Rainer Sörensen

Seelenreise


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der persönlichen Daten gibt. Zunächst aber soll die Wechselwirkung zwischen dem materiellen Gehirn und der immateriellen Welt beschrieben werden.

       Randnotiz:

      Computer-Analogie: angenommen, das physische Gehirn sei der Arbeitsspeicher (Random Access Memory RAM). Beim Ausschalten des Arbeitsspeichers werden die Daten gelöscht. Was geschieht beim Hirntod? Wo ist die Biografie gespeichert?

      Wenn das Ich die Sprache verliert

      Was ein Wort bedeutet, kann ein Satz nicht sagen.

      Ludwig Wittgenstein

      Visuelle Eindrücke sind sehr verstärkt,

      und das Auge gewinnt einiges von der unbefangenen

      Wahrnehmungsweise der Kindheit wieder,

      in welcher das durch die Sinne Wahrgenommene

      nicht sogleich und automatisch

      dem Begriff untergeordnet wurde.

      Aldous Huxley

      unter Einwirkung von Meskalin

      Eine Grenzlinie zwischen physischem Gehirn und der immateriellen Sphäre der Persönlichkeit deutet sich an, wenn, bedingt durch eine Hirnschädigung, die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation beeinträchtigt ist.

      Sprache transportiert Information. Diese Aussage ist vordergründig, denn Information ist nicht gleich Information. Es gibt messbare Information und es gibt Information, die man nicht messen kann. Ein Telefongespräch mag dies verdeutlichen.

      Messbare Information:

      Länge des Gesprächs: 25 Sekunden

      Anzahl der Wörter: 48

      Nicht messbare Information:

      A: Hör zu, versteh mich nicht falsch, du solltest auf deine Tochter aufpassen. Sie ist da in eine Clique hineingeraten, in der nicht nur Haschisch geraucht wird.

      B: Große Güte, wie recht du hast, sie lässt nicht mit sich reden. Seit zwei Tagen ist sie unterwegs. Ich weiß nicht wo.

      Die nicht messbare Information besteht aus Bedeutungen. Bedeutungen hoher Intensität sind Gefühle. Die Wörter der Sprache transportieren Bedeutungen, dürfen aber mit ihnen nicht verwechselt werden. Wörter sind nur Aufkleber. Poesie ist ein virtuoses Spiel mit Aufklebern, bei der sich die Differenziertheit der Bedeutungen von plumpen Worthülsen und Sprechblasen befreit. Wörter behindern, im Sinne Ludwig Wittgensteins, den Zugang zur geistigen Dimension. Im weiteren Verlauf des Buches wird deutlich werden, dass Bedeutungen ohne Aufkleber, ohne Sprachverfälschung kathartische Wirkung haben.

      Wenn ein Mensch nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung seine normale Sprachfähigkeit verloren hat, diagnostizieren die Mediziner häufig eine Aphasie. Ärzte und Hirnforscher gehen davon aus, dass im Gehirn bestimmte Regionen beschädigt wurden, die für die Sprachfähigkeit verantwortlich sind.

      Das Begreifen von Bedeutungen geht aber bei der Aphasie nicht verloren, denn die Bedeutungen sind nicht im physischen Gehirn gespeichert, sind also von der Hirnschädigung nicht betroffen.

      Wenn Aphasiker sich mitteilen wollen, wissen sie, was sie sagen wollen, können es aber sprachlich nicht ausdrücken, es fehlen nur die Wörter, die Aufkleber. Sprachbildung und Wortfindung sind also Funktionen des materiellen Zentralnervensystems. Poesie, Rhetorik und Linguistik sind im Grenzgebiet zwischen physischem Gehirn und der immateriellen Welt der Bedeutungen angesiedelt.

      Es gibt auch einen physiologischen, nicht krankhaften Abbau der Sprachfähigkeit, der sich im Verlauf des Alterns vollzieht und fälschlich als Intelligenzverlust gedeutet wird. Ebenso wie die Leistung der Sinnesorgane nachlässt, sinkt auch im Zentralnervensystem das Leistungsniveau. Es fällt zunehmend schwer, eine fremde Sprache zu erlernen; selbst in der eigenen Muttersprache kommt es gelegentlich zu Wortfindungsstörungen. Unberührt von normalen Degenerationsprozessen bleibt das erworbene Wissen, der Erfahrungsschatz, der in der Hauptdimension der Persönlichkeit, der immateriellen Sphäre gespeichert ist.

