Anke Grohmann

Ewigkeit


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in diesen gekniffen werde. Denke ich zumindest und beschwere mich bei ihm. „Ich kneife nicht in deinen Hintern. Ich habe meine Hände hier!“, ruft er mir im beleidigten Ton zu. Als ich ihn anschaue gibt er mir mit entsetztem Gesichtsausdruck zu verstehen, dass ich mich umschauen soll. Ich drehe mich langsam um und dann sehe ich eine Hand, die gleich wieder in meinen Hintern kneifen will. So sieht es für mich jedenfalls aus. In Wirklichkeit ist es ein Skelett. Schlagartig ist unsere Heiterkeit vorbei, und wird von Panik abgelöst. Nun wollen wir nur noch raus hier. Wir schreien um Hilfe und rufen: „Holt uns raus!“ Nach einigen Augenblicken, die uns wie eine Ewigkeit vorkommt, wird eine Leiter hinab gelassen. Wir steigen nacheinander hoch und kehren unter bösen Blicken der Umstehenden sofort ins Hotel zurück. Nachdem wir geduscht und uns wieder beruhigt haben, wollen wir an der Hotelrezeption erfragen, bei wem wir uns, für unsere Rettung bedanken können.

      Wie sich herausstellt, ist unser peinlicher Ausrutscher schon bekannt geworden. Die anderen Gäste sehen uns etwas von oben herab an und meinen: „Eigentlich sollte man ja wissen, wie man sich auf einem Friedhof verhält!“ Wir überhören diesen Vorwurf und bitten nur um Namen und eventueller Anschrift, um am nächsten Tag persönlich bei unserem Retter vorbeigehen zu können. Wir erfahren, dass er der Friedhofswächter ist, und im alten Pfarrhaus wohnt.

      Als wir am nächsten Tag, nach einem guten Frühstück, mit vielen neugierigen Blicken der anderen Hotelgäste und lauten Flüsterstimmen über unseren gestrigen Ausrutscher, dort ankommen, ist er gerade dabei, den durch uns entstandenen Schaden zu beheben. Mein Mann bietet seine Hilfe an, doch er bedankt sich und lehnt mit folgenden Worten ab: „Bevor das Grab wieder hergestellt wird, wollen sich der Pfarrer und der Pathologe die Gebeine ansehen. Denn wie sich herausstellte, ist das Grab nicht mit einer, sondern mit zwei Leichen belegt. Seltsam insofern, dass auf dem Stein nur ein Name geschrieben steht.“ Wir sehen uns diesen genauer an und plötzlich werden meine Knie weich. Ich lese: „Hier ruht für die Ewigkeit bis zum dritten Tag, wenn die Engel nicht mehr weinen, ERLE!“

      Als ich wieder zur Besinnung komme, finde ich mich auf einem alten Sofa wieder und ein kaltes nasses Tuch liegt auf meiner Stirn. Meine Familie sieht sehr besorgt aus und dann fragt mein Mann: „Geht es wieder?“ „Nein!“, schreie ich. „Was geht hier vor? Das kann kein Zufall sein!“ Ich bringe mich in eine sitzende Position und schaue den Friedhofswächter erwartungsvoll an. Von ihm erfahren wir, dass der Teil des Friedhofs, auf dem unser Missgeschick passierte, schon vor vielen Jahren stillgelegt wurde. Dort ruhen die Gründer dieser Stadt. Die ältesten Gräber sind über eintausend Jahre alt. Während er dies erklärt reicht er mir ein Glas. Ich führe es ganz automatisch an den Mund und leere es in einem Zug. Es ist ein starker Whisky! Ich trinke sonst keinen Alkohol, aber jetzt verlange ich noch nach einem zweiten Glas. Meine Familie sieht sich an, sagt aber kein Wort. Auch dieses Glas leere ich, ohne es abzusetzen. Ich verziehe nicht einmal das Gesicht. Ich frage den Wächter, ob es noch irgendwelche Aufzeichnungen über dieses Grab gibt. Er verspricht beim Pfarrer nachzufragen, und wird mir dann Bescheid geben. Wir verabschieden uns und kehren zurück ins Hotel. Durch den Alkohol, und sicher auch wegen der Ereignisse des Tages, gehe ich sofort ins Bett. Mein Mann und die Kinder gehen noch ein wenig spazieren und fragen, ob sie mich zum Abendessen wecken sollen. Ich verneine und schlafe sofort ein.

      Ich erwache! Es ist mitten in der Nacht. Habe ich nicht eben meinen Namen gehört? Vollkommen atemlos fühle ich, dass mein Hals und auch meine Füße wieder schmerzen. Kaum dass ich das Bett verlassen habe, verschwinden diese Eindrücke. Ich trinke ein Glas Wasser und gehe dann auf den Balkon. Es ist eine wunderschöne milde Nacht. Nichts stört die Ruhe des Ortes. Kein Geräusch dringt an meine Ohren.

