Paul Hartmann Hermann

Könnenwollen I


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lag trotz Untergewicht bei 210/120 mmHg. Die Fußpulse waren nicht mehr tastbar.

      Ich muss aufpassen, dass mir der hier nicht in meiner Praxis abschmiert, dachte sich K. und ging ganz behutsam vor. „Machen Sie langsam, ich habe viel Zeit“, beruhigte er.

      Nachdem sich das Häuflein Elend wieder angezogen hatte, nahm der Mann die Stufen zwischen Untersuchungsraum im Souterrain und Besprechungszimmer im Erdgeschoss recht zügig. Das gelang aber nur dadurch, dass er sich am Handlauf hoch zog. Oben aber musste er sich sofort hinsetzen, weil ihm die Beine den Dienst versagten.

      „Es ist völlig illusorisch, dass Sie wieder arbeitsfähig werden“, stellte K. fest. „Es ist für mich sowieso schleierhaft, wie Sie so lange Ihren Job als Lagerist durchhalten konnten. Da hilft nur noch eine Operation.“

      „Die Wegstrecken im Lager waren nicht so lang. Ich bin auch viel Stapler gefahren. Wenn schwere Sachen zu heben waren, dann hat man mir geholfen.“

      „Warum sind Sie denn erst so spät zum Spezialisten gegangen? Sie kennen doch schon seit Jahren Ihre Grunderkrankung.“

      „Mein Hausarzt hat gesagt, dass wir das schon hinkriegen würden.“

      „Wissen Sie was, möglicherweise ist es jetzt zu spät. Ihre Appetitlosigkeit kommt von der Minderdurchblutung Ihrer Darmgefäße. Sie sind dadurch an den Rand einer Kachexie gekommen, denkbar schlechte Voraussetzung dafür, eine Operation zu überstehen. Bei Ihnen muss eine sogenannte Y-Prothese eingesetzt werden, das heißt, es wird der verstopfte Teil der Aorta mit den daran hängenden Anfangspartien der Beinarterien durch ein künstliches Gefäßstück ersetzt. Was nicht ganz ungefährlich ist. Durch die plötzlich wieder ungehinderte Durchblutung kann sich ein sog. Postischämiesyndrom entwickeln. Dabei kommt es zum Schock oder zum Nierenversagen. Ich weiß nicht, ob Sie einen Gefäßchirurgen finden, der sich bei Ihrem Ernährungszustand an eine so schwierige Operation heran wagt.“

      Obwohl, dachte sich K., irgendwo gibt es immer einen Chirurgen, der sich so mächtig fühlt, dass er das Risiko eingeht, der Patient muss nur ja sagen. Doch im vorliegenden Fall bezweifelte K., dass seitens des Patienten Bereitschaft für einen operativen Eingriff bestand. Der Mann würde sich draußen erst mal eine Zigarette anzünden und zu Hause einen Schluck aus der Pulle nehmen. Und K. konnte ihm das bei der schlechten Prognose auch gar nicht verübeln.

      Wenn er doch nur die Fersen etwas anheben könnte, wünschte sich K., als der Mann aus der Praxis hinaus hatschte.

      2. Sternhagel

      Der Mann war groß, kräftig und braun gebrannt. Die leicht gelockten brunetten Haare hatte er streng nach hinten gekämmt. Durch die tiefen Geheimratsecken entstand der Eindruck einer flach gelegten Irokesenfrisur. Der Bart war nach Manier eines D’Artagnan gestutzt. Er hatte eng anliegende Handschuhe an, blau und teilweise mit abgeschnittenen Fingerenden. Er trug nagelneue Sneaker von Ascis und lief irgendwie schwer.

      „Wir wohnen direkt am Waldrand“, sagte er. „Das ist ideal für unsere Hündin, ein Weimaranerweibchen. Nur ein paar Schritte, und sie ist in der Natur. Sie ist die ganze Zeit dabei herumzuschnüffeln und Fährten aufzunehmen. Ein Paradies. Und dann kam die kälteste Nacht des Jahres. Es hatte noch dazu ausgiebig geschneit. Der Schnee, das war etwas völlig Neues für sie. Sie spielte damit, warf Schneeschollen mit ihrer Schnauze nach oben, leckte das Eis und war außer Rand und Band. Als ich in unser Haus zurückkehrte, hatte sich meine Frau bereits zu Bett begeben. Sie hatte schon den ganzen Tag lang über Migräne geklagt. Ich setzte mich vor den Fernseher, es lief Wetten dass. Als die Sendung rum war, ging ich auf die Terrasse, um noch eine zu rauchen. Ich schaute hinauf zum Himmel und war überwältigt von der Sternenpracht. Noch nie hatte ich so viele Lichter am Firmament gesehen. Die Streustrahlung der zwei Großstädte in der näheren Umgebung war in dieser Nacht geringer als sonst. Ich schaute auf das Außenthermometer. Es zeigte minus 21 Grad an. Und da kam mir die romantische Idee, in dieser hinreißenden Nacht noch einen Spaziergang zu machen. Ich zog mich also warm an und nahm einen Schluck aus der Flasche, um sozusagen auch etwas innere Wärme zu tanken.“

