Paul Hartmann Hermann

Könnenwollen I


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Mannschaft der urologischen Abteilung. Jedenfalls waren alle Schwestern und Schwesternhelferinnen angetreten, die ihn versorgt hatten. „Ihr habt nun alle meinen Pimmel gesehen. Ich fände es nur fair, wenn ich auch etwas zu sehen bekomme“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton.“ Bevor es auch nur ansatzweise zu dieser Aktion gekommen wäre, zerplatzte Kahlers frivole Traumblase in tausend Fetzen und er wachte stöhnend auf. Durch eine ruckartige Körperwendung hatte er einen starken schmerzhaften Zug auf seinen an der Haut angenähten suprapubischen Katheter bekommen. Nichts war es mit dem konspirativen Tipp des erstbehandelnden Urologen, dass man spätestens nach drei Tagen abhauen könnte. Kahler hing durch den Bauchkatheter wie am Angelhaken. Erst wenn der entfernt würde, könnte er wieder frei schwimmen.

      Warum, verdammt noch mal, kümmert sich niemand um meinen Stuhlgang, fragte sich Kahler. Stuhlgang im Krankenhaus ist quasi Privatsache. Es wird ein Riesenbohei um Wahlessen, Zwischenmahlzeit, Obstteller und Schwarz- oder Weißbrot gemacht, dann aber werden Patient und Nahrung allein gelassen. Klar, das hier ist die Urologie und nicht die Bauchchirurgie oder die Gastroenterologie. Aber hallo Leute, der Darm ist größer und mächtiger als die ableitenden Harnwege. Die Oberfläche der Darmschleimhaut hat das Ausmaß der Grundstücksfläche eines Reiheneckhauses und im Darm residiert der größere Teil unseres Immunsystems. Fast das gesamte Serotonin des Körpers wird dort gebildet. Und dieses Organ ist sich auch seiner Macht bewusst. Jedenfalls war das bei Kahler so. Züchtigungsmittel waren massive Blähungen, welche seinen Bauch bizarr auftrieben, verbunden mit Völlegefühl, als wenn sich Findlinge in seinem Bauch eingenistet hätten.

      „Wir führen ab dem zweiten postoperativen Tag ab, erst Bifiteral zum Weichmachen und dann Dulcolax. Das muss acht Stunden einwirken, bis die Darmtätigkeit anspringt“, sagte die Schwester zu Kahler. Er hatte sich hilfesuchend an sie gewendet: „Wenn das nichts bringt, dann könnt ihr mich auf die Geburtshilfe verlegen.“ Und es tat sich nichts. Durch die wochenlange Antibiotikum-Einnahme hatten sich die zwei Kilogramm Darmfauna gegen den Wirtsorganismus gewandt. Es halfen wiederum nur Suppositorien.

      Am dritten Tag war es so weit. Der Chefarzt war mit der Urinfarbe zufrieden. Der Harnröhrenkatheter könne gezogen werden, sagte er. Kurze Zeit später hieß es: „Tief einatmen und nun kräftig husten“, und der Katheter war draußen. Natürlich hatte die Schwester vorher die Blockung aufgehoben.

      Am nächsten Tag wurde der Bauchdeckenkatheter verstöpselt.

      „Jetzt soll der Urin wieder ganz normal fließen“, sagte der Chefarzt.

      Kahler hatte Bammel. Seit knapp vier Wochen war der Saft nicht mehr via naturalis abgegangen. Würde das funktionieren? Würde das weh tun? Wie justiert sich das Detrusorsystem neu?

      „Sie messen bitte mit der Bettflasche die Urinmengen, die aus dem Harnröhrenkatheter und dem Bauchkatheter kommen.“

      Es muss laufen, betete Kahler, sonst kriege ich wieder den verdammten Harnröhrenkatheter eingesetzt. Bloß das nicht. Er trank und trank, aber es stellte sich kein Harndrang ein. Er meinte zu spüren, wie sein instabiler Bluthochdruck wieder höher ging. Die Temperatur war bei schwüler Witterung schon am Vormittag über 25 Grad angestiegen. Er bekam Schweißausbrüche. Immer noch nichts. Läuft dieser wahrhaft schlechte Film jetzt rückwärts? Er schüttete noch einen halben Liter Wasser in sich hinein. Und dann hielt er die Urinflasche einfach an den Ausgangsstutzen, und siehe da, es bildete sich ein dünnes Rinnsal, ohne dass sich die Blase vorher gemeldet hätte. Der Lackmustest zur Rückgewinnung der urinalen Souveränität war positiv ausgefallen. Die ersten zweihundert Milliliter sammelten sich in der Flasche. Es tat überhaupt nicht weh. Glücklich sein kann so einfach sein.

      Die Schwester zeigte ihm, wie der Restharn zu sammeln ist. Einfach nur den Stöpsel aus dem Bauchkatheter ziehen und in die Flasche laufen lassen, Menge ablesen, fertig. Die erste Restharnmenge lag bei 120 Milliliter. „Das ist noch zu viel“, sagte der Chefarzt. Doch innerhalb von 24 Stunden erreichte Kahler zweimal die magische Marke von 50 Milliliter, den Schlüssel zum Ziehen des Bauchwandkatheters.

