Paul Hartmann Hermann

Könnenwollen I


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vom Handelnden zum Behandelten. Dabei lernt man einige Dinge neu, z. B. Geduld, Demut und Vertrauen in das Tun anderer. Man lernt auch eine Menge neue Leute kennen, denen man Sachen erzählt, die man normalerweise niemals preisgeben würde, z. B. beantwortet man die Frage nach dem Zeitpunkt des letzten Geschlechtsverkehr oder nach der Dicke des Urinstrahls.

      Wenn Kahler seinen Klinikaufenthalt rekapitulierte, dann standen zwei Sachen im Vordergrund. Das eine war die Farbe seines Urins als sensibler Indikator für den Zustand seines Epithels in den ableitenden Harnwegen, und das andere waren die Menschen, die dafür sorgten, dass sich Dunkelrot in Hellgelb verwandelte. Diese Klinikmitarbeiter sind Menschen wie du und ich. Vielleicht bestand bei dem einen oder anderen das Bedürfnis, anderen helfen zu wollen. Dieses Motiv findet man aber auch in anderen Berufsfeldern.

      In der Anmeldung zur urologischen Abteilung, einem fensterlosen und nur spärlich beleuchteten Raum saß eine Dicke und bewachte die Formulare. „Sie dürfen jetzt reinkommen“, sagte sie.

      Dieses Sie dürfen begleitete Kahler bei allen persönlichen Kontakten mit dem Klinikpersonal. Ausgenommen die Ärzte, die bevorzugten eine andere Diktion. Sie sagten einfach würden Sie bitte mal oder so ähnlich. Die Schwestern und Labormäuse gaben sich mit ihrem Dürfen den Anstrich der Servicefreundlichkeit, artikulierten aber das glatte Gegenteil. Sie dürfen bedeutet, ich erlaube dir etwas zu tun. In der Klinik aber ist doch sicherlich gemeint, ich würde mich freuen, wenn du das jetzt machst.

      „Sie dürfen jetzt reinkommen“, schallte das Echo in Kahlers Kopf. Sei nicht so pingelig, sagte er sich, die weiß es nicht anders. Kahler setzte sich behutsam auf den Stuhl. Er spürte den Dauerkatheter in seiner Harnröhre. Er reichte seine Versicherungskarte rüber. Die Dame war wahrhaft mächtig. Sie hantierte im Halbdunkel mit einem Wust von Papieren. Dann gab sie Kahlers Personendaten ins System ein. Der Drucker spuckte einen Bogen mit selbstklebenden Minietiketten aus. Die Etiketten zupfte sie sehr routiniert vom Papier ab und pflasterte damit ihren linken Unterarm. Der verschwand fast vollständig hinter dem Schilderwald. Hier hat die Arbeit die Arbeiterin gefunden, dachte sich Kahler. Nur ein derartig mächtiger Körper mit einer Armoberfläche, groß wie eine Pinwand, ist in der Lage, eine solche Dokumentationstechnik umzusetzen. Wie bei einer Etikettiermaschine flogen dann die kleinen Schildchen auf die Formulare. Als alle Papiere gekennzeichnet waren, stauchte sie den Stapel und schob ihn über den Tisch. „Wo ein Kreuz ist, bitte unterschreiben.“

      Mit Wohlgefallen sah Kahler, dass Titel und Name vollständig und korrekt wiedergegeben waren: Prof. Dr. P. H. Kahler stand da. Er legte zwar keinen übersteigerten Wert auf die akademischen Würden, freute sich aber, wenn sie doch zumindest wahrgenommen wurden. Kahler unterschrieb blind diverse Einverständnis- und Garantieerklärungen. Das konnte man unmöglich in der gebotenen Kürze der Zeit alles durchlesen. Es ging wohl in erster Linie um die Kostenerstattung.

      Die nächste Station war die Erhebung der Eingangsanamnese. Ein Jungkollege, der eine noch jüngere Ärztin im Praktikum im Schlepptau hatte, übernahm diese Aufgabe. Kahler log, dass sich die Balken bogen.

      „Rauchen Sie?“—„Och, gelegentlich, maximal fünf am Tag.“

      „Und wie steht es mit Alkohol?“—„Ein Glas Wein zum guten Essen, vielleicht auch zwei.“

      „Was ist mit Sport?“—„Na klar, regelmäßig.“—„Und was machen Sie da?“—„Ich spiele Golf.“—„Oh.“

      Kahler ärgerte sich, dass er das mit dem Golf rausgelassen hatte, der hierzulande weniger als Sportart und mehr als Bewegungsart wahrgenommen wird. Bei der nachfolgenden Sonographie—das war jetzt bereits die vierte innerhalb von zwei Wochen—meinte Kahler, dass es ihm der Jungmediziner heimzahlen würde, seine schnöselige Golfaffinität. Der steckt mir mehr als einen Finger in den Arsch. So fühlte sich die Untersuchung an. Und nach getaner Arbeit ließ er Kahler mit dicken Schichten von Sonographiegel am Bauch und in der Kimme einfach so liegen. „Sie dürfen sich dann wieder anziehen“, sagte er und outete sich als Mitglied der unteren Servicekaste.

