Marvin Roth

Hanky und der Tausendschläfer


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      Gerne hätte er sich mit ihr unterhalten, ein richtiges Gespräch geführt, doch er wusste, dass er seine „alte“ Rolle weiterspielen musste. Gleich morgen früh würde er zu seinem Grandpa gehen und ihm von seiner Verwandlung berichten. Sein Großvater wusste bestimmt Rat, wie er das böse Ding jagen konnte. Sein Großvater würde ihm beistehen, er würde ihn nicht verraten.

      Etwa sechzig Meilen entfernt parkte der Wagen Walt Kesslers auf einem kleinen Parkplatz, der an der Landstraße lag. Im Wagen saß das Ding und schaute durch die Augen Walts über die Felder und Wiesen. Morgennebel schwebte wie ein wattiger Ozean über dem Boden. Der Himmel begann sich im Osten schon leicht rötlich zu färben, ansonsten war er noch nachtblau. Von all dem sah das Ding nichts. Es versuchte sich wohlzufühlen. Es war satt, und eigentlich immer, wenn es satt war, fühlte es sich wohl. Doch nicht heute. Etwas war total anders, unverständlich und neu.

      In der Nacht hatte das Wesen erfolgreich Jagd gemacht und seinem Opfer alle Lebensenergie genommen. Es war so leicht wie immer gegangen, aber dieses Mal hatte es ihm keinen Spaß gemacht, sein Opfer zu töten. Vor Wut über sein Unbehagen hatte das Ding sein Opfer furchtbar verstümmelt, als es schon längst tot neben dem Wagen lag. Das hatte aber auch keinen Spaß gemacht, und dann war das Ding auch noch durch einen anderen Wagen gestört worden. Normalerweise hätte es die Störenfriede ebenfalls beseitigt, doch ein Gefühl von Panik hatte es zur Flucht bewegt. Bestimmt hatten die Insassen - es waren zwei, dass hatte das Ding gespürt —, den Wagen von Walt erkannt. Doch nun war es zu spät. Es würde sich von seinem Gastkörper trennen müssen. Unauffällig musste ein neuer Gastkörper gefunden werden. In den Gedanken seines Gefangenen suchte das Ding nach einer Möglichkeit. Eine Stadt, ein belebter Platz mit vielen Menschen, würde der richtige Ort sein.

      Kapitel 9

      Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als Hanky aufstand. Er hatte nicht geschlafen diese Nacht, aber er fühlte sich trotzdem erfrischt und ausgeruht. Er zog seine üblichen Sachen an und betrachtete sich im Spiegel. Was er da sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Er sah aus wie ein Mann in einem Kinderkostüm. Für jetzt würde es gehen müssen, jedenfalls bis er aus seinem Heimatdorf hinaus war. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, immer so herumgelaufen zu sein. Sobald er in die nächste Stadt kam, würde er sein Aussehen verändern. So war er zu auffällig. So würden sie ihn schnell finden. Sie, das waren seine Eltern, die Polizei und eventuell auch die Zeitungen, die nach ihm suchen würden. Suchen nach einem behinderten jungen Mann, der sich nicht zurechtfand.

      Doch das kam später. Für den Augenblick war er richtig gekleidet. In einem kleinen Regal mit seinen »Schätzen« stand auch eine alte Zigarrenkiste. Diese holte er hervor und klappte sie auf. Darin waren seine ganzen Ersparnisse. Es war nicht viel. Ab und zu hatte er dem einen oder anderen Bauern geholfen, Heu abzuladen, oder andere einfache Arbeiten verrichtet. Dafür hatte er dann ein bisschen Geld bekommen. Er hatte das Geld nie gebraucht und deshalb in der Zigarrenkiste aufbewahrt.

      Hanky schüttete alles auf sein Bett und begann zu zählen. Diesmal konnte er zählen. Es machte Spaß zu zählen. Fünfundvierzig Dollar und zweiundsiebzig Cent. Zufrieden lächelnd steckte er seine Barschaft in die Hosentasche. Danach ließ er sich auf die Knie nieder und suchte unter dem Bett nach seinem Rucksack. Nach einer Weile zog er ihn hervor und ging zu seinem Wäscheschrank. Er packte etwas Unterwäsche, Socken und einen dickeren Pullover ein. Im Bad steckte er noch ein Stück Seife und die Zahnbürste in den Rucksack. Sein Blick fiel auf den Kamm, der auf dem Rand des Waschbeckens lag. Den Kamm hatte er nie benutzt, obwohl ihn seine Mutter immer wieder ermahnt hatte, sich zu kämmen. Mit einem Achselzucken packte er ihn ebenfalls ein. Er schaute sich noch einmal um und verließ dann das Bad. Leise ging er die Treppe nach unten. Aus dem Schlafzimmer seiner Eltern hörte er das leise Schnarchen seines Vaters. Zum Glück schliefen seine Eltern noch. Wenn sie aufwachten, würden sie Hanky nicht vermissen, da er meistens schon sehr früh zu seinem Großvater unterwegs war. In der Küche steckte er sich noch zwei Äpfel, ein Stück Wurst und ein halbes Brot in den Rucksack. Er trat durch die Hintertür ins Freie und realisierte in diesem Moment, dass er seine Kindheit hier zurücklassen würde. Das Gefühl, etwas Wertvolles verloren zu haben, drohte ihn zu überwältigen. So stand Hanky einen Moment, die Schultern gebeugt vor Kummer, im Garten seiner Eltern. Dann straffte er sich, richtete sich fast trotzig auf und schob den schmerzenden Gedanken entschlossen beiseite.