      Kurzum, der postoperative Verlauf hatte sich komplikationslos gestaltet. „Das hält die nächsten fünfzehn Jahre“, hatte der Chefarzt gesagt. Kahler war also ab heute kein Prostatapatient mehr. Dafür verließ er die Klinik als Hochdruckpatient. Er würde die Hypertonie-Leitlinien der Deutschen Hochdruckliga durcharbeiten und die nächsten Wochen und Monate nach der für ihn passenden antihypertensiven Therapie suchen. Vielleicht erledigte sich das Problem aber auch einfach dadurch, dass er seinen Alkoholkonsum auf Null runterschraubte. So oder so musste Kahler also letztendlich dankbar für die Prostataaffäre sein. Möglicherweise hatte sie ihn vor einem Leben als Halbseitengelähmter im Rollstuhl bewahrt und ihm die Option auf einige gesunde Lebensjahre mehr eröffnet.

      Der Oberarzt der Urologie entließ Kahler an einem Samstagvormittag. Kahlers Stimme war in den Kopf gerutscht. Sie klang dünn und heiser. Seine Tuben waren angeschwollen. Er hatte das Gefühl, als wenn sich Wasser in beiden Ohren befände.

      „Was ist denn mit Ihrer Stimme passiert?“, fragte der Oberarzt.

      „Ich weiß nicht, vielleicht eine Nebenwirkung vom ACE-Hemmer. Hat mir Ihr Kardiologe verschrieben. Bei mir besteht eine Non-Dipper-Hypertonie.“

      Der Oberarzt schaute Kahler leicht mitleidig an. „Na, vielleicht haben Sie etwas Zug bekommen. Die Nacht war recht kalt.“

      „Sie dürfen mich hoffentlich in guter Erinnerung behalten“, sagte Kahler nach einer Woche stationärem Aufenthalt bei der Entlassung zur verdutzt schauenden Schwester. Sie wunderte sich, wie seltsam sich der Patient ausdrückte.

      Ist das richtig, was du da machst, fragte er sich. Du teilst hier intimste Dinge mit, die niemand etwas angehen. Denk doch mal an deine Privatsphäre. Doch da gibt es natürlich auch die informationelle Selbstbestimmung. Kundtun kann ich, was ich für richtig halte. Und er hielt es für richtig, seine Erfahrungen und Erlebnisse auch anderen zuteil werden zu lassen. Auch er mit seinen Erfahrungen als Arzt hatte sich während der stationären Behandlung in eine Sphäre voller Überraschungen und Unwägbarkeiten hinein begeben müssen. Wie würde es da erst den anderen Patienten ergehen. Oder hatte sein medizinisches Dreiviertelwissen seine Ängste zusätzlich gespeist? Während die Menschen, die in der Klinik arbeiteten, die Aktionen und Abläufe als Routine empfanden, waren das für den Patienten singuläre Ereignisse. Vielleicht war es möglich, durch seine Schilderungen Ängste zu nehmen. Oder schürte er dadurch erst Recht Befürchtungen und Vorbehalte?

      Nachspiel

      Das Telefon klingelte. Der urologische Chefarzt war dran. „Ich wollte die frohe Botschaft selber überbringen. Ich habe das Ergebnis der Histologie vom Resektat. Es ist alles gutartig, genauso wie bei der Stanzbiopsie.“

      „Vielen herzlichen Dank“, stammelte Kahler, und bevor er weiter reden konnte, hatte sich der Chefarzt mit einem Alles Gute auch schon wieder verabschiedet. Der hat viel um die Ohren, dachte sich Kahler. Sicherlich war er jetzt erleichtert, die Diagnose Krebs hatte aber für ihn bei der Prostata nicht das Schreckenspotential wie beispielsweise beim Pankreaskopfkarzinom. Zum einen ist der Prostatakrebs, rechtzeitig diagnostiziert, gut zu operieren und zum anderen wachsen die meisten Karzinome so langsam, dass das Gro der davon betroffenen Männer an anderen Krankheiten und Gebrechen vor dem eigentlichen Ausbruch des Krebses dahinscheidet. Warren Buffet hat Prostatakrebs. Ja und? Der Mann ist über achtzig.

      Da war er wieder, der Verschluss im Abfluss. Es kam gar nichts mehr. Unmittelbar davor war die Entsaftung spärlich gewesen. Die Farbe des Saftes ähnelte der eines kräftigen Burgunders. Allein das trug erheblich zur Beunruhigung Kahlers bei. Jetzt aber hatte sich der Alarmmodus eingeschaltet. Der Harndrang blieb mächtig, bei versiegtem Strom. Erinnerungen an den akuten Harnverhalt vor sieben Wochen poppten in Kahlers Oberstübchen auf. Bitte nicht schon wieder! Der Stau verstärkte sich. Die Dehnungsrezeptoren in der Harnröhre meldeten sich mit einem stechenden Schmerz. Und dann löste sich der Korken im Flaschenhals. Das schwarze Blutgerinsel hatte den Ausgang gefunden und der dunkelrote Burgunder ergoss sich in einem Schwall in die weiße Keramik.

      „Nach ungefähr drei Wochen lösen sich die Verschorfungen und Nekrosen in der Harnröhre“, hatte der urologische Chefarzt gesagt. „Das kann