Dominique Lara Belleda

Der Grossvater und seine Enkelin


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Ohne zu zögern steuerten sie darauf zu und bestiegen das nächste Schiff, das anlegte.

      Es war ein langes, niederes Schiff, vollgestellt mit Bänken und Stühlen für die Touristen. Lilly und Großvater setzten sich in die Mitte des fast leeren Schiffes. Die Sonne schien durch die Wolken auf das Glasdach des Schiffes, sodass es darunter schnell sehr warm wurde, obwohl es noch immer Winter und draußen recht kalt war. Bald schon wurde es so warm, dass Lilly ihre Jacke ausziehen musste.

      Sie fuhren erst unter der Brücke durch und kamen am Palast der Republik vorbei, oder zumindest an seinen Überresten. Vier Betonpfeiler ragten noch aus dem Schutt und wirkten inmitten der blühenden Stadt wie vertrocknete Äste. Sie fuhren weiter am Marx-Engels Forum vorbei, bis zu den Schleusen, dann kehrten sie um und fuhren zurück, an ihrem Ausgangspunkt vorbei und weiter in die andere Richtung. Aufgeregt deutete Lilly auf eine wunderschöne, verzierte Kuppel, die über den anderen Häusern thronte.

      „Das ist die Kuppel der neuen Synagoge“, erklärte ihr Großvater.

      Sie fuhren weiter und gelangten schließlich ins Regierungsviertel. Der Reichstag mit seiner in der Sonne spiegelnden Glaskuppel zog an ihnen vorbei, dann zwei weitere Regierungsgebäude, links und rechts der Spree, die durch eine schmale Brücke miteinander verbunden waren. Wenig später kam der Bahnhof in Sicht, doch Großvater deutete auf das andere Ufer.

      „Das da ist die Schweizer Botschaft“, erzählte er, „Sie ist noch relativ neu.“

      Lilly folgte seinem ausgestreckten Arm und erkannte einen seltsamen Gebäudekomplex, mit blitzförmigem Grundriss.

      Nach dem Regierungsviertel folgte ein Park, dort kehrte das Boot um und fuhr zurück.

      Eine Stunde später waren sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen.

      Um und am Alex

      Inzwischen war es schon früher Nachmittag und Lilly bemerkte, dass ihr Bauch angefangen hatte, zu knurren. Großvater musste es gehört haben, denn er wandte sich zu ihr um.

      „Da oben gibt es ein schönes Café. Wollen wir dort etwas essen gehen?“ Lilly nickte dankbar und folgte Großvater.

      In dem Café waren nicht viele Leute. Sie setzten sich hinein und bestellten beide eine salzige Crêpe mit Schinken und Sauerrahmsauce. Lilly bekam sogar noch einen Nachtisch, einen Eisbecher, den sie selber zusammenstellen durfte. Und als sie schließlich das Café wieder verließen, zog Lilly ihren neuen Fotoapparat hervor und schoss ein Bild von den violetten und grünen Stühlen. Sie hatte ihre ersten Farben gefunden.

      Zusammen gingen Großvater und Lilly dem Ufer der Spree entlang, bis zur Straße. Von dort aus folgten sie der Straße von der Brücke weg. Sie kamen an Geschäften mit Andenken vorbei, Gruppen schwatzender Touristen und großen Figuren aus Plastik, mit denen sich die Touristen fotografieren konnten. Lilly schnappte Englisch und Spanisch auf, doch die Leute redeten so durcheinander, dass sie nichts verstehen konnte.

      Sie hob den Blick. Ein Stück weit vor ihnen erhob sich der riesige Fernsehturm in den Himmel. Die Wolken, die über ihm über den Himmel zogen, bewirkten, dass es aussah, als ob er gleich umfallen würde und schnell schaute Lilly wieder auf den Boden.

      Ein Stück weiter kamen sie an einen Zebrastreifen. Großvater blieb stehen und Lilly zog erneut ihren neuen Fotoapparat hervor, um das rote Ampelmännchen zu fotografieren, das so anders aussah als das zu Hause. Jetzt waren sie tatsächlich auf ihrem Abenteuer.

      Lilly ließ sich sogar noch Zeit, auch das grüne Ampelmännchen zu fotografieren, bevor sie mit Großvater die sechs Spuren der Straße überquerte.

      Auf der anderen Seite wanderten sie ein bisschen durch den Park, und Großvater zeigte ihr die großen Skulpturen, die in dessen Mitte standen. Anschließend liefen sie hinüber, auf den Alexanderplatz und suchten sich eine U-Bahn, die sie zum Gendarmenmarkt brachte.

