchen, lohnt sich diese Mühe noch?“ Frau Riemer, die ledige Mutter, keuchte mit Paketen die Treppe herunter. „Jetzt wird’s Ernst für mich, ich ziehe!“

      „So? Ich wohne noch hier!“ lachte Mutter Jettchen. „So lange ich in dieser Wohnung bin, so lange wird das Schild geputzt! Vorerst bleibe ich noch!“

      „Sie bleiben?“

      „Frau Pleskow hat mir den Brief vom Amt vorgelesen. Und die schreiben, dass sie sich bei mir melden, wenn es so weit ist.“

      „Aber der Bagger ist schon nebenan! Zwei Häuser weiter.“

      „Das wird schon werden. Die werden mich alte, blinde Frau nicht vergessen. Bestimmt nicht!“

      „Ja, dann ... Machen Sie’s gut, Mutter Jettchen! Vielleicht sieht man sich einmal!“

      Mutter Jettchen hört sie nach unten laufen, die Tür fällt ins Schloss, im Flur ist es still.

      „Nun ist sie auch weg“, sagt sie. „Bald sind alle weg. Und ich?“

      In der Küche befühlt sie das Zifferblatt der Uhr – kurz nach siebzehn Uhr. Das ist die Zeit, in der die Männer von der Arbeit heimkehren. Heute kehrt keiner mehr heim. Und morgen auch nicht.

      Jetzt sitzt sie bewegungslos da, die Hände im Schoß, den Kopf gegen die Wand gelehnt.

      Vielleicht ist noch jemand im Seitenhaus, oder in einer Wohnung des dritten Hofes, einer der krank im Bett liegt; einer, der später nach Hause kommt, oder der wie ich in seiner Stube sitzt und wartet ...

      Ich werde ihn bemerken. Bestimmt!

      Mutter Jettchen trägt einen Stuhl auf den langen schmalen Korridor. Sie stellt ihn dicht an die hohe Tür mit der blinden Scheibe oben, an die sie schon lange nicht mehr hinlangt.

      In ihrer Stube geht sie sicher. Sie sieht mit den Händen, auch mit den tappenden Füßen.

      Hier will ich ein Weilchen sitzen, sagt sie sich. Warten werde ich, horchen, ob jemand durch das Treppenhaus geht.

      Sie sitzt nicht vergebens. Das Leben kommt mit schleppenden Schritten die Treppe herauf. Mutter Jettchen reißt die Tür auf.

      „Ach, ist da jemand?“ ruft sie ins Treppenhaus. Ihre Stimme echot von Etage zu Etage.

      Die Schritte kommen näher, sie sind dicht bei ihr. Der Unbekannte nimmt ihre Hand, Wärme und Leben berühren sie. Durch Mutter Jettchen strömt Freude.

      „Wer sind Sie denn“, fragt sie. Sie hört nichts.

      „Wer sind Sie? Sie müssen lauter sprechen.“

      Dicht an ihrem Ohr spürt sie Lippen, die die Worte formen: „Wie, Frau Bräsicke, Sie sind noch hier?“

      „Ja, ja. Ich bin noch da,“ ruft Mutter Jettchen fröhlich. „Ich kann noch bleiben. Denn vom Amt ist noch keiner bei mir gewesen. Wer sind Sie denn?“

      „Wenzke!“

      „Ach, Frau Wenzke? Ich habe Sie nicht erkannt. Können Sie einen Augenblick in meine Stube kommen? Hier zieht’s so entsetzlich.“

      Mutter Jettchen fühlt die warme Hand, spürt den festen Tritt auf den Dielen.

      „Kommen Sie hierher!“ Sie öffnet die Küchentür. „Hier ist es etwas wärmer als in der Stube. Wissen Sie, wenn es kalt ist, dann drehe ich einfach den Gashahn in der Backröhre auf. Das wärmt sofort! Setzen Sie sich hierher.“

      Sie packt Kissen auf Frau Wenzkes Stuhl.

      „Das ist bequemer. Etwas Briketts habe ich noch. Aber ich hebe sie für den Winter auf. Ich wollte Frau Pleskow noch bitten, für mich zum Kohlenmann zu gehen. Ich habe es vergessen. Und jetzt ist sie auch weggezogen. Alle ziehen weg. Glauben Sie mir, das tut weh. Welche Wohnung haben Sie denn?“

      „Ganz oben im fünften Stock, bei den Spatzen!“ Sie lacht.

      „Frau Wenzke, Sie wohnen noch nicht lange bei uns?“

      „Gut zwei Jahre werden es sein.“

      „Das ist nicht lange! Ich habe Ihren Schritt nicht erkannt. Die anderen – ja, die erkannte ich. Ich wohne mein ganzes Leben hier. Über achtzig Jahre, denken Sie einmal! Meine Mutter ist schon in dieser Wohnung geboren, und meine Großmutter ist als kleines Kind hier eingezogen. Und ich bin auch hier auf die Welt gekommen. Denken Sie einmal: Drei Generationen. Du lieber Gott, eine lange Zeit!“

      Mutter Jettchen kichert vor sich hin.

      „Damals war das hier eine feine Gegend. Waren das vornehme Häuser! Heute sind sie nicht mehr gut genug. Deshalb reißt man sie ab.

      Mit diesem Haus bin ich verwachsen. Ich bin ein Teil von ihm, und das Haus ist ein Teil von mir. So kann man doch sagen?“

      „Das stimmt. Da ziehen Sie nur sehr schwer weg?“

      Mutter Jettchen nickt. Ihre erloschenen Augen sehen an Frau Wenzke vorbei. Wie Glas sehen sie aus, das sich nicht bewegt, weil es kein Ziel hat. Frau Wenzke traut sich nicht, die blinde Mutter Jettchen anzusehen.

      „Ich glaube, wir haben jetzt das ganze Haus für uns allein.“

      „Allein? Na, ich weiß nicht ...“ sagt Frau Wenzke müde.

      „Und wann ziehen Sie, Frau Wenzke?“

      „Ende der nächsten Woche.“

      „Nächste Woche schon? Ich muss noch auf die vom Amt warten. Sie wollen vorbeikommen und mir helfen. Haben sie geschrieben.“

      Sie sagt das mehr für sich. Auf ihrer Stirn erscheinen viele Falten, eine dicht neben der anderen. Groß und ausdruckslos sind ihre Augen auf Frau Wenzke gerichtet. Die kann es nicht ertragen, von diesen Augen angesehen zu werden. Wenn die Blinde mit ihr spricht, dann hat sie das Gefühl, dass sie jemand anderes meint. Jemand, der hinter ihrem Stuhl steht.

      Frau Wenzke blickt weg.

      „Dann sind wir nur wenige Tage zusammen“, denkt Mutter Jettchen laut. „Sie und ich in diesem großen Haus. Am Tag sind Sie fort, aber am Abend ...“

      Nach einer Weile traut sie sich, Frau Wenzke zu fragen:

      „Könnten Sie nicht am Tage auf ein paar Minuten bei mir hereinsehen? Nicht lange.“

      „Ein paar Minuten, ja. Viel Zeit habe ich nicht.“

      Mutter Jettchen lächelt dankbar. Sie senkt den Kopf und lächelt gegen den Fußboden.

      Wie ein Mädchen sieht sie aus, findet Frau Wenzke, ein altes Mädchen mit zerfurchtem Gesicht, mit schmutziggrauen Haarsträhnen.

      Sie steht auf.

      „Ja, das lässt sich einrichten. Wenn Sie