Marvin Roth

Hanky und der Tausendschläfer


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nicht verstehen. Aber die Stimme hörte nicht auf zu rufen. Walts Geist klärte sich, und er tauchte immer weiter auf, wie ein Taucher aus dem Meer. Nach einiger Zeit, Stunden, Minuten, Walt wusste es nicht, verstand er die Worte. Die Stimme rief: »Mister Kessler — Auuuufwaaachen — Haaallooo, Mister Kessler — können Sie mich hören? Mister Kessler — bitte machen Sie die Augen auf — Halloooo, Mister Kessler ...«

      Walt kannte diese Stimme von irgendwoher. Wer war das, der ihn da rief? Wenn seine Augen doch nur nicht so schwer wären. Doch die Stimme gab nicht auf, und auch das Rütteln spürte er immer noch. Mit großer Willensanstrengung öffnete Walt schließlich die Augen und sah erst verschwommen und dann immer klarer jemanden vor sich. Ungläubig und verwirrt schaute er in das runde Gesicht von Hanky.

      Ray Berson hatte sich auf den Weg zu seinen Kindern gemacht. Er lief erst etwas steifbeinig und dann immer lockerer über die Wiesen hinunter in Richtung Prisco. Es war immer noch früh, und es drangen kaum Geräusche der Zivilisation an seine Ohren. Dafür hörte er all die Stimmen der Natur, die er so liebte. Die auch Hanky so liebte. Das leise Zirpen der Insekten, das Rauschen des Windes in Büschen und Gräsern, das Zwitschern eines Vogels am Waldesrand. Ray wollte erst einmal nachschauen, ob Hanky nicht doch zu Hause war und er einfach nur schlecht geträumt hatte. Doch tief in seinem Inneren wusste Ray, dass es nicht so war.

      Wenig später erreichte er das Haus seiner Kinder und ging leise durch die Hintertür ins Haus. Alles war noch ruhig. Leise drangen Schlafgeräusche aus dem Elternschlafzimmer. Ray ging vorsichtig die Treppe nach oben und blieb vor der Tür zu Hankys Zimmer stehen. Er öffnete die Tür und sah hinein. Doch da war niemand. Hanky war fort. Ray stand etwas ratlos da und überlegte, was er nun tun sollte, als sein Blick auf die alte Zigarrenkiste am Fußende des Betts fiel. Das war Hankys Schatzkiste, und sie stand offen. Ray ging zum Bett, nahm die Kiste und schaute hinein. Die Kiste war leer. All die kleinen Schätze, bunte Glasmurmeln, ein Bild von einem Hund, das Hanky einmal in einer Zeitschrift gefunden hatte, ein Stück seltsam geformtes Holz, das Hanky aus dem Wald mitgebracht hatte, lagen verstreut auf dem Laken herum. Doch es fehlte das Geld, das sich Hanky über die Jahre gespart hatte. Es war nicht viel, gewiss, doch der Junge hatte nie Geld gebraucht und wusste auch nicht, wie man etwas kaufen konnte. Doch nun war das Geld nicht mehr da. Mit Hanky musste etwas passiert sein. Er musste sich verändert haben. Er musste fortgegangen sein und dabei das Geld mit sich genommen haben. Wo war er nur hingegangen? Wo war Hanky?

       Kapitel 11

      Nach einer Weile konnte sich Walt Kessler aufsetzen. Hanky stützte ihn. Walt fühlte sich benommen und fürchterlich müde. Er schaute Hanky an und wusste, dass dies nicht mehr der Hanky war, den er gekannt hatte. Dieser da sah irgendwie verändert aus. Er sah erwachsen aus. Aus dem breiten Gesicht schauten ihn aufmerksame und wache Augen an. Hanky war nicht mehr das dumme Kind, nein, Hanky war nun ein Mann.

      »^ie kommst du denn hierher, Hanky?«, fragte Walt Kessler.

       »Nur mal langsam, Mr. Kessler. Ich muss Sie erst mal in Sicherheit bringen, oder zumindest an einen Ort, wo Sie sich ausruhen können. Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.«

      Damit griff Hanky Walt unter die Achseln und stellte ihn auf die immer noch sehr wackligen Füße. Danach legte er ihm den Arm um die Hüften, und sie liefen langsam auf die Straße. Am Anfang hatte Walt noch Probleme, sich auf den Beinen zu halten, doch nach und nach ging es ihm besser. Er war nur so schrecklich müde. So marschierten die beiden die Landstraße entlang. Nach zwei Stunden mit etlichen Verschnaufpausen entdeckte Hanky etwas abseits der Straße einen kleinen Bauernhof. Ohne sich die Mühe zu machen, einen Weg zu suchen, liefen

      Hanky und Walt über die Wiese auf das Bauernhaus zu. Alles war still, und nicht einmal das Bellen eines Hundes oder das Gegacker von Hühnern war zu hören.

