Paul Hartmann Hermann

Könnenwollen I


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„Jetzt geht es los“, hörte Kahler noch, und dann rückte die Umwelt in weite Ferne, bis sie ganz verschwunden war und die Erinnerung wurde ausgeknipst.

      „Schön, dass wir uns jetzt persönlich sehen“, sagt der Chefarzt der Urologie. Vorher hatte nur telefonisch Kontakt bestanden.

      Zwei Stunden waren vergangen. Die Teilresektion der Vorsteherdrüse über die Harnröhre mittels Endoskop und Elektroschlinge hatte eine Stunde gedauert, die Aufwachphase noch einmal genauso lange. Kahler blickte in ein Gesicht, das außer den wachen Augen keine Merkmale mit hohem Wiedererkennungswert enthielt. Charisma sieht anders aus. Was der Mann jedoch sagte, hatte Hand und Fuss. Er hatte eine natürliche Autorität, war also kein Mitglied der aufgeblasenen eminenzbasierten Chefarztfraktion, sondern ein evidenzbasierter Überzeugungstäter. Um dies festzustellen, genügte die kurze Unterhaltung. Kahler fühlte sich gut aufgehoben.

      „Die Drüse war doch nicht so groß, vielleicht 65 Gramm. Ich habe nur 40 Gramm herausgenommen. Aber die Harnröhre war stark verengt.“

      Der Chefarzt griff, mit blauen Kunststoffhandschuhen bewehrt, beherzt an Kahlers Pimmel und machte sich am Harnröhrenkatheter zu schaffen. Nachdem er ihn entblockt hatte, schob er ihn weiter rein. Der Ballon befand sich jetzt offensichtlich in der Blase und nicht mehr im operierten Prostatabereich. Jetzt spritzte er wieder Flüssigkeit in den Blockballon. „So sitzt er besser.“ Dann ließ er sich zwei Mullstreifen geben, band sie um das Schlauchende und brachte Zug auf den Schlauch. Kahler jaulte auf.

      „Wir geben Ihnen ein Schmerzmittel. Es muss jetzt viel gespült werden. Die physiologische Kochsalzlösung läuft über den Bauchdeckenkatheter in die Blase und von dort über den Harnröhrenkatheter wieder raus.“

      Die Ansage war kurz und knapp. Auf weitere vertrauensbildende Gesprächsinhalte ließ er sich nicht ein. Gar nicht so verkehrt, dachte sich Kahler, der Chirurg soll ja nicht labern, sondern durch richtiges Machen heilen. Die Entourage—Stationsärzte, Oberärztin, diensthabende Schwester—hielt respektvoll Abstand zu ihm, aber nicht so devot, wie Kahler das früher bei den Visiten der gottgleichen Medizinordinarien erlebt hatte.

      Am Abend des OP-Tages verspürte Kahler plötzliche Übelkeit. Er hatte Angst vor dem Würgereiz. Das könnte den Urin wieder dunkelrot machen. Deswegen schluckte er den hoch drängenden Mageninhalt mehrmals wieder runter, bis es nicht mehr anders ging. „Schwester, mir ist schlecht“, rief er und erhielt umgehend einen langen weißen Plastikbeutel, welcher in etwa die Dimension eines Unterarmes hatte. „Ich wollte kein Präservativ, sondern einen Kotz-…“, Beutel bekam er nicht mehr raus. Das mit der Übelkeit war ein Makel der Anästhesie, das wusste er. Heutzutage kann man diese Nebenwirkung durch Feindosierung der verabreichten Narkotika weitgehend ausschließen. Aber sollte er sich beschweren? Was hätte das gebracht?

      In den nächsten drei Tagen liefen so circa 80 Liter Flüssigkeit durch Kahlers Kanalisation. Dabei drehte sich alles um die Farbe des Urins. Ursprünglich dunkelrot, verlängerten sich die Phasen, in denen die Pisse klar blieb. Rückschläge gab es beim Husten und bei Körperwendungen mit Anspannung der Bauchmuskulatur. Sofort dominierte wieder die rote Farbe.

      „Was mir nicht gefallen hat, das waren Ihre hohen, stark schwankenden Blutdruckwerte“, hatte der Chefarzt noch gesagt. „Während der OP bewegte sich der systolische Wert zwischen 100 und 220 mmHg. Ich werde meinen kardiologischen Kollegen informieren.“

      Kahler war misstrauisch. Sagt der mir das als ausbeutbaren Privatpatienten oder als definitiven Hochdruckpatienten? Kahler war aber auch beunruhigt. Er kam sich mit den Katheterschläuchen vor, wie einst Laokoon im Kampf mit den Schlangen. Bei jeder Bewegung hatte er Angst, dass irgendein Schlauch herausgerissen werden könnte. Es ist der Stress, deswegen die Hypertonie, beruhigte er sich.

