Paul Hartmann Hermann

Könnenwollen I


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wurde nach reichlich vier Monaten eine operative Revision erforderlich. Herr Mast selber kümmerte sich um einen entsprechenden Operationstermin, diesmal jedoch in einer berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Dort wurde die Metallplatte am Schienbein entfernt. Die Bruchenden wurden angefrischt, es wurde Knochenmaterial aus dem Beckenkamm eingebracht und dann wurde eine neue Metallschiene an der Außenseite des Schienbeins verschraubt. Eine Schraube spießte sich in den Frakturbereich. Dadurch wurde auf der anderen Knochenseite eine große Kortikalisplatte abgesprengt. In gleicher Sitzung versuchte man, die Kontinuität der rupturierten Fußhebersehne wieder herzustellen. Vergeblich, wie sich erst sechs Wochen später nach Abnahme des Unterschenkelgipses herausstellte. Die CT-Aufnahmen zeigten außerdem eine ausgeprägte Inaktivitäts-Osteoporose in den Fußwurzelknochen.

      Infolge des dramatisch vergrößerten Frakturbereichs am Schienbein verzögerte sich die knöcherne Konsolidierung. Es bildete sich ein monströser Kallus heraus. Auf dem Röntgenbild nicht schön anzuschauen, nach außen hin jedoch nicht sichtbar. Dieser Knochenwulst würde in Zukunft keine Beschwerden machen. Dort würde garantiert auch nichts mehr brechen. Aber die Fußheberschwäche, die würde ihn bis ins Grab begleiten.

      Herr Mast war eine sportliche und gepflegte Erscheinung im besten Mannesalter mit einem angenehm einnehmenden Wesen. Der rechtsseitig schlurfende Gang mit dem Aufplatschen der Schuhsohle auf dem Parkett zog aber mitleidige Blicke magisch an. Schade, dass der hinkt. Mast litt unter diesem, wie er fand, falschen Mitleid. Seine ursprüngliche Selbstsicherheit war weg. Er fühlte sich innerlich wie äußerlich als Krüppel. Immer wieder kamen Selbstzweifel und Existenzangst hoch. Aber es ist doch nur der eine Fuß, sagte er sich, antizipierte diese Erkenntnis aber nicht. Er schlief schlecht. Sein Hausarzt faselte irgendetwas von einer posttraumatischen Belastungsstörung oder doch zumindest einer reaktiven Depression. Er verfluchte das Motorradfahren. Er verfluchte die BMW. Und er verfluchte den Tag, an dem er dieses Ding erstanden hatte. Dieses Hobby hatte ihm einen erklecklichen Teil seines Seelenfriedens und seiner Lebensqualität genommen.

      4. Sitzprotest

      Sie war Busfahrerin in einem Unternehmen, welches im Auftrag der städtischen Verkehrsbetriebe im Linienverkehr fuhr. Das war für den kommunalen Betrieb billiger, als eigene Fahrzeuge und Mitarbeiter einzusetzen und steigerte die Flexibilität. So die Standardargumente, wie in allen Outsourcingprojekten.

      Ihr Arbeitgeber, die Firma Alltrans, hatte ihr fristgerecht gekündigt. Darauf hin strengte Frau Albrecht, so hieß die Busfahrerin, eine Kündigungsschutzklage vor dem zuständigen Arbeitsgericht an. In der mündlichen Verhandlung begründete der Rechtsanwalt der Firma Alltrans den Rausschmiss mit den häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten der Frau Albrecht. Es sei auch in Zukunft davon auszugehen, dass sie pro Jahr deutlich mehr als sechs Wochen krankheitsbedingte Fehlzeiten haben würde. Bestärkt wurde der Anwalt durch die Einschätzung des Integrationsamtes. Danach wäre das Interesse des Arbeitgebers an einer Kündigung höher einzuschätzen, als das Interesse der Klägerin an einer Weiterbeschäftigung.

      Die Kündigungsschutzklage hatte Erfolg. Es seien keine prognoserelevanten Krankheiten zu erkennen, die längere Arbeitsunfähigkeitszeiten begründen könnten, erklärte das Gericht. Zwar hatte der Hausarzt der Frau Albrecht ein schwerwiegendes Wirbelsäulensyndrom und eine Immundefizienz mit gehäuft auftretenden Infekten der oberen Luftwege attestiert und dadurch entgegen der ursprünglichen Absicht dem Arbeitgeber Munition für die allerdings erfolglose krankheitsbedingte Kündigung geliefert. Das Arbeitsgericht stufte die bandscheibenbedingte Wirbelsäulenerkrankung aufgrund der deswegen aufgelaufenen Fehlzeiten aber als nicht so schwerwiegend ein. Und die anderen Erkrankungen wären unvermittelt und episodisch aufgetreten und könnten längere Fehlzeiten in der Zukunft nicht zuverlässig begründen. Frau Albrecht musste zu alten Konditionen wieder eingestellt werden.