      »Das sieht ziemlich verlassen aus«, meinte Walt. »Als ob dort niemand mehr wohnen würde.«

      Und so war es auch. Hanky und Walt durchsuchten die Farm und fanden keine Spur von den Besitzern. Alles war staubig, und einige Scheiben des Wohnhauses waren zerbrochen. Hanky schob vorsichtig eines der Fenster auf und kletterte ins Haus. Es standen zwar noch einige alte Möbel herum, doch es war klar, dass hier niemand mehr wohnte. Hanky stöberte durch alle Räume, sogar im Keller schaute er sich um. Nein, hier war keiner mehr. Hier konnte Walt sich erst mal ausruhen. Im Wohnzimmer klopfte Hanky aus einem Sofa den Staub heraus, so gut es ging. Walt schob ihn aber zur Seite und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er lag noch keine Minute, da war er schon eingeschlafen. Hanky überlegte, was nun zu tun sei. Eigentlich hätte er hinter dem Ding herjagen müssen, aber er konnte Walt doch nicht einfach hier liegen lassen. So beschloss er, sich wenigstens einmal die nähere Umgebung der Farm anzusehen. Als er aus dem Wohnzimmer schlich, hörte er nur das leise Schnarchen von Walt Kessler.

      Nachdem Ray Berson das Haus seiner Kinder leise wieder verlassen hatte, eilte er den Hügel hinab nach Prisco. Dort wollte er sich umhören, ob jemand Hanky gesehen hatte. Er kam an der Schule vorbei und hörte fröhliche Kinderstimmen, die aus dem offenen Fenster eines Klassenzimmers drangen. Auf dem kleinen Parkplatz vor der Schule standen einige Autos, so auch der Wagen von Richard Miller, dem Lokalreporter. Er hatte bestimmt seine Frau Rita zur Schule gefahren. Ray entschloss sich zu warten, um zu sehen, ob Richard etwas über Hanky wusste. Es dauerte nicht lange, da kam Richard auch schon aus dem Schulhaus. Er sah Ray Berson, winkte und kam lächelnd auf ihn zu.

      »Hallo Ray«, rief er schon aus einigen Metern Abstand. »Geht es deinem Enkel denn wieder besser

      Und so hörte Ray Berson alles, was sich seit gestern zugetragen hatte. Auch über den schrecklichen Mord an der Landstraße berichtete ihm Richard ausführlich. Ray hörte zu, und gleichzeitig erinnerte er sich an das grausige Erlebnis, das er vor so vielen J ahren im Wald gehabt hatte. Er konnte sich nicht erklären, weshalb sein Geist ihm diese Erinnerung schickte, während er Richard Miller zuhörte. Er hob seine Hand, um den Redefluss des Reporters zu unterbrechen, und sagte nur: »Hanky ist fort.«

      Richard Miller witterte eine gute Story. Schon nach den ersten Worten des alten Mannes glaubte er Zusammenhänge zu erkennen. Ray berichtete ihm von seinem schlechten Gefühl nach dem Aufwachen, und nach einigem Zögern auch, was damals mit seinem Schwager geschehen war. Das alles und der Bericht seiner Frau veranlasste den Reporter, der Geschichte nachzugehen. Vergessen waren all die Termine, die er sich für heute vorgenommen hatte. Wen interessierte da noch, wie wohl die Kornernte ausfallen würde?

      Sie beschlossen gemeinsam, erst einmal mit dem Doktor zu sprechen, und wollten sich danach auf die Suche nach Hanky machen. Richard lief noch einmal schnell ins Schulhaus, um seiner Frau zu sagen, dass er sich mit Ray auf die Suche nach seinem Enkel mache. Kurze Zeit später waren die beiden auf dem Weg zur Praxis von Doktor Ness.

      Es war schwer für das Ding, sich an den Gedanken und Erinnerungen seines Opfers zu orientieren. Offenbar wurde Pater Frank Marcus verrückt. Der Wirtskörper funktionierte eigentlich recht gut und reagierte auf alle Befehle, aber das nutzte recht wenig, wenn das Ding nur schwer an Informationen kam.

      »Wo ist dein Zuhause?«, fragte das Wesen lautlos.

      »O Gott! Da ist es wieder! Das Böse hat von mir Besitz ergriffen. Ich höre Stimmen. Das muss ein Dämon sein. Will der Herr mich prüfen? Was mach ich nur, was mach ich nur...?«

      »Wo ist dein Zuhause?«, fragte die Stimme erneut.

      Das Ding konnte immer nur ein großes Gebäude mit einem Turm sehen. Das konnte doch nicht das Haus seines Opfers sein? Da sich dessen Gedanken immer mehr verwirrten, beschloss das Wesen, sich erst einmal auf die Suche nach dem großen Haus mit dem Turm zu machen. Der Wagen rollte in die Stadt hinein, und das Ding schaute sich interessiert um. So viele Menschen hatte es noch nie gesehen. So viele Opfer! Überall waren die Fahrzeuge der Menschen unterwegs, und auch auf den Wegen tummelten sich seine zukünftigen Opfer. Doch erst einmal brauchte es einen sicheren Unterschlupf. Er hatte nicht den Mann vergessen, der ihm seine Macht gezeigt hatte. Es hatte noch nicht seine Panik vergessen, und wie es vor diesem Mann geflohen war. Der Mann würde nach ihm suchen. Der Mann hatte ihn erkannt. Er hatte erkannt, wer es war oder