      Die Langzeit-Blutdruckmessung strangulierte alle halbe Stunde seinen Oberarm. Der Arm wurde blau und die Venen am Handrücken schwollen bedrohlich an. Ist das in Ordnung? Seit jeher hatte er den automatischen Blutdruckmessgeräten misstraut. „Schwester, bitte kontrollieren Sie noch mal manuell“, bat er. Doch es half nichts, auch die Messung mit Manschette und Stethoskop ergab 190/110 mmHg. Ich gehe demoliert hier rein, es wird repariert, aber ich komme mit einem anderen Schaden zu Hause wieder an. Das kennt man eigentlich nur von der Autoreparaturwerkstatt.

      Der kardiologische Oberarzt wirkte leicht genervt, wie jeder Oberarzt, der gerne Chef wäre oder niedergelassener Arzt in eigener Praxis, nur ohne die Verantwortung oder ohne die finanziellen Risiken tragen zu müssen. Er war gerade dabei, eine Kardiosonographie bei Kahler durchzuführen.

      „Die Pumpe ist klein, aber kräftig. Die Wandstärke der linken Kammer ist grenzwertig: 13 Millimeter. Den Hochdruck haben Sie wahrscheinlich schon länger. Die Klappen sind okay, nur bei der Mitralklappe sieht man einen kleinen Jet. Nichts Schlimmes. Kommt von der Muskelhypertrophie.“

      „Herr Kollege, darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten?“, hob Kahler mit dünner Stimme an.

      „Nur zu, ich habe schon lange kein Geheimnis mehr verraten bekommen.“

      „Ich habe in den Fragebögen gelogen.“

      „?“

      „Mein Alkoholkonsum in den letzten Monaten lag nicht unter einer Flasche Wein.“

      Der Oberarzt reagierte weitgehend desinteressiert und ließ sich über die allgemeine kardioprotektive Wirkung des Alkohols aus. „Natürlich haben Sie ab 30 Gramm Alkohol pro Tag auch Nebenwirkungen. Das sind ungefähr 0,2 Liter Wein oder 0,5 Liter Bier. Sie kennen das ja, Leberprobleme, Polyneuropathie, die Bauchspeicheldrüse usw. Bluthochdruck steht da nicht im Vordergrund.“

      Kahler kramte in seinem Oberstübchen nach den spärlichen Resten seines internistischen Basiswissens. Das mit dem Alkohol und dem Bluthochdruck hatte er sich anders gemerkt.

      Die kleine junge Schwester, die ihm den Verband am Bauchkatheter wechselte, hatte ein Tatoo auf der Kopfhaut hinter dem rechten Ohrläppchen. Kahler sprach sie darauf an. Sie antwortete etwas verlegen. Ja, das G wäre der Anfangsbuchstabe ihres Vornamens. Und sie könne die Tätowierung dadurch verstecken, dass sie ihre Haare öffnet. Irgendwie goldig, fand Kahler, wenn man das Tatoo nicht sieht, dann braucht man es ja auch nicht, oder? Während sie sich weiter am neuen Verband zu schaffen machte, erzählte Kahler, dass er mal vor langer Zeit ein paar Monate als Musterungsarzt gearbeitet hätte. Da hätte er viele Tätowierungen gesehen. Eine sei ihm noch in besonderer Erinnerung geblieben. Dabei deutete er auf seine rasierte Schamregion. Da hätte in fetten schwarzen Lettern NUR FÜR DICH gestanden. In dem Moment, wo er das sagte, tat es ihm schon wieder leid. Aber sie reagierte sehr souverän. „Das passt ja immer“, sagte sie.

      Eine Katastrophe war das Essen. Auf blassgelben Tabletts standen Teller, die mit einer blassgrauen Plastikhaube abgedeckt waren. Darunter befand sich alles, was böses Essen ausmacht: Faseriges Bratenfleisch, totes Gemüse, Kartoffelsalat aus dem Eimer und Salami mit 120 Prozent Fettgehalt, Fischbouletten mit einer Art Holzmehlsurrogat, absolut geschmackfreies Obst usw.. Die tiefer gelegte stämmige Stationshilfe, die für die Essensausgabe zuständig war, schaute Kahler vorwurfsvoll an, wenn er wieder mal sein Essen nicht angerührt, oder allenfalls ein paar Brocken vertilgt hatte.

      Auf der Innenseite jeder Schranktüre befanden sich Warnhinweise, man solle Wertsachen sichern. Die Schwestern berichteten von üblen Raubzügen trotz abgeschlossener Zimmertüre. Kahler verstaute daher seine Wertsachen in dem windigen kleinen Tresor im Waschbeckenschrank. Den Schlüssel versteckte er hinter einem Bilderrahmen, der aus einem Aluminiumwinkelprofil bestand. Er kam sich unheimlich clever vor. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei aber um das unter Dieben bestens bekannte Standardversteck.

      „Dann machen Sie mal das Professor-Doktor vor meinem Namen weg.“ Kahler meinte das Schild außen neben der Zimmertür. „Das könnte Gauner besonders anziehen.“

      „Aber unser Chef legt großen Wert darauf, dass auch die Titel der Patienten dort erscheinen. Er sagt, dass man zu seinem erworbenen Titel stehen sollte.“

      Das ist ein Mann der alten Schule, dachte sich Kahler, nicht so einer von der Piratenfraktion. Die wollen den alten Herrschaften doch nur im Generationenkampf—unter