      Hiergegen legte die Firma Alltrans Berufung vor dem Landesarbeitsgericht ein. Immerhin waren in den vergangenen fünf Jahren zwischen 25 und 62 Tagen pro Jahr Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgelaufen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber hatte sich auf reichlich 30.000 Euro aufsummiert

      K. wurde durch das Landesarbeitsgericht zum medizinischen Sachverständigen bestimmt. Als er die Gerichtsakten durchsah, fiel ihm auf, dass darin so gut wie keine ärztlichen Unterlagen enthalten waren. Das Vorgericht hatte sich in seinem Urteil ausschließlich auf das Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse gestützt. Daraufhin bat er die Rechtsanwältin von Frau Albrecht darum, möglichst alle Behandlungs- und Befundberichte zusammenzutragen. Er wolle sich ein umfassendes Bild über den Gesundheitszustand der Busfahrerin machen. Es dauerte sechs Wochen, bis er entsprechende Post erhielt. Übersandt worden waren einige belanglose Arztberichte u. a. über eine Krampfaderoperation und die Spaltung eines Schweißdrüsenabszesses. Unterlagen über die Haupterkrankung—angeblich mehrere Bandscheibenvorfälle, so stand es jedenfalls in den Schriftsätzen des Anwalts der Firma Alltrans—, wurden keine vorgelegt.

      Einen ersten eingeräumten Untersuchungstermin ließ Frau Albrecht durch ihre Mutter absagen. Die Terminierung sei zu kurzfristig erfolgt, war die einzige Begründung. Zum zweiten Termin erschien sie überpünktlich. K. saß eine übergewichtige, distanzlos lächelnde 28-jährige Frau gegenüber. Die Erhebung der Vorgeschichte war durch selektive Erinnerungslücken der Probandin erheblich erschwert. Wegen der langen Antwortpausen war K. dicht dran, dass ihm der Gedultsfaden riss.

      „Wann ging das denn los, mit den Rückenbeschwerden?“

      „Das weiß ich nicht mehr.“

      „Aber ein Bandscheibenvorfall kann ein derartig einschneidendes Ereignis sein, das merkt man sich doch, wo und wann der aufgetreten ist.“

      Achselzucken.

      „Sind Sie denn mal beim Orthopäden gewesen?“

      „Nö. Mein Hausarzt hat mich behandelt.“

      „Und, was hat der gemacht?“

      „Spritzen, glaube ich und Tabletten.“

      „Was für Spritzen?“

      „Weiß ich nicht. Das ist schon so lange her.“

      „Sind Bilder gemacht worden, also Röntgenaufnahmen oder CT- oder MRT-Bilder?“

      Achselzucken und ein breites unplatziertes Lachen. Die verarscht mich, dachte sich K. Aber warte nur, dich kriege ich noch.

      „Hier steht für das Jahr 2010 eine zweimonatige Arbeitsunfähigkeitszeit mit der Begründung somatoforme Störung. Was war denn da los?“

      Schweigen und angestrengtes Grübeln. „Das ist schon so lange her.“

      „Das ist gerade mal zwei Jahre her. An so etwas erinnert man sich doch.“

      „Ich weiß nicht.“ Und wieder dieses unverschämte Grinsen. So dämlich ist die gar nicht. Die ist zwar ein bisschen doof, aber ein bisschen schlau ist sie auch, stellte K. fest.

      Sie nahm ihr Smartphon zur Hand und öffnete den Bildspeicher. Und jetzt brach es aus ihr raus. „Das ist mein Arbeitsplatz im Bus.“ Das Bild zeigte einen einen normalen Fahrersitz. „Hier sehen Sie, wie ausgesessen der ist. Wenn man drauf saß, spürte man die Metallfedern. Und das hier, das bin ich.“ K. sah Frau Albrecht, wie sie auf der Vorderkante des Sitzes saß, ohne Kontakt zur Rückenlehne zu haben. „Der Sitz ließ sich nicht mehr verschieben. Und das ist ein verrutschter Hebel für die Verstellung des Lenkrads. Der bohrte sich in mein Knie, bis es blau war.“ Triumphierend schaute sie K. an. „Immer wieder habe ich darum gebeten, dass diese Sachen repariert werden. Aber es ist nichts passiert.“

      „Und da haben Sie sich krank gemeldet?“

      „Ja, mein Rücken tat mir weh. Außerdem wollte ich eine Befreiung vom Wochenenddienst haben. Die habe ich aber nicht gekriegt.“

      „Warum waren Sie denn die letzten anderthalb Jahre nach Ihrer Wiedereinstellung nicht mehr wegen Ihrer Rückenbeschwerden krank?“

      „Ich fahre jetzt geteilte Schicht, d. h. nach vier Stunden Fahrzeit habe ich sechs Stunden Pause. Außerdem kann ich an der Endhaltestelle den Bus für ein paar Minuten verlassen und rumlaufen.“