Christoph Laurentius Martin

Die Odyssee


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Telemachos, von den Früchten tiefen Nachdenkens zehrend: "Alles werde ich dir offen und ehrlich beantworten, mein Freund. Ja, meine Mutter sagt, Odysseus sei mein Vater. Ich selbst weiß es nicht, denn ich habe dabei nicht zugesehen. Niemand ist sich ja seines Erzeugers ganz sicher. Eigentlich wäre ich lieber der Sohn eines Mannes, der Glück hat im Leben, der seinen Reichtum genießen kann und darüber in Würde alt wird. Stattdessen bin ich, wie jeder weiß, der Sohn des Mannes, der unter allen Sterblichen am schwersten geprüft wurde. So, du wolltest es ja unbedingt ganz genau wissen."

      Die Göttin mit den strahlenden Augen, Athene, erwiderte lächelnd: "Nun, die Götter haben dir eben keine problemlose Herkunft gegönnt! Doch sie wollen die Sippe erhalten, der Penelopeia solch einen tüchtigen Sohn gebar. Aber noch etwas muss ich dich fragen, und antworte bitte offen und ehrlich. Was bedeutet dieses Festessen, dieser Trubel? Gibt es etwas zu feiern, eine Hochzeit vielleicht? Es sieht nämlich nicht so aus, als träfen sich nur ein paar Freunde zum Essen. Auch scheinen mir deine Gäste das Maul ziemlich weit aufzureißen und ein wenig über die Stränge zu schlagen! Käme ein vernünftiger Mensch in diese übermütige Gesellschaft, er wäre entsetzt!"

      Bedächtig erwiderte Telemachos: "Danke, dass du mich auch danach fragst, lieber Gast. Dieses Haus war früher eine erstklassige Adresse, reich, gut geführt und anständig. Solange Odysseus noch hier war! Doch dann haben die Götter es sich anders überlegt und beschlossen, Unheil zu schicken. Ausgerechnet ihn unter allen Menschen ließen sie spurlos verschwinden! Mir ginge es besser, wenn ich wenigstens sicher wüsste, dass er tot ist, gefallen in Troja zum Beispiel; oder dass er den Krieg überstand, aber später irgendwo in den Armen seiner Gefährten starb. Zumindest hätte man ihm dann einen Grabhügel errichtet, und ich könnte von seinem großartigen Ruhm profitieren. Doch leider rafften ihn die Harpyien, die Schicksalsgöttinnen, ruhmlos dahin; er verschwand spurlos und hinterließ mir nichts als Kummer und Probleme. Jetzt habe ich nicht nur seinen Tod zu beklagen, nein, die Unsterblichen im Himmel gaben mir noch eins drauf. Sämtliche Fürsten aus Doulichion, aus Same und aus Zakynthos, wo es viel Wald gibt, inklusive der gesamten Hautevolee unseres felsigen Ithakas, kurz: jeder, der ein bisschen Einfluss und Vermögen hat, steht als Freier auf der Matte und will meine Mutter besitzen. Und während sie hier Schlange stehen, geht mein gesamtes Vermögen den Bach runter. Einerseits graut meiner Mutter vor der Wiederheirat, andererseits will sie sich nicht alle Chancen verbauen. Die Essgelage gehen immer auf Kosten des Hauses, und am Ende werden die Freier noch mich schlachten."

      Empört sagte darauf die Göttin Pallas Athene: "Das gibt es doch nicht! Hier fehlt wirklich die Hand eines Mannes wie Odysseus, der den dreisten Freiern ihre Grenzen zeigen könnte. Das wäre etwas, wenn er jetzt in der Tür stünde, mit Helm und Schild, in jeder Hand einen Speer, kraftstrotzend, wie ich ihn kennenlernte, als er in meinem Palast auftauchte und gut gelaunt mit uns trank. Er kam mit seinem schnellen Schiff aus der Stadt Ephyra, wo er Ilos, den Sohn des merkwürdigen Mermeros, aufgesucht hatte, um Gift für seine Pfeilspitzen zu kaufen. Ilos gab ihm keins, aus Angst vor Strafen seitens der Götter. Doch von meinem Vater hat er das Gift dann bekommen, der schätzte Odysseus nämlich über alles. In dieser starken Form müsste Odysseus jetzt auftauchen! Die Freier könnten dann sofort Hochzeit feiern, eine Hochzeit mit dem Tod allerdings! Aber es liegt in den Händen der Götter, ob er in seinen Palast zurückkehrt und Rache nimmt an den Freiern oder nicht.

      Deshalb solltest du dir auch selbst überlegen, wie du die Freier aus dem Haus schaffst. Ich rate dir folgendes, und schreib es dir gut hinter die Ohren: Berufe morgen alle freien Achaier auf dem Marktplatz zur Versammlung ein. Mach die Sache öffentlich und rufe die Götter als Zeugen an. Fordere, dass die Freier dahin abziehen, wo sie hergekommen sind. Wenn deine Mutter sich partout ein zweites Mal verheiraten will, soll sie ins Haus ihres Vaters zurückgehen und die Heirat von dort betreiben. Da kann jeder, wie es sich gehört, anklopfen und um sie freien. Allerdings muss er dann auch wertvolle Brautgeschenke vorweisen, wie sie einer Tochter aus höherem Hause zustehen.

