Wilhelm Thöring

Verknotungen Erzählungen


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sind Reparaturarbeiten nötig geworden, tröstet sie sich. Das kann nicht lange dauern.

      Sie wartet, sie prüft abermals – Mutter Jettchen weiß nicht, dass die Kronprinzenstraße gestorben ist. Für diese Häuser wird es nie mehr Gas geben.

      Mutter Jettchen befühlt schon lange nicht mehr das Zifferblatt des Blechweckers. Was bedeutet es, wenn ihre Fingerkuppen den Zeiger auf der Sieben finden? Oder auf der zwölf? Von der Zeit will sie nichts mehr wissen. Egal, ob es Morgen oder Abend ist. Völlig egal!

      Und eines Tages hat der Wecker aufgehört eilig durch die Zeit zu rennen. Für Mutter Jettchen ist der Wecker gestorben.

      Jetzt ist der Tod an ihre Wohnungstür gekommen, wo an der Tür das uralte Messingschild hängt, auf dem er lesen kann: ‚Henriette Bräsicke, Ww’.

      Sie spürt, dass er ganz nahe bei ihr ist.

      Seinen Tritt spürt Mutter Jettchen nicht auf dem Fußboden. Der Tod geht auf leisen Sohlen.

      Er kann aber auch wie ein Tier sein, das im Hinterhalt lauert und irgendwem plötzlich an die Gurgel springt. Das weiß sie.

      Für sie wird er nicht wie ein Tier in die Stube springen, für sie nicht!

      Aber er ist in ihre Nähe gekommen.

      Sie spürt ihn hinter sich, als sie heute Morgen über den leeren, hallenden Hof in ihren Flur zurückgeht.

      Gleich nach dem Frühstück tastet sie sich Stufe für Stufe nach unten, beide Hände am Geländer.

      Weit stößt sie die Haustür auf, zwei Schritte noch – Mutter Jettchen steht im Freien. Zum ersten Mal nach vielen Monaten, nach Jahren vielleicht, riecht sie frische Luft. Sie wundert sich, dass es im Freien wärmer ist als in der Wohnung. Sie atmet tief, trinkt Fremdgewordenes in sich hinein.

      Andächtig steht sie auf der obersten Stufe zum Hof. Richtig feierlich sieht sie aus. Ja, das Geländer ist noch da. Kalt ist es, rau vom Rost. Argwöhnisch tappt sie Stufe für Stufe nach unten. Einmal, vor Jahren, ist sie gestürzt, weil Kinder ihr Spielzeug liegengelassen hatten. Heute liegt nichts mehr im Weg. Es ist alles noch so, wie sie es in Erinnerung hat.

      Sie tastet über den Hof. O, sie weiß genau, in welche Richtung sie gehen muss. Ihre Füße sind behutsam wie Fühler von Schnecken. Mutter Jettchen hat die große, zweiflügelige Tür zum zweiten Hof erreicht. Liebevoll betasten ihre Fingerkuppen das Holz. Da ist die Klinke. Die vertraute Klinke zum zweiten Hof. Immer ließ sie sich leicht niederdrücken, heute klemmt sie. Mutter Jettchen hängt sich mit ihrem ganzen Gewicht daran – die Klinke rührt sich nicht.

      Vielleicht kann sie die Tür einfach aufstoßen!

      Sie lehnt sich dagegen, drückt mit der Hüfte, stemmt den schmächtigen Rücken dagegen – die Tür gibt nicht nach.

      Mutter Jettchen ist gefangen!

      Mit ihren mageren Fäusten hämmert sie auf die Tür los. Sie fleht, sie weint, sie bittet: Tür, gib doch nach!

      Wie ihre Hände schmerzen! Vor lauter Verzweiflung und Ohnmacht beißt sie sich auf die Finger. Sie wischt sich über das heiße Gesicht ... Mutter Jettchen hat zu wild gegen die Tür geschlagen, in ihre Finger gebissen – ihre Hände bluten. Sie beschmiert sich den Pullover, den Rock, das Gesicht. Mutter Jettchen sieht aus, als hätte sie einen furchtbaren Kampf verloren.

      Jammernd stolpert sie zur Haustür zurück. Sie stürzt einige Male, bleibt einfach liegen, rappelt sich später wieder auf.

      Das Sterben in der Kronprinzenstraße greift nach Mutter Jettchen, nach der alten blinden Frau.

      Der Rückweg in die Wohnung ist lang. Endlich hat sie es geschafft. Das war ihr letzter Gang, der allerletzte steht ihr bevor. Das dauert nicht mehr lange.

      Hier auf dem Küchenstuhl, auf dem sie die meiste Zeit zubrachte, will sie warten. Der Tod soll sie bereit finden, bereit und willig. Darum schließt sie die Korridortür nicht mehr ab.