      Kahler fand eine Kleenexrolle und versuchte, mit dem Papier das Gel loszuwerden. Bei seinen hektischen Wischbewegungen schien es aber so, als wenn das glibberige Zeug immer mehr werden würde. Es war jetzt überall. Frustriert zog er sich die Hosen hoch und hatte in der nächsten Zeit das Gefühl, unter sich gelassen zu haben.

      Die Ambulanzschwester drückte ihm einen Stapel Formulare in die Hand und forderte ihn auf, sich auf Station anzumelden. Die befände sich in der zweiten Etage. Prompt erwischte Kahler den falschen Fahrstuhl. Auch die moderneren Krankenhausbauten haben eine unergründliche Logistik und Topographie. Schließlich fand er sie aber doch, die urologische Station, sein Zuhause für voraussichtlich sieben Tage. In einer Art Slalomlauf um die auf dem Gang geparkten Betten erreichte er die Stationszentrale. Er traf dort eine Schwester, die ihre etwas reservierte Haltung ab dem Zeitpunkt änderte, als sie Kahlers Status als Privatpatient erkannte.

      „Sie dürfen den Fragebogen ausfüllen, aber nur die grünen Stellen.“

      Nachdem er getan, wie ihm geheißen, kämpfte sich Kahler wieder durch den Hauptgang zurück in den Wartebereich. Dort fand er einen freien Sitzplatz zwischen einem älteren Herrn im Rollstuhl und einem älteren Herrn, der in einem Bett lag, das man offensichtlich von der OP-Liege bis zum Sandkasten morphen konnte. Überall lugten Schläuche hervor. Alle Gesichter waren kalkweiß. Die Mimiken waren starr. Bald gehörst du dazu.

      Der Fragebogen umfasste sechzehn Seiten. Jetzt wurde noch mal alles abgefragt und wieder log Kahler bei Alkohol und Nikotin. Genauso bescheißen dich deine Patienten, stellte er fest. Das Bronchialkarzinom hat nie geraucht, die Leberzirrhose hat nie gesoffen und der Fettsack hält schon immer Diät ein. Neu waren die Fragen nach Art der Rasur, ob man Gebissträger sei und unter welche Pflegestufe man fallen würde. Als Kahler den Fragebogen wieder bei der Schwester abgab, sagte sie, dass man Bademantel und Toilettenutensilien bei der Wahlleistung Einzelzimmer zur Verfügung gestellt bekommen würde. Wichtig sei aber, dass man eigene Hausschuhe mitbrächte.

      Es vergingen einige wenige Tage, und es kam der Sonntagabend. Kahler quartierte sich in sein Einzelzimmer auf der Urologie ein. Die Henkersmahlzeit ließ er stehen. Eine Adumbran sorgte für Entspannung und ruhigen Schlaf, ein Zäpfchen Dulcolax für die letzte Entleerung vor der Operation.

      „Schwester, bleiben Sie da. Sie müssen aufpassen, dass ich das Ding nicht schlucke.“

      Am nächsten Morgen musste sich Kahler das OP-Hemdchen anziehen. Dieses Kleidungsstück ist nicht nur praktisch, sondern es erfüllt auch die Funktion einer Art Fußfessel, wie Häftlingskleidung. Versuche, mit dem kurzen und hinten offenen Teil zu fliehen, werden in der Regel bereits am Klinikausgang unterbunden.

      Er legte sich in das bereit gestellte High-Tech-Bett und wurde aus dem Zimmer gefahren. An dem Bett ließ sich buchstäblich alles verstellen, Höhe, Neigung, Beinwinkel, alles elektromotorisch, versteht sich. Nur der Ortswechsel geschah nach wie vor mit Körperkraft. Die kleine Stationshilfe kämpfte, um nicht mit dem schweren Gefährt anzuecken. Es konnten auch seitliche Planken hochgefahren werden, um ein Verlassen der Liegestatt zu verhindern und aus dem Bett ein kleines Gefängnis zu machen.

      „Was kostet denn so ein Ding?“, fragte Kahler einen Pfleger, der im Aufzug mitfuhr. „Mindestens 5.000“, sagt der, „aber nur, weil Medizin dran steht. Selbst die einfachen Sitzwagen kosten schon 3.000 Euro.“

      Geparkt wurde zunächst im Aufwachraum. Die Atmosphäre war freundlich, fast familiär und das zahlreiche Personal wirkte relaxed, soweit man das bei angelegtem Mundschutz beurteilen konnte. Kahler wurde schon wieder danach gefragt, ob seine Zähne fest sitzen. Sein Bett wurde noch einen Raum weiter geschoben. Er näherte sich dem eigentlichen Tatort, dem Bereich, der den Operateuren, den Op-Schwestern und den Anästhesisten vorbehalten bleibt, wo der Arzt tatsächlich zum Herrscher über Leben und Tod, oder zumindest doch über Gesundheit und Krankheit wird. In einem späteren Gespräch sollte ihm der Chefarzt sagen, dass man eine so große Abteilung wie die seine, aus dem Operationssaal führen müsse. Und er würde auch sagen, dass Kahlers Wahl, zu ihm zu kommen richtig gewesen sei. Wir operieren doch viel mehr, als die in der Uniklinik, wurde Kahler aufgeklärt.