Lena Clostermann

Empty Souls


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Kleine dachte, als er die »Wahl« hatte. Es gibt keine Wahl. Es wird niemals eine geben. Lieber sterben, als eine leblose Hülle zu sein.

      Die Tür fällt zu.

      Stille. Mein Blick wandert über den Boden. Zweimal einatmen, zweimal ausatmen.

      »Ich werde nicht noch einmal zuschauen, wie ein Unschuldiger umgebracht wird«, sage ich voller lodernder Wut, und es ist das erste Mal seit zwei Jahren, dass man mir meinen Zorn anhört.

      Ich schaue ihn an, und er schaut mich an. Ich sehe, wie er schwer schluckt und mir in die Augen schaut.

      »Das, was da gerade passiert ist, das war … unbeschreiblich schrecklich. Doch mach dir keine Vorwürfe. Du musst mit mir kommen, um zu kämpfen. Um darum zu kämpfen, dass so etwas nicht mehr geschieht. Wir brauchen dich.«

      Alles ist aus Eis, so kalt, das mir der Atem gefriert. Er ist tatsächlich wach und ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. »Wer bist du?« Das ist alles, was ich herausbekomme. Meine Hände sind nass vor Schweiß.

      »Dylan. Mein Name ist Dylan Takes.«

      Dylan.

      Dylan Takes.

      Ein Name.

      Ein richtiger Name.

      Er lächelt. Wann habe ich zum letzten Mal jemand lächeln gesehen?

      Ich sehe ihm in die Augen. Grün. Dunkelgrün. Ich sehe seine und meine Hoffnung in seinen Augen. Ich sehe Gefühl darin.

      Wahrhafte Emotionen.

      Abrupt schlinge ich meine Arme um ihn. Er scheint zuerst nicht zu verstehen, doch dann legt er seine kräftigen Hände um mich. Zum ersten Mal fühle ich mich für einen winzigen Moment sicher. Ich fühle mich in diesen Moment wieder wie ein Mensch. Ich vertraue ihm, obwohl es ziemlich riskant ist, aber ich tue es.

      »Darf ich deinen Namen auch erfahren?«, flüstert er nahe an meinem Ohr.

      Wir lassen einander los. Er hält meine Hand. Er hält sie, und ich will, dass er sie nie wieder loslässt.

      »Ava«, flüstere ich unter Tränen, Tränen, die lautlos und warm über meine Wangen laufen.

      Es fühlt sich so gut an, etwas zu fühlen.

      – Dylan –

      Sie fasziniert mich auf eine Weise, die ich im Moment nicht begreife. Ich halte ihre Hand. In diesem Moment holt sie mich von diesem Ort weg. Sie hat mich für eine Sekunde vergessen lassen.

      »Ava, du kannst mit mir kommen. Ich bin nicht einfach so hier gelandet. Es war geplant.«

      »Bist du verrückt? Sie hätten dich erwischen können!«

      »Haben sie aber nicht. Hör mir zu. Ich habe eine kleine Gruppe dort draußen. Sie werden uns helfen, hier rauszukommen.«

      Sie sieht geschockt aus, aber auch glücklich, traurig und verwirrt zugleich, was ihr nicht zu verdenken ist. Gerade eben haben wir eine entsetzliche Szene miterlebt, wobei ich noch jetzt vor Wut schreien könnte.

      Und dann komme ich um die Ecke und reiße ihr den Boden unter den Füßen weg. Wer hätte gedacht, dass gerade sie eine von uns ist?

      Ich habe es nach dem Nahkampftraining vermutet. Davor wollte ich sie nur tot sehen. Unglaublich, wie sie zwei Jahre hier überstehen konnte. Ich bin schon nach ein paar Tagen an meine Grenzen gestoßen.

      »Dylan, wie viele seid ihr?«, fragt sie.

      »Mit mir sind wir zu fünft, aber es gibt bestimmt noch mehr Wache, da bin ich mir sicher.«

      Sie blickt skeptisch. Sie muss sich darauf einlassen. Ich kann sie nicht hierlassen. Nein, ich werde sie nicht hierlassen. »Du musst mir vertrauen, Ava. Wir brauchen dich. Du bist eine außergewöhnliche Kämpferin. Und du wirst die anderen auch mögen.«

      Ihre Mundwinkel bewegen sich ganz langsam nach oben. Endlich ein Lächeln. Ein Lächeln, das mir die Seele wärmt.

      »Wann?«, fragt sie.

      Nun lache ich auch. Ich mag sie jetzt schon.

