Paul Hartmann Hermann

Könnenwollen I


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      Prolog

      Nichts beeinflusst Schicksal tiefgreifender und nachhaltiger als Krankheit. Gelegentlich macht auch das Schicksal krank. Wie gehen Menschen damit um, und wer entscheidet, wann Gesundheit aufhört und Kranksein beginnt? Diese Frage beantwortet nicht alleine der Arzt, sondern auch der Patient selber. Der eine könnte noch, will aber nicht mehr. Sein Zipperlein weitet sich zum Leiden aus. Der andere kann nicht mehr richtig, müht sich aber redlich. Er will noch mit dazu gehören. Die hier präsentierten dreißig Episoden greifen dieses Spannungsfeld auf. Es geht um Leid und Wünsche, Geduld und Geld, um große und kleine Helden oder Schurken auf der Seite der Patienten, aber auch bei den Ärzten. Die Grundlage der ärztlichen Kunst besteht im Untersuchen nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele und des sozialen Umfelds der Patienten. Das erfordert viel Zeit, die heutzutage kaum ein Arzt hat. Bei gleichen Ausgangsbedingungen können so ganz unterschiedliche sozialmedizinische Beurteilungen entstehen. Die hängen nicht nur davon ab, was den Patienten quält und was er erzählt, sondern auch von der Tagesform des Arztes. Dargestellt werden die Grenzen der Medizin, die Insuffizienz ärztlichen Handelns, fatale Ignoranz im Banne der medizinischen Spezialisierung sowie Quacksalberei und mangelnde Erfahrung vor dem Hintergrund von Ressortdenken. So entsteht schlaglichtartig ein Sittengemälde unseres derzeitigen medizinischen Versorgungssystems.

      Dr. K. ist ein Arzt, der den Zenit seiner beruflichen Karriere überschritten hat. Er befindet sich in einem Alter, in dem andere schon längst ihren Altersruhestand pflegen. Er hat den harten Praxisalltag hinter sich gelassen. Geblieben ist ihm der Gutachterjob. Jetzt steht ihm mehr Zeit denn je zur Verfügung, um ausführliche Anamnesen zu erheben. Dabei entdeckt er das eingehende Gespräch mit dem Patienten als Diagnoseinstrument für sich neu. Und es befallen ihn aber auch Zweifel, ob er mit seiner Einschätzung zum Könnenwollen immer ganz richtig liegt.

      Die in diesem Buch erzählten Fallbeschreibungen entstammen der Wirklichkeit und der Fantasie des Autors. Einige Episoden sind so passiert, andere sind ausgedacht, haben aber immer einen realen Bezug. Alle Geschichten sind hinsichtlich Name, Ort und Handlung so verfremdet, dass die Persönlichkeitsrechte der Akteure strikt gewahrt bleiben. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind Zufall und nicht gewollt.

      1. Lerchen-Syndrom

      Dieser Patient sammelte gleich am Anfang Minuspunkte bei K. Er schlurfte über das sorgsam gepflegte alte Eichenholzparkett. Man hörte und sah es ganz deutlich. Jeder Schritt bedeutete einen Kratzer in K.s Wertemuster, in dem der Respekt vor altehrwürdiger Bausubstanz einen hohen Stellenwert genoss.

      Irgendwie bemerkte der Patient K.s skeptischen Blick und die hochgezogenen Augenbrauen. „Ich habe keinen Parkplatz gefunden. Ich musste ungefähr zweihundert Meter laufen“, sagte er und ließ sich in den Stuhl fallen.

      Ja und, zweihundert Meter, was ist das schon, dachte sich K. und musterte den kleinen dürren Mann etwas näher. Luftnot schien ihn nicht zu plagen. Er hatte ein Kurzarmhemd an. Aus den Ärmeln ragten Ärmchen hervor, braun gebrannt, aber dünn, sehr dünn, wie Hähnchenschenkel. Die mickrigen Muskelpartien vibrierten.

      „Ist Ihnen kalt?“, fragte K.

      „Nein, eigentlich nicht.“

      Der Mann kam K. eigenartig abwesend vor. Er schob ein paar Unterlagen rüber. „Ich habe ein Lerchen-Syndrom“, sagte er, so als würde er an einer Erkältungskrankheit leiden.

      „Aha“, parierte K., ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was ein Lerchen-Syndrom sein könnte.

      „Warum sind Sie denn so klapperdürr?“, fragte K. mit gespielter Anteilnahme.

      „Seit ein paar Monaten habe ich keinen Appetit. In der Zeit habe ich knapp zehn Kilo an Gewicht verloren.“

      „Und das bei Ihrer Größe“, staunte K. Der Mann war gerade mal eins sechzig groß.