      „Komm doch endlich herein!“ ruft sie aus ihrer Ecke am Fenster. „Warum lässt du mich so lange warten?“

      Ein merkwürdiger, ein fremder Glanz ist auf ihrem Gesicht. Mit geneigtem Kopf wartet sie, die Hände übereinander im Schoß.

      Es ist Frühjahr geworden.

      Ein blauer, kalter Himmel liegt über der Stadt. Die Sonne strahlt, aber sie wärmt nicht. Heute Morgen lag Reif auf den Dächern und die Menschen waren missmutig, weil sie Frost von den Autoscheiben kratzen mussten.

      In der Kronprinzenstraße gibt es nur noch wenige Häuser. Die meisten sind abgerissen worden. Heute ist das Haus Nummer zwölf an der Reihe. Nicht lange, und das Team um den Sprengmeister wird seine Kabel legen, es wird sich vom letzten Hinterhof nach vorne arbeiten.

      „Das werden wir gleich haben!“ sagt der Sprengmeister zum Baggerführer. „Was unsere Hand berührt, das fällt in Schutt und Asche.“

      Die Männer lachen.

      Die, die die Wohnungen durchsehen müssen, drehen ihre letzte Runde. Anderswo haben sie Stadtstreicher darin aufgestöbert, oder einen verschreckten Hund. Einmal sogar spielende Kinder. Im Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf ist weder ein Stadtstreicher, noch ein Hund.

      Nur eine kurze Zeit noch, dann wird der Sprengmeister das Haus Nummer zwölf zusammenfallen lassen. Er wird den kurzen Hebel in den Kasten drücken, der vor ihm steht. Das Haus wird stöhnen, krachen, und unter einer Wolke von Staub verschwinden. So schafft sich das Neue, das Stattliche Platz.

      Dann gibt es einen blinden Fleck weniger im Gesicht der Stadt.

      Heute muss der Sprengmeister länger warten.

      Durch die Tür vom dritten Hinterhof kommt einer seiner Leute, atemlos und leichenblass und nicht fähig, zu reden.

      „Chef, im dritten Hinterhof ... In der dritten Etage ... Wieder jemand, um den sich keiner gekümmert hat! Nur noch Knochen ... Wir brauchen die Feuerwehr! Nein, wir brauchen die Polizei!“

      Milena

      Milena kommt den Berg herunter.

      Die ersten Tage, die sie im Dorf ist, wäre sie gerne hinauf gegangen, aber sie hat sich nicht getraut, und die Mutter hatte gefragt, ob sie sich in Gefahr begeben wolle oder gar den Tod suche. In diesen Tagen waren sie anders zueinander, als sie es jetzt sind: Sie saßen beisammen wie Menschen, deren jahrelange Sehnsucht in Erfüllung gegangen ist. Sie haben erzählt, weil es so viel zu erzählen gab. Sie haben sich angesehen, einander berührt, und gelacht. Milena wurde, wie die Mutter auch, von einer Woge erfüllten Glücks getragen. Die starken Gefühle der Kindheit waren es, die es für sie seit undenklichen Zeiten nicht mehr gegeben hat – diese Gefühle sind im Haus der Mutter wieder auferstanden. Für Milena ist es, als wäre ihr ein verloren gegangenes Spielzeug aus frühen Kindertagen plötzlich wieder vor die Füße gefallen. Wo sie saß oder stand, wo sie ging, überall meinte sie den weichen, streichelnden Blick der Mutter auf sich zu fühlen.

      So war es in den ersten Tagen bei der Mutter in der geschundenen Heimat.

      Heute ist es der letzte Tag, den Milena in der alten Heimat ist. Je näher er gekommen ist, umso schweigsamer wurde die Mutter. Sie ging der Tochter aus dem Weg, sie gab nur knappe Antworten auf Milenas Fragen. Etwas wie Entfremdung wächst zwischen ihnen. Und damit ist auch ihr das Dorf von Tag zu Tag fremder geworden. Nein, Heimat wie in der ersten Zeit ist es nicht mehr. Es ist Erinnern, ist wie eine alte Fotografie, die einmal Bedeutung hatte. Und die Mutter hat in den vergangenen zwei Wochen geholfen, dass die weichen Erinnerungen zerplatzten und zu einer unansehnlichen, zerkratzten Fotografie geworden sind, denkt Milena.

      In aller Frühe ist sie heute aufgestanden und trotzdem auf den Berg gegangen. Obwohl es noch dunkel war und sie den Weg kaum sehen konnte. Sie fürchtete sich auch ein wenig, trotzdem ist sie gegangen.

      Als Milena aus der Schlafkammer kam, hockte die Mutter vor dem Herd und blies das Feuer an.

      ‚Was