Staubwolke, die ein Präriemustang hinter sich lassen würde, den Anfängerkurs 1 verließen.
Ich fühlte mich wie ein zartes Pflänzchen, das immer wieder gepflanzt wird und stirbt. Und neu gepflanzt wird und erneut stirbt. So wurden die Leben von zahlreichen zarten Pflänzchen verbrannt, bis eines Tages ein zartes Wesen trotz allem am Leben blieb – und aus dem zarten Pflänzchen eine schlummernde Knospe entsprieß. Nach mehr als einem Jahr passierte es: Aus meinem Körper und völlig unbewusst entglitt meinem Körper ein verbundener Tanzversuch. Ein verbundener Tanzversuch erblickte das Licht der Welt… im Einklang mit der Musik, mit meiner Tanzpartnerin, mit mir und mit der gesamten unsichtbaren Landschaft an Unterbewusstsein, das das Steuer an sich riss und die Macht über meinen Gedächtniskrampf übernahm.
Ich sprieß aus. Ja, das ist ein gutes Wort. Ich liebe solche Wörter. Von da an begann ich zu wachsen, wie ein Baum. Ich begann, die Sache ernst zu nehmen, sie als eigene anzunehmen. Wenn ich zuvor stur ausharrte, weil ich das als Profisportler so beim Karatesport gelernt hatte, nicht einmal einen Millimeter nachzulassen, sondern bis zu jenem Zeitpunkt zu wiederholen, bis ich ein gewisses Ergebnis zeigen konnte, so begann ich von diesem Moment an wirklich zu fühlen. Wirklich zu tanzen. Ich begann Tango zu tanzen.
Dieses Glücksgefühl könnte ich auch mit dem Erfolgserlebnis an einem Getränkeautomaten vergleichen, bei dem man monatelang zwar den Knopf Nr. 74 drückt, statt der gewünschten Pepsi Cola aber immer wieder AriZona-Eistee herausbekommt. Man steht wie gelähmt da, ist einfach nicht mehr überrascht, dass man – egal was man drückt – nicht das gewünschte Getränk erhält. Und dann plötzlich, total unerwartet, kommt wie ein Wunder Pepsi Cola raus. Ja, in der Tat zahlte sich mein monatelanges beharrliches Wiederholen der ein und derselben Schritte plötzlich aus.
Wenn ich heute AnfängerInnen unterrichte, so erkenne ich mich wieder; ich betrachte mein Spiegelbild in deren fragenden Augen. Empfinde deren Gefühl nach, denn dort, wo sie heute stehen, stand einst ich… und stehe immer wieder erneut da, zusammen mit ihnen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, Neuland zu spüren, Bahnhof zu verstehen, wenn dich Außerirdische entführen, dir dein Gedächtnis löschen – wie dies mein armer Schwiegervater und seine Kollegen am jenen besagten Abend am eigenen Leib erfahren mussten. Ich sehe sie, wie sie in ihrem Gedächtnis stöbern, versuchen, den Kern der Sache zu treffen. Wir alle wissen, Übung macht den Meister. Deshalb bin ich ja so glücklich, wenn sich meine TangoschülerInnen entscheiden, mehrmals wöchentlich Tango zu lernen. So begannen auch meine Lernerfolge Fuß zu fassen.
Ich selbst erlebte es am eigenen Körper. Besuchte ich ganz zu Beginn meine Tangokurse nur ein- oder zweimal wöchentlich und ließ ich diese manchmal sogar aus, weil mir alles einfach zu viel, unerträglich wurde, so erblickte ich das Licht am Ende des Tunnels erst dann, nachdem ich begonnen hatte, die Sache etwas ernster zu nehmen und mehrmals wöchentlich zum Kurs zu gehen. Ich lernte mehrmals pro Woche, wiederholte, übte, tanzte, versuchte es immer wieder von neuem, gab nicht auf. Als ich in all diesem Geschehen etwas mehr spürte und als dieses Mehr Teil mir selbst wurde, begann ich Fortschritte zu verzeichnen, Tango zu tanzen. Vier- bis fünfmal pro Woche. Ich lernte und lernte.
Dies war der erste Wendepunkt in meinem Tangoleben. Ich hatte den Schnellzug genommen.
Wie ich von einem Fettnäpfchen ins nächste trat
Zeit ist wie ein spiralförmiges Schneckenhaus. Man kann sie nicht überspringen, überholen, löschen, verlängern – alles, was man tun kann, ist, sich wie eine Schnecke dem Schneckenhaus anzupassen, und darauf zu warten, zusammen zu wachsen.
Als TangotänzerIn wirst auch du einmal die Weisheit von Aníbal Troilo hören: „El Tango te espera.“ Der Tango wartet auf dich. Das stimmt. Sachen kommen und gehen. Es kommen ständig neue Sachen. Aber du wirst sie erst dann verstehen und spüren, wenn du dafür bereit bist. Wenn in deinem Häuschen genug Platz dafür sein wird. Nachdem du lange genug ausgeharrt – lange genug geübt, getanzt, gelernt – hast, eine angemessen große Anzahl an Menschen getroffen hast, ordentlich enttäuscht oder zur Genüge begeistert nach Hause gegangen bist. Sobald du genug Durchhaltevermögen aufgewiesen, dich in genug Bescheidenheit geübt hast. In diesem Sinne wird der Tango immer auf dich warten… dich erwarten. Eine große Masse an Inhalt, die allmählich und tropfenweise in dein Bewusstsein rinnt und in deinen Körper überfließt, in alle Fasern, Zellen und Neuronen. Neue Erkenntnisse. Wie jede Weisheit. Tango ist das Leben im Kleinen. Oder im Großen. Wie man's nimmt.