      „Ja, und vorher kam das mit der Gehbehinderung, schon vor ein paar Jahren. Mir taten die Unterschenkel weh, auch die Oberschenkel. Es war so ein Ziehen. Ich musste nach immer kürzeren Gehstrecken stehen bleiben.“

      „Also so eine Art Schaufensterkrankheit“, sagte K.

      „Ja, so haben es die Ärzte genannt. Gaudiatio interruptus, oder so ähnlich.“

      „Claudicatio intermittens meinen Sie sicherlich.“

      „Ja, richtig.“

      Zwischenzeitlich hatte K. nebenher Lerchen-Syndrom bei Wikipedia eingegeben. Er stieß auf Leriche-Syndrom. Er las, dass der Erstbeschreiber der französische Chirurg René Leriche gewesen war. Es handelte sich dabei um einen vollständigen Verschluss der Bauchschlagader und zwar oberhalb der Stelle, an der sich das wichtigste Blutgefäß beim Menschen in die zwei Beinarterien aufspaltet. Das ist aber mit dem Leben nur schlecht vereinbar, dachte sich K., dem Mann müssten zumindest die Beine abgefallen sein.

      „Das kommt von Ihrem Leriche-Syndrom“, sagte K., nunmehr als Wissender.

      Der Mann schaute ihn traurig an und wurde in seinen Bewegungen leicht fahrig.

      „Rauchen Sie?“, fragte K.

      Es kam ein unsicheres „Ja“ mit einer gequälten Verwindung des Oberkörpers. Natürlich wusste der Mann, dass das inhalative Tabakrauchen der wichtigste Risikofaktor für seine Grunderkrankung war.

      „Wieviel?“ K.s Frage stand schneidend im Raum.

      Der Mann tat so als, wenn er rechnen müsste. „Weniger als zwanzig“, antwortete er.

      „Alkohol und Nikotin rafft die halbe Menschheit hin. Aber: Ohne Schnaps und ohne Rauch stirbt die andere Hälfte auch, pflegte mein Großvater immer zu sagen, wenn er genüsslich an seinem Rotweinglas nippte und sich eine Zigarre anzündete.“ K. wollte mit diesem volkstümlichen Erfahrungsspruch versöhnlich stimmen und vorfühlen, wie es denn mit dem Saufen stand.

      Der Mann reagierte hektisch. „Ich trinke keinen Schnaps.“

      „Und wie sieht es aus es mit anderen alkoholischen Getränken?“

      „Vor Jahren hatte ich mal eine Phase, private Schwierigkeiten, da war es etwas mehr.“

      „Wieviel?“

      Wieder sah es so aus, als wenn er ganz neu kalkulieren müsste. Zögernd kam die Antwort. „So acht bis zehn Flaschen waren es dann doch.“

      „Bier pro Tag?“

      „Ja, nur Bier. Aber nach sechs Wochen stationärem Entzug war ich über den Berg.“

      „Sie meinen, Sie sind seitdem trocken.“

      „Absolut.“

      K. entdeckte in den spärlich vorhandenen medizinischen Unterlagen Angaben zu den Leberenzymaktivitäten. Sie waren leichtgradig erhöht, was nicht unbedingt für übermäßigen Alkoholkonsum sprechen musste. Das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen, kurz MCV, lag jedenfalls im oberen Streubereich der Norm. Erhöhungen dieses Parameters weisen auf einen schon länger bestehenden Alkoholabusus hin. Letztlich war es auch egal, ob der Mann soff. Entscheidend für die Gefäßerkrankung war das Rauchen.

      Bei dem Patienten war nicht nur die Aorta verstopft, sondern auch eine Nierenarterie. Die Blutzufuhr zur kontralateralen Niere war nur dadurch einigermaßen gesichert, weil es sich hier um eine Gefäßanomalie mit einer arteriellen Doppelversorgung handelte.

      „Sie haben noch etwas Glück im Unglück gehabt. Sie haben die chronische Variante des Leriche-Syndroms. Der Verschluss in der Bauchschlagader hat sich schleichend entwickelt. So hatte Ihr Arteriensystem Gelegenheit, Umgehungskreisläufe zu entwickeln. Der Radiologe beschreibt in seiner Magnetresonanz-Angiographie Kollateralenbildungen über die Bauchwand- und die Lumbalarterien. Das ist aber letztendlich so, als wenn es beim Wasserwerk keine Hauptleitung gibt, sondern das ganze Wasser ab dem Ursprungsort über dünne Rohre zum Verbraucher geleitet wird. Das kommt schon an, aber halt langsamer und mit weniger Druck.“

      Als sich der Mann auszog, damit K. ihn untersuchen konnte, zeigte sich ein erbärmliches