      Und noch einen Rat will ich dir geben. Nimm das beste Schiff, das du kriegen kannst, bemanne es mit zwanzig Ruderern und mach dich auf die Reise! Du musst herausfinden, warum dein Vater nicht heimkommt. Vielleicht hörst du von einem Sterblichen etwas, oder Zeus gibt dir ein Zeichen, denn manchmal offenbart er sich in der Tat den Menschen. Fahr zuerst nach Pylos und frage den alten Nestor aus; von da weiter zum blonden Menelaos, dem spartanischen Helden, der als letzter der erzgepanzerten Achaier aus dem Krieg zurückkam. Erfährst du, dass dein Vater lebt und auf dem Heimweg ist, dann halte ein weiteres Jahr durch, auch wenn es dir noch so schwerfallen sollte. Hörst du aber, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilt, dann errichte ihm ein Grabmal und lege ihm reichlich Grabgaben hinein, wie es die Sitte verlangt. Und deine Mutter kann dann einem anderen Mann gehören. Hast du das alles hinter dich gebracht, so geh in dich und verschaff dir mit Herz und Hirn Klarheit darüber, wie du die Freier aus dem Saal hinaus und ins Grab beförderst, ob mit List oder im offenen Kampf.

      Auf keinen Fall kannst du weiter so tun, als ob du ein Kind wärst, aus dem Alter bist du langsam heraus. Kennst du nicht die Geschichte vom edlen Orestes? Weißt du nicht, welch hohes Ansehen er sich auf der ganzen Welt erworben hat, indem er Aigisthos erschlug, den hinterlistigen Mörder seines Vaters? Auch du, mein Lieber, bist doch, wie ich sehe, groß und gutaussehend! Also tu etwas für deinen Ruf, damit spätere Geschlechter noch gut von dir sprechen! Aber ich muss jetzt leider weg, zu meinem Schiff und meinen Männern, die bestimmt schon ungeduldig auf mich warten. Denk an das, was ich gesagt habe, und nimm deine Angelegenheiten selbst in die Hand."

      Der bedächtige Telemachos gab ihr zur Antwort: "Lieber Gast, du bist so warmherzig und nett zu mir; wie ein Vater zum Sohn hast du gesprochen. Ich werde deinen freundlichen Rat nicht vergessen. Bleib doch noch ein wenig, obwohl du es eilig hast. Nimm ein Bad, entspanne dich und lass dir ein Geschenk mitgeben! Hinterher kannst du zu deinem Frachtschiff gehen und in bester Laune deine Reise fortsetzen. Ich möchte dir gern ein schönes, wertvolles Stück als Andenken verehren, wie es nur Freunde aus Freundschaft schenken."

      Doch die Göttin mit den strahlenden Augen sagte: "Ich bitte dich, halte mich nicht auf, ich möchte lieber gleich los. Das Geschenk, das du mir so freundlich anbietest, kannst du mir ja geben, wenn ich auf der Rückfahrt noch mal vorbeikomme. Such etwas Schönes aus, ich werde mich dann mit etwas genauso Wertvollem revanchieren."

      Mit diesen Worten verschwand die strahlende Athene. Wie ein Vogel, der sich in die Lüfte hebt, entschwebte sie in den Himmel. Sie ließ Telemachos mit frischem Mut und neuem Elan zurück; auch dachte er wieder intensiver an seinen Vater. Verwundert spürte er die Veränderung in sich und rätselte, ob womöglich ein Gott die Ursache war. Dann trat er vor die Freier und sah selbst aus wie ein Gott. Die waren ausnahmsweise still, denn sie lauschten noch immer dem Lied des berühmten Sängers. Er sang von der leidvollen Heimfahrt der griechischen Helden aus Troja, die Pallas den Achaiern auferlegt hatte.

      Im oberen Stockwerk vernahm Penelopeia die herrlichen Klänge, die Tochter des Ikarios, die umsichtige, kluge Frau. Sie verließ ihre Gemächer und kam die große Treppe herunter, natürlich nicht allein, sondern begleitet von zwei ihrer weiblichen Bediensteten. Als sie ins Blickfeld der Freier trat, die Herrliche unter den Frauen, blieb sie an einer Säule des massiv gebauten, großen Saals stehen und verhüllte ihre Wangen mit einem feinen, schimmernden Schleier, und links und rechts von ihr stellten sich die beiden treuen Mägde auf. Mit Tränen in den Augen sprach sie den göttlichen Sänger an:

      "Phemios, du beherrschst doch eine Menge von bezaubernden Liedern. Es gibt doch wirklich andere Taten der Menschen und der Götter, die ein Sänger genauso gut besingen kann. Sing darüber, und alle in der Runde werden genauso zuhören und still ihren Wein trinken. Aber hör bitte auf mit diesem grausamen Lied! Jedes Mal, wenn ich es höre, bricht mir schier das Herz in der Brust. Ich bin die Hauptbetroffene, ich traure ohne Ende und sehne mich schrecklich nach diesem unvergesslichen Mann, der berühmt ist in ganz Hellas und erst recht in Argos."

      Doch da schaltete sich der nicht auf den Kopf gefallene Telemachos ein: "Mutter, was redest du dem Sänger rein, der uns nur unterhält, wie es sein Herz ihm eingibt? Man kann doch nicht einen Künstler für Dinge verantwortlich machen, an denen Zeus schuld ist, der mit den Erdenwürmern umspringt, wie es ihm gerade gefällt. Also beschimpf ihn nicht, wenn er vom Unglück der Danaer singt. Denn normalerweise mögen es die Zuhörer besonders gern, wenn