Gegen Ende meines zweiten Jahres, in dem ich noch immer versuchte, dem Tango auf die Spur zu kommen, versuchte mein Tangolehrer mich dazu zu überzeugen, eine der Milongas zu besuchen. Am Kursende trat er gewöhnlich zu jedem Einzelnen von uns und lud uns mit Begeisterung zu der einen oder anderen Milonga in der Stadt und zeigte dabei – nicht im Geringsten – jegliche Spur eines Zweifels, dass jemand von uns nicht auf eine Milonga gehören würde. So verspürte auch ich nach fast zwei Jahren Lernens, wie meine Neugier langsam begann, die Angst zu verdrängen. Mein Selbstbewusstsein war anfangs zu einem Haufen Asche verbrannt, um danach zu einem Baum zu sprießen. Mein Schneckenhaus hatte eine neue Kurve genommen. Dieses Momentum wollte ich aufgreifen… einmal muss man eben den Sprung ins kalte Wasser wagen.
Als ich begann, Tango zu lernen, wurden Milongas in Moskau ziemlich selten organisiert. Höchstens mal eine alle vierzehn Tage, oder zu besonderen Anlässen. Ich wusste, dass Milongas stattfanden; allerdings spielte ich im ersten Jahr überhaupt nicht mit dem Gedanken, zu einer Milonga zu gehen. Wenn ich gegangen wäre, hätte ich mich höchstwahrscheinlich nicht davor drücken können, tanzen zu müssen. Und tanzen konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht.
Ehrfurcht – in ihrer primärsten und aufrichtigsten Form – das empfand ich Milongas gegenüber. Nur hin und wieder, und auch das nur von sehr weitem, ging ich mit einer Milonga auf Tuchfühlung.
Ich erinnere mich nicht mehr daran, wo meine erste Milonga stattfand. Wohl kann ich mich aber noch an das Lampenfieber davor erinnern. Fast schon etwas kindisch fühlte ich mich, hatte ich doch zuvor auf unzähligen Zweikämpfen die Welt bereist, und doch erwischte auch mich dieses bis dahin fremde Gefühl. Ich fühlte mich nicht auf heimischem Terrain. An jenem Abend rasierte ich mich in meinem Badezimmer und wunderte mich über mich selbst: „Was ist nur los mit dir? Vielleicht könntest du dir noch die letzte Erlösung vom Himmel erhoffen? Eine Münze werfen? Bei Kopf – Geh! Bei Zahl – Geh nicht!“ Wenn ich zu Hause bleiben würde, würde ich nur das Schmoren im eigenen Saft auf das nächste Mal verschieben. Diese süß-saure Tatsache, den Gedanken, dass ich mich früher oder später für eine Milonga werde zusammenreißen müssen, hatte ich bis zu diesem Abend in den Hintergrund geschoben, wie eine drohende Notwendigkeit, eine rituelle Initiierung, wenn der Vorhang aufgeht, wenn man das erste Mal auf die Bühne tritt, sich präsentiert, entblößt, zeigt, wer man ist und was man kann. Zum Tanguero wird… Ein letzter Blick in den Spiegel, ob ich den strengen Regeln eines Tango-Herrn entspreche. Dann machte ich mich auf den Weg.
Bereits von weitem hörte ich die Tangomusik, wie sie sich einladend und verführerisch über den Korridor zog, meinen Ohren schmeichelte. Und wie ich so in Richtung Tanzsaal schritt, verspürte ich in mir noch immer den ermüdenden Kampf zwischen den beiden Wünschen: weiterzugehen oder lieber umzukehren… Noch bevor ich es mir noch einmal überlegen konnte, stand ich vor der offenen Tür zum Tanzsaal, trat ein, und erblickte Menschen tanzen.
Ich musste alle meine verfügbaren Kräfte mobilisieren, um möglichst entspannt auszusehen. Ich setzte mich auf den ersten freien Stuhl, der in der Reihe am Rande der Tanzfläche stand. Eine lächelnde Maske überdeckte vollkommen mein gesamtes stürmisches und schwankendes Inneres. Meine Herzfrequenz hätte nur ein erfahrener Graf Dracula, der aufmerksame Jäger auf pulsierende Halsadern, bemerken können. Mein Gesicht war überzogen mit einem aus der Achillessehne gezogenen Erscheinungsbild Paul Newmans aus dessen heftigsten Höhepunkten der spannungsvollen Gelassenheit. Kurzum, dort saß ich nun, halb angelehnt mit dem Rücken an den Stuhl, halb in Alarmbereitschaft, die Beine und Hände lässig am Körper wissend, ohne meine Absichten offenzulegen, die Moskauer Tango Szene mit dem erfahrenen Blick eines Tangueros musternd, einem