      Randnotiz:

      Junge Menschen brillieren mit Schnelligkeit und Taktik, Senioren mit Erfahrung und Strategie. Die Hochachtung der Weisheit des Alters in asiatischen Kulturen spiegelt die Wechselwirkung zwischen dem physischen Gehirn – gemäß Eccles und Popper „Welt eins“ – und der geistigen Dimension („Welt zwei“). In der üppig gewachsenen „Welt zwei“ des Seniors entsteht ein stimmiges Gesamtwerk, dessen Details vom Junior umgesetzt werden.

      Das Paradoxon der Sprache

       Warum erlernen Kleinkinder rasch, ohne Anstrengung und pädagogische Hilfe ihre Muttersprache?

       Warum beginnt bereits Mitte zwanzig die Fähigkeit zum Spracherwerb nachzulassen? - Obwohl man die Grammatik verinnerlicht und die Literatur der Klassiker gelesen hat.

       Weil die Gedächtnisspeicher gefüllt sind? Weil der Erwerb einer neuen Sprache zu einer Überlastung des Gehirns führt?

       Auch wenn die Überlastungstheorie ein Teil der Wahrheit sein mag, führt sie dennoch in die Irre. Die Lösung des Rätsels ist einfach und deprimierend. Wenn der menschliche Organismus den Höhepunkt der Reife erreicht hat, beginnt bereits sein Abbau, leicht messbar bei der Leistung der Sinnesorgane. Die Fähigkeit zur optischen und akustischen Wahrnehmung nimmt ab, ebenso wie die Leistung der Gemeinschaftseinrichtung der Sinnesorgane, des Gehirns. Gemessen an der Hirnleistung müsste ein Mensch Mitte vierzig auf das Leistungsniveau eines Säuglings zurückgefallen sein. Dies ist nicht der Fall, weil erworbenes Wissen sich individuell und kollektiv dem Abbauprozess entzieht, weil es außerhalb des alternden Organismus angesiedelt ist (s. vorheriges Kapitel). Es existiert immateriell und materiell: in der geistigen Sphäre (Welt zwei / Eccles, Popper) und in materiellen Wissensspeichern der realen und elektronischen Bibliotheken, die der geistigen Welt zugänglich sind (Welt drei / Eccles, Popper).

       Während der Mensch organisch degeneriert, kann er dennoch geistige Höchstleistungen hervorbringen.

      Wenn das Ich

       den Kontakt zur aktuellen Realität verliert

      Wenn ein System reibungslos arbeitet, ist dies kein Ereignis, es ist ein unauffälliger Zustand. Gerät das System bei einem Fehler oder bei einer Beschädigung aus dem Takt, ist man genötigt, die Komponenten zu studieren und erfährt Zusammenhänge, die vorher verborgen waren. Dies gilt auch für das System Zentralnervensystem.

      Nach einem Unfall oder einem schockierenden Erlebnis kommt es vor, dass ein Mensch psychisch entwurzelt ist. Er hat sein Gedächtnis verloren, er weiß nicht, wer er ist, er trifft Menschen, die ihn lieben, die ihn hassen, die ihm etwas mitteilen wollen, die etwas fordern. Er kann nicht sinnvoll reagieren, denn er ist ein Fremder in einem sozialen Umfeld, das er nicht durchschaut.

      Die retrograde Amnesie war Vorlage für eine unübersehbare Anzahl von Hollywoodfilmen. Sie bietet aber auch die Möglichkeit, die Funktion des materiellen Gehirns von der immateriellen Dimension, in der unsere Identität existiert, abzugrenzen. Die Identität verliert den Kontakt zu ihrem materiellen Instrument. Aus entgegengesetzter Perspektive verliert das Gehirn seine geistige Identität.

      Die analytisch wichtige Frage lautet: Was kann das Gehirn ohne biografische Identität?

      Ein Mensch ohne Persönlichkeit ist nicht völlig hilflos. Er kann Treppen steigen, Nahrung zu sich nehmen, ja sogar Auto fahren. Sein Zentralnervensystem funktioniert nur in seiner aktuellen Situation. Das Gehirn ist der „Arbeitsspeicher“, die „Festplatte“ existiert in Sir John C. Eccles' und Sir Karl Poppers „Welt zwei“.

      Es wäre eine ehrenvolle Aufgabe für Neurologen und Neurophysiologen, die Fähigkeiten von Menschen ohne Identität zu registrieren und zu analysieren. Zum Beispiel könnte der Chef der Neurologie einer Universitätsklinik in seiner Eigenschaft als Doktorvater mit der Vergabe zahlreicher