      Dort schlenderten sie die Straßen entlang, bis Großvater vor einem kleinen Geschäft stehen blieb. Er beugte sich zu Lilly hinunter.

      „Hier drin kann man Gerüche sammeln. Hast du Lust?“ Lilly nickte aufgeregt und sie betraten den Laden.

      Drinnen roch die Luft süß nach Schokolade. Genießerisch sog Lilly den Duft ein und verankerte ihn in ihrem Gedächtnis. Überall auf den Regalen lag Schokolade. Milchschokolade, braune Schokolade, weiße und schwarze Schokolade und Lilly entdeckte sogar ein Gebilde, das Berlin darstellte. Staunend betrachtete sie es eine Weile, während Großvater einige Tafeln Schokolade aussuchte.

      Als sie den Laden wieder verließen, war es schon spät am Nachmittag. Sie nahmen die U-Bahn zurück zum Hotel und stiegen am Brandenburger Tor aus. Eine Weile schlenderten sie noch auf dem Platz herum; mehr als einmal musste Großvater einen aufdringlichen Bettler abwimmeln, als Lilly plötzlich auf etwas aufmerksam wurde. Sie packte Großvater am Ärmel seiner Jacke und zog ihn mit sich, immer schneller, bis sie unter dem Tor standen.

      An einen Pfahl war ein zotteliger, brauner Hund gekettet. Lilly kniete sich nieder und streichelte ihn. Neugierig schnüffelte der Hund an ihrer Hand und an ihrer Jacke, als erwartete er, dort etwas zum Essen zu finden.

      Inzwischen hatte sich auch Großvater hingekniet und strich dem Hund über den Kopf. Vorsichtig tastete er nach dem Halsband und fand daran einen zusammengerollten Zettel. Er zeigte ihn Lilly.

      „Sieh mal. Der Kleine ist ausgesetzt worden.“

      „Können wir ihn mitnehmen? Hier verhungert er doch“, bettelte Lilly. Großvater dachte einen Moment nach, dann nickte er.

      „Also gut. Aber nur, wenn du auch gut auf ihn aufpasst.“ Lilly bejahte ernst. Schnell band sie den Hund los und griff nach dem Faden, der als Leine diente.

      „Er soll Holly heißen“, meinte sie nach kurzem Überlegen.

      Die drei machten sich auf den Weg zurück zum Hotel. Der Page, der auch schon den Bus in die Garage gefahren hatte, staunte erneut, als er den alten Mann und das Mädchen mit dem Hund herein kommen sah. Doch er sagte nichts. Großvater bestellte an der Rezeption etwas Wasser und Hundefutter, dann gingen die drei in ihr Zimmer.

      Geschichtsstunde

      Am nächsten Morgen machten sie sich früh auf den Weg. Großvater und Lilly kauften in einem Geschäft für Tierzubehör eine Leine, einen Kamm und Hundekuchen, dann machten sie sich wieder auf, durch die Stadt. Großvater wollte Lilly etwas zeigen.

      Wenig später erreichten die beiden einen großen, offenen Platz. Lilly staunte. Auf dem Platz waren überall große und kleine Steinquader aufgestellt.

      „Was ist das?“, wollte sie wissen.

      „Das ist das Stelenfeld. Es ist ein Mahnmal und soll an all die Juden erinnern, die im zweiten Weltkrieg gestorben sind. Die Steine bewirken, dass man sich ganz einsam fühlt, wenn man durch sie hindurch geht.“

      Lilly machte sich auf den Weg durch die Steine. Anfangs konnte sie noch über sie hinweg sehen, doch je weiter sie in das Stelenfeld vordrang, desto höher wurden die Steine, und desto kleiner fühlte sie sich. Sie war froh, Holly dabei zu haben.

      Ab und zu lief sie Großvater über den Weg, der sie jedes Mal anlächelte, aber sonst blieb sie allein.

      Nachdem sie das ganze Feld mindestens einmal abgeschritten hatte, suchte sie sich einen Weg ins Freie, wo Großvater bereits auf sie wartete.

      „Möchtest du noch in das Museum gehen? Es ist gleich hier unten.“ Und er zeigte auf eine kleine Gruppe von Menschen, die vor einer Absperrung standen und darauf warteten, eine Treppe hinunter gelassen zu werden. Lilly nickte und die beiden stellten sich hinten an.

      Der Mann, der sie herein ließ, schüttelte den Kopf, als er Holly sah.

      „Hier dürfen keine Hunde rein.“ Ein bisschen ratlos sah Großvater Lilly an. Doch diese überlegte nicht lange.

      „Sie werden auf ihn