      „Was war das denn für eine Flasche?“

      „Es war ein Zwetschgenschnaps. Die Flasche stand schon ewig bei uns in der Vitrine. Ich trinke so gut wie nichts, höchstens zu Geburtstagen oder zu Weihnachten, aber auch dann nicht mehr als ein, zwei Gläser Bier oder Wein.“

      „Und was war Ihr Plan?“

      „Ich hatte keinen richtigen Plan. Da war nur das Bedürfnis nach Naturerleben. Mein Vater war Angler und mein Großvater war Jäger. Die Naturverbundenheit liegt mir im Blut. Ich nahm also noch einmal den Weg, den ich vorher mit dem Hund gegangen war. Der Himmel war unbeschreiblich.“

      „Und wo war die Schnapsflasche?“

      „Die hatte ich in die Manteltasche gesteckt, für unterwegs. Vielleicht noch einen Schluck zum Aufwärmen.“

      „Was war das denn für eine Flasche, ein kleiner Flachmann?“

      „Nö, wie soll ich sagen, das war eine normale Schnapsflasche mit 0,33 Litern Inhalt.“

      „Okay, eine ungewöhnliche Größe. Und was passierte dann?“

      „Am Ende des Parcours befindet sich eine Bank. Auf die habe ich mich gesetzt und fasziniert den Sternenhimmel betrachtet.“

      „Wie viele Kilometer ist denn die Bank von Ihrem Haus aus entfernt?“

      „Das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht einen Kilometer oder zwei.“

      „So, und dann haben Sie noch einmal in die Flasche geschaut.“

      „Kann sein, dass ich einen weiteren Schluck genommen habe. Jedenfalls ist die Bank das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Erst drei Tage später wachte ich auf. Ich lag auf der Intensivstation.“

      „Was war in der Zwischenzeit passiert?“

      „Ich weiß es nicht genau. Ich kann mich nur auf die Aussagen von anderen Personen stützen. Ein Spaziergänger fand mich am nächsten Morgen im Wald. Ich lag im Schnee. Auf meiner Jacke fand sich Erbrochenes. Das sprach für eine Gehirnerschütterung.“

      „Eine Gehirnerschütterung? Hat man denn eine Kopfverletzung gesehen?“

      „Da war gar nicht nachgeschaut worden.“

      „Mh, wissen Sie, was eine ziemlich sichere Methode ist, einiger maßen kommod aus dem Leben zu scheiden?“

      „Nein.“

      „Sie lassen sich volllaufen und gehen dann in die Kälte hinaus. Zunächst sorgt der Alkohol dafür, dass Ihre Haut besser durchblutet wird. Sie fühlen sich trotz Minustemperaturen behaglich. Die Wärmezufuhr aus dem Körperinneren erschöpft sich aber. Im weitern Verlauf kommt es unweigerlich zur Unterkühlung. Müdigkeit und Benommenheit begünstigen einen unkritischen Umgang mit der prekären Situation. Man legt sich hin und wenn man aufwacht, ist man tot.“

      „Interessant, das wusste ich bislang noch nicht. In der Klinik stellten sie aber fest, dass ich mir große Blutergüsse an meiner linken Flanke zugezogen hatte. Zusammen mit der Gehirnerschütterung sprach das alles für einen Sturz. Irgendeine Spurrinne oder ein Ast unter der Schneedecke.“

      „Wie auch immer, es ist nicht meine Aufgabe Kausalanalysen durchzuführen. Wie ging es weiter?“

      „Der Spaziergänger informierte die Notrufzentrale. Der Notarzt versuchte, mich zu reanimieren, beziehungsweise meinen darniederliegenden Kreislauf wieder anzukurbeln. Es kam zu Komplikationen, weil vermehrt kaltes peripheres Blut in die zentrale Blutbahn gelangte. Das senkte die Körperkerntemperatur noch weiter ab. Sie sagten mir, dass die bei 23 Grad gelegen hätte. Es trat mehrfach Kammerflimmern auf. In der Intensivstation wurde ich in ein künstliches Koma versetzt und an so eine Art Herz-Lungen-Maschine angeschlossen.“

      „Das war sicherlich die extrakorporale Membranoxygenierung. Damit kann man den Körper mit Sauerstoff versorgen und das angefallene Kohlendioxid ableiten. Außerdem gelingt die langsame Steigerung der Körperkerntemperatur. Da haben Sie aber Glück