Dirk K. Zimmermann

Lattenschuss


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von Fotos aus dem Lokalblättchen. Detlef, Trainer von Rot-Weiß. Spitzname: Der Schleifer. Von den Unabsteigbaren. Kreisliga C. Tiefer ging es nicht mehr, denn danach kam nur noch vom Spielbetrieb abmelden.

      Detlef trug Kutte, also Trainingsanzug. Sein kantiges Haupt zierte ein extrem kurzer Bürstenschnitt am Oberkopf, hinten reichte ihm das dunkelbraune Haar hinab bis auf die Schultern. Er war ein Typ Marke Pitbull. Kleiner, fester Bierbauch. Eisblaue Augen. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig. Detlef war nervös, begrüßte mich hastig, setzte sich mit einem Rumms. „Herr Wallmann, dass ich hier bin, ist mit Eins-V-S abgesprochen. Eigentlich komm’ ich, weil Eins-V-S es so will. Na ja, klar, ich will es auch, sonst wäre ich ja nicht hier.“

      Er holte, ohne meine Reaktion abzuwarten, einen braunen DIN-A-5 großen Umschlag aus der Trainingsjacke und legte ihn vor mir auf den Tisch.

      „Herr Dudel ...“

      „Detlef, sagen Sie ruhig Detlef, oder auch Schleifer. Sagen sie ja alle.“

      „Gut ... Detlef. Was möchten Sie mit mir besprechen?“

      Detlef schielte an mir vorbei auf die Zimmerwand, auf das Acrylgemälde des tosenden Niagara-Falls.

      „Wir, also, das hat unser Erster Vorsitzender auch gemeint, wir wollen diese Saison angreifen. Wir wollen nicht, dass alles immer den Bach runtergeht ...“

      „Ich soll Ihre Mannschaft psychologisch betreuen? In der kommenden Saison ...“

      Detlef schnaufte, als ob er einen mehrere Kilometer langen Knie-Hebel-Lauf hinter sich gebracht hatte.

      „Jawoll. Es geht bald wieder los, wir haben schon den neuen Spielplan, und, weil unsere Jungs, ich mein’ die Jungs vom Kaiser Franz, ich mein’, weil wir Weltmeister sind, da wissen wir ja jetzt mehr als je zuvor, dass der Traum wahr werden kann.“

      Ich runzelte die Stirn. „Sie wollen Meister werden ...“

      „Jawoll.“

      „Wie waren denn die Platzierungen in den letzten drei Jahren?“

      „Nicht so besonders“, druckste Detlef herum.

      Ich schaute ihn auffordernd an.

      „Letzter, Drittletzter, Vorletzter.“

      „Man darf träumen. Aber ...“

      Detlef beugte sich vor, legte die geballten Fäuste auf den Tisch. „Der Kaiser sagt auch, Fußball wird im Kopf entschieden. Meine Jungs, die können alle Fußball spielen. Mindestens so gut wie die anderen Mannschaften, die sich ganz oben in der Tabelle tummeln werden ...“

      „Dennoch ...“, wollte ich widersprechen.

      „In der Birne, da hapert’s. Und deswegen bin ich ja auch hier. Ich brauche Ihre Hilfe.“

      Er löste eine Faust und schob mit seinen wulstigen Fingern den Umschlag näher zu mir hin.

      „Wir haben gesammelt. Unter den Spielern, den Mitgliedern, der Rudi, unser neuer Sponsor, hat was springen lassen, sogar der Pastor hat reingebuttert. Das muss aber unter uns bleiben. Sonst heißt es nachher, die Kirchensteuer wird verschleudert. Ehrenwort?“

      Ich nickte mechanisch. „Sie möchten ein Fußball-Wunder wahr machen?“

      „Der Glaube kann Berge versetzen, sagt der Pastor immer, aber bis jetzt hat sich kein Hügel auch nur einen Millimeter bewegt. Die meisten Leute halten Sie für einen Quacksalber, aber der Anton hält große Stücke auf Sie.“

      „Der Anton ...“

      „Ja, der Anton hat ’ne Dauerkarte bei uns.“

      Ich schaute auf den Umschlag.

      „Was ist da drin?“

      „Fotos vom Team, Namen der Spieler, der Spielplan. Geld. Fünfundzwanzigtausend in bar. Wir haben uns erkundigt, was so eine Therapiestunde kostet. Wir sind neunzehn. Wir hoffen, dass es für die Saison reicht. Mehr Kröten haben wir nicht.“

      Er blickte mich an wie ein Dackel, der zum Jäger aufschaut um dem Hasen hinterherjagen zu dürfen.