       Sie ist nicht die, für die ich sie gehalten habe.

       Wach.

       Genau das ist sie, und ich hätte nie erwartet, dass man es so gut verbergen kann. Sie muss grausame Jahre in der Einheit verbracht haben. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es ihr innerlich geht, doch jetzt bietet sich ihr ein Ausweg. Es würde uns einen großen Schritt weiterbringen, sie in unserer kleinen Gruppe zu haben. Nur weiß ich noch nicht, wie genau wir hier rauskommen sollen. Der Gedanke daran macht mir im Moment echt zu schaffen. Zudem läuft mir die Zeit davon, aber ich werde schon dafür sorgen, dass wir beide hier wegkommen.

      Mein Körper reißt mich mit einem Zucken aus dem Schlaf. Ich öffne ruckartig meine schweren Augenlider, denn ich kann mich einfach nicht an diese schrill tönende Sirene gewöhnen. Und dazu kommt noch, dass dieser Overall unerträglich kratzt. Ich will meine richtige Kleidung wiederhaben. Die Sachen waren zwar dreckig und mit Löchern übersäht, aber sie sind viel bequemer als der Overall. Verdammt, ich hasse dieses Ding dermaßen! Ich bemerke neben mir eine Bewegung und weiß bereits, dass Ava sich nun fertig machen wird, um ihre Maske aufrechtzuerhalten. Genau das sollte ich auch versuchen, bevor jemand auf die Idee kommt, mich auszuliefern oder gar zu erschießen.

      Wir sind auf den Weg zur Plane, wo der Oberste das Wort erhebt. Ich schaue auf den Boden, dann in den Himmel. Ich spüre, wie Ava mich unauffällig beobachtet. Was sie sich wohl denkt?

      »E0225, weißt du eigentlich, wie groß die Plane ist?«, frage ich, um ihr zu zeigen, dass sie nicht mehr allein ist.

      Ich bin jetzt da. Ich bin da, um zu helfen.

      Sie schaut mich an, und in ihrem Blick ist eine gewisse Wärme. »Ich weiß nicht recht, E0489, aber sie ist gigantisch.«

      Ich muss ein Lächeln unterdrücken.

      Was für eine Ironie.

      Wir kommen zum Stehen. Ich schaue für einen Sekundenbruchteil zu Ava hinüber, doch ihr Blick ist starr auf die Rednertribüne gerichtet.

      Nun steht uns wieder ein Theorieteil bei G40 bevor. Wir sind in einem kleinen Raum, der mich an einen Klassenraum von früher erinnert, doch hier ist alles viel moderner. Es gibt auch hier keine Farbe, alles ist nur weiß und grau.

      Ich setze mich neben einen Jungen aus meinem Abschnitt und sehe mich instinktiv nach Ava um. Sie sitzt am anderen Ende des Raums. Plötzlich schwingt die Tür auf und G40 betritt den Raum. Alle stehen auf, salutieren und warten, bis sie sich wieder setzen dürfen.

      »Setzt euch, Soldaten!«, sagt G40, und wir setzen uns augenblicklich.

      »E0225 und E0489, auf ein kurzes Gespräch. Sofort.« G40 zeigt auf die Tür, die zum Nebenraum führt.

      Ich spüre, wie mein Herz anfängt, schneller zu schlagen. Weiß er über uns Bescheid?

      Ava steht auf und macht sich auf den Weg. Ich tue es ihr gleich und folge beiden in den anderen Raum. G40 schließt die Tür und gibt uns zu verstehen, dass wir uns auf die zwei freien Stühle vor dem Pult setzen sollen. Er selbst nimmt hinter dem Pult Platz.

      Zunächst herrscht eine unangenehme Stille. Dann holt G40 tief Luft und sagt: »Ihr habt die Wahrheit verdient. Verurteilt mich nicht gleich, sondern hört mir bitte bis zum Schluss zu.«

      Auf einmal ist er nicht mehr der strenge Ausbilder, sondern ein Mann, der zu wenig geschlafen hat und irgendwie versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen, ein gewöhnlicher junger Mann, der uns etwas mitteilen möchte. Im selben Moment weiß ich, dass er ebenfalls wach ist. Ich sehe es an seiner plötzlich veränderten Mimik, an der Haltung, der Art, wie er gerade geredet hat.

      »Sie sind wach«, stelle ich fest.

      Ich bin mir hundertprozentig sicher, doch ich merke erst jetzt, dass ich es laut ausgesprochen habe,