      Zunächst dachte er noch daran, sein Fahrrad mitzunehmen, entschied sich aber dann doch dagegen, da dieses

      Vehikel zu bunt war und jedem aufmerksamen Beobachter im Gedächtnis bleiben musste. Erst einmal würde er laufen und dann schauen, wie es weiterging.

      Plötzlich war der Motor ausgegangen. Erst hatte die Maschine angefangen zu stottern, dann erstarb sie mit einem letzten, lauten »BLOM«. Das Ding schaute sich hilflos um und versuchte, in den Erinnerungen seines Opfers einen Hinweis zu finden, was mit dem Fahrzeug los war. Nach einer Weile fand es heraus, dass der Wagen wohl keinen Treibstoff mehr hatte. Was sollte es nun tun ? Als Erstes musste das nutzlose Auto von der Straße verschwinden. Das Ding bewegte seinen Gastkörper zum Aussteigen. Das, was von Walt Kessler noch übrig war, versuchte sich dem Ding zu widersetzen. Sein Körper taumelte wie betrunken herum, und seine Augen hatten einen panischen, irren Ausdruck. Mit aller Gewalt schleuderte das Ding Walt in den letzten Winkel seines Bewusstseins und übernahm den Wirtskörper entgül-tig. Bisher hatte das Ding geglaubt, das Bewusstsein von Walt zerstört zu haben. Aber anscheinend war das Bewusstsein nur in eine Art Ohnmacht gefallen. Nach einer kleinen Weile richtete sich Walts Körper gerade auf und ging mit ungelenken, staksigen Schritten um den Wagen herum. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen das Fahrzeug und schob es langsam über die Straßenbegrenzung. Dahinter war ein kleiner Abhang, der spärlich mit Büschen bewachsen war. Das Auto rollte den Abhang hinunter, erst langsam und dann immer schneller, um schließlich fast achtzig Meter weiter an einem Baum zum Stehen zu kommen.

      Im hintersten Winkel seines Bewusstseins musste Walt Kessler mit anschauen, wie sein Wagen den Hügel hinabrollte. Er fühlte, dass er, sein Geist, am Absterben war. Das Wesen in seinem Körper war zu stark. Ärger und Zorn erfüllten ihn. Nein, niemand sollte seinen Körper benutzen. Er fühlte sich vergewaltigt und beschmutzt.

      Er musste etwas unternehmen, solange er noch die Kraft dafür aufbrachte. Was konnte er nur tun? Auf geistiger Ebene konnte er das Ding in seinem Gehirn nicht besiegen. Er musste sich eine List einfallen lassen. Walt wusste, dass er sterben würde. Ein letzter Kampf. Eine letzte Aufgabe, die er meistern musste. Er dachte nach, während das Ding seinen Körper lenkte und der Straße folgte, die in nicht allzu langer Zeit in die nächste Stadt führen würde.

      »Ich muss das Ding ablenken und verwirren, damit es nicht in meinen Gedanken sucht«, dachte er.

      Walt versuchte bestimmte Regionen seines Körpers zu steuern. Erst nach einer Weile gelangen seine Versuche. Er schickte einen Befehl zu seinem rechten Zeigefinger und bewegte ihn ganz leicht vor und zurück. Der Finger gehorchte seinem Befehl, und als einige Minuten verstrichen waren, wusste er, dass das Ding es nicht bemerkt hatte.

      Gähnend steuerte Pater Frank Marcus seinen Dienstwagen, wenn man es höflich ausdrücken wollte — nämlich einen siebenundachtziger Lincoln Towncar, der an allen Ecken klapperte —, über die Landstraße in Richtung Madison.

      In dieser größeren Kleinstadt, wie er immer lächelnd bemerkte, lag seine Kirche, und es war seine Gemeinde, die er zu betreuen hatte. Der Bischof war weit weg, und nur alle drei Monate fuhr er zu ihm und erstattete Bericht. So sah es Pater Marcus — wie ihn seine Schäfchen nannten.

      Dem Pater war es zuwider, Rechenschaft über seine Arbeit abzulegen. Er hatte nun schon einige Jährchen auf dem Buckel und wusste, wie man eine Gemeinde zu führen hatte. Der Bischofwar ein eitler und überheblicher Mann, und Pater Marcus konnte ihn nicht leiden.

      Nun hatte er wieder drei Monate Ruhe und versuchte den Besuch zu vergessen. Fast mitten in der Nacht war er aufgebrochen, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Der neue Tag erwachte, und die Landschaft glänzte im frischen Morgentau. Die Straße führte leicht bergab durch eine kleine Senke mit Grasland und Obstbäumen, um sich anschließend leicht kurvig über den nächsten Hügel zu winden.

      Im