      „Haben Sie neue Spieler eingekauft?“

      Detlef sah mich durchdringend an, grinste. „Wir haben uns informiert. Sie waren mal Fußballer. Aber das ist wohl schon zu lange her.“

      „Wieso?“

      „Wir können keine großen Transfersummen bezahlen, die drei neuen Spieler sind sozusagen ablösefrei zu uns gekommen. Stopp. Einer hat was gekostet. Zwei Kästen Bier.“

      Ich lächelte. Er lächelte.

      „Also gut“, sagte ich. „Probieren wir es. Aber bedenken Sie bitte, ich kann nicht zaubern!“

      Detlef atmete auf. Tausende Tonnen der Last schienen von seinen Schultern zu fallen.

      „Herr Wallmann, danke, Hammer, einfach genial. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Angst ich vor unserem Gespräch hatte. Das war schlimmer als jeder Truppeneinsatz im Gefechtsgraben.“

      Ich horchte auf. „Bundeswehr?“

      Detlef nickte. „Berufssoldat, Hemer, zehn Jahre. Jetzt bin ich Postbote. Bezirk Ost.“

      Ich zog den Wust Papier aus dem Umschlag, trennte die Fotos und weißen Blätter mit handschriftlichen Notizen (feinsäuberlich festgehalten waren darauf neben dem Spielplan die Abschlusstabelle und die kompletten Spielergebnisse der Vorsaison) von den Geldscheinen. Ich öffnete die Schreibtischschublade, nahm den Quittungsblock heraus, zählte das Geld, füllte einen Beleg aus und übergab ihn an Detlef Dudel. Detlefs Gesichtsausdruck wechselte von hochjauchzend auf zu Tode betrübt.

      „Wann kann ich die erste Therapiestunde bekommen?“

      „Sie?“, fragte ich ungläubig.

      „Ich. Ich erreiche doch meine Mannschaft nicht mehr. Was ich sage, das wird nicht umgesetzt.“

      „Hm ...“, brummte ich. „Ich schaue mir erst die Mannschaft mal an, ich meine die Fotos und so.“

      „Das Training startet nächste Woche“, sagte Detlef.

      „Kommen Sie übermorgen. Am frühen Abend. Gegen sieben“, erwiderte ich.

      Detlef war einverstanden.

      Während er hinausging, sah ich die weiße gefilzte Schrift auf seiner roten Trainingsjacke. Rot-Weiß, wie lieb ich dich.

      Ich brachte das Geld zur Bank. Aß zu Mittag eine Gulaschsuppe mit Brötchen beim Metzger und nahm mir dann die Fotos vor. Wer waren die neunzehn Menschen, die es stark zu reden galt? Die Halt brauchten in den Schlachten um das runde Leder.

      Bei den Bildern handelte es sich um Portraits. Auf der Rückseite standen Alter, Name und Spielposition sowie die Telefonnummer zu jeder Person. Manchmal auch der Beruf. Ich hätte mir einen detaillierten Steckbrief gewünscht, aber es war zumindest ein Anfang.

      So ging ich die Ablichtungen durch. Die erste Bekanntschaft mit meinen Schützlingen. Ich kann das noch so genau nachvollziehen, weil ich jüngst die Notizbücher der Sitzungen auf dem Dachboden gefunden habe und dabei auf die eingeklebten Fotos und meine handschriftlichen Anmerkungen stieß. Ich bin der Ansicht, dass meine aus der Erinnerung gespeiste Schilderung dieser Saison 90/91 nur unzureichend den inneren Wirrwarr und Tumult der Spieler wiedergeben würde. Deshalb werde ich im Folgenden die Notizen aus der jeweils ersten Sitzung, oder, falls die Gespräche auf Tonband mitgeschnitten und transkribiert wurden, diese hier wiedergeben. Denn sie sind das Dokument dessen, was den Fußball, die beteiligten Frauen und Männer, diese wunderbare Sache des Spiels, die Hintergründe, das Essentielle, wirklich beschreibt. Und nicht nur aus dem Gedächtnisprotokoll: Anpfiff. Halbzeit. Schluss ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. Abpfiff. Und dazwischen: Abstoß, Freistoß, Tor, Anstoß, Ecke, Tor, Foul, Gelbe Karte, Rote Karte, Auswechslung, Seitenwechsel, Elfmeter, Tor, Ballgeschiebe. Gerenne. Ansturm rechts. Ansturm links. Pfiffe, Buhrufe, Jubel, Geschimpfe und Gezeter. Siegestaumel.