      Müsste nicht etwas wahrzunehmen sein? Hundegebell oder Katzenmiauen? Gespräche zwischen Menschen, die von der Arbeit oder von einer Feier nach Hause kommen? Ich sehe einen Vollmond, aber die Häuser werfen keine Schatten! Aus meiner beginnend aufsteigenden Angst wird Panik. Ich laufe zu meinem Mann und brülle ihn an: „Es gibt keine Schatten hier! Was ist das nur? Steh auf, wir müssen fort von hier!“ Er öffnet seine Augen, dann schaut er mich verständnislos an. Nach einigen Sekunden klärt sich sein Blick und er antwortet: „Mann sollte eben keinen Alkohol trinken, wenn man ihn nicht verträgt!“ Danach dreht er sich um und schläft weiter. Für mich ist die Nacht beendet und ich denke darüber nach, ob uns hier eventuell Gefahr droht. Irgendwann lege ich mich wieder hin und schlafe erschöpft ein. Am Morgen fragt mich mein Mann: „Was meintest du heute Nacht damit, es gibt keine Schatten?“ Nachdem ich meinen Bericht beendete, meinte er: „Du hast den Urlaub wirklich nötig. Ab jetzt gehen wir auf keinen Friedhof mehr.“ Beim Frühstück rät er den Kindern, nicht auf das zu hören, was ich sage, angeblich hätte ich einen Kater. Wir planen unseren Tag und wollen nach dem Frühstück die Schlüssel an der Rezeption abgeben, da erfahre ich, dass eine Nachricht für mich bereitliegt. Der Wächter hatte Wort gehalten und sich beim Pfarrer über alte Aufzeichnungen erkundigt. Wie sich herausstellte, gibt es noch einige. Leider seien diese nicht geordnet, aber wenn ich Interesse hätte, dann könnte ich sie am Nachmittag einsehen. Ich bin sofort hellauf begeistert und will schon zum Telefon greifen, um mein Kommen anzumelden, als mein Mann mich zur Seite nimmt und sagt: „Bitte lasse es bleiben! Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Vielleicht erfährst du etwas, was dir nicht gefallen wird. Wir wollten doch einen Familienurlaub machen?“ Ich sehe ihn an, und da er in diesem Moment so verletzlich aussieht, nehme ich von meinem Vorhaben Abstand.

      Wir verbringen einen wunderschönen Familientag. Wir laufen durch die Wälder, sehen uns alte Ruinen an und haben endlich den Urlaub, den wir uns gewünscht hatten. Es hätte bis zum Ende so weitergehen können, aber das Schicksal wollte etwas anderes. So kam es, dass wir am Abend eine Überraschung im Hotel erlebten. Da ich mich nicht beim Pfarrer gemeldet hatte, nahm er an, dass ich seine Botschaft nicht erhalten hatte und so schickte er die Unterlagen in unser Hotel.

      Als wir nun zurückkommen, liegen die Akten auf unserem Zimmer und ich kann nicht umhin, einen Blick auf sie zu werfen. Schon bei der ersten Durchsicht wird mir klar, dass ich für den Rest des Urlaubs in diesen Akten wühlen werde. Auch wenn ich nichts über meine Vergangenheit erfahre, so ist es doch interessant, in diesen zu lesen. Denn schon bei der Sichtung der ersten Akte fällt mir ein seltsames Muster auf einem Pergament auf. Es sieht aus, wie ein Familienwappen. Die Form erinnert mich sehr an die Stickerei auf meiner Decke, in die ich eingehüllt war, als man mich fand. Diese habe ich aufbewahrt und ziert viele Jahre schon eine kleine Kommode in unserem Schlafzimmer. Nun bin ich mir sicher, hier finde ich zumindest einen Hinweis darauf, wer meine Eltern waren. Ich vertiefe mich so sehr in diese Akten, dass meine Familie ohne mich zum Abendessen geht, was von nun an zur Gewohnheit wird.

      Erst, nachdem mein Rücken einfach nicht mehr zu schmerzen aufhört und meine Beine mit ständigen Krämpfen mitteilen, dass es Zeit wird, eine andere Lage einzunehmen, wird mir bewusst, dass ich wieder über Stunden so vertieft war, dass ich erst um Mitternacht ins Bett gehe. Zwei Stunden später sitze ich wieder über die Akten und ordne sie weiter. Das heißt, soweit es möglich ist, nach Datum oder Namen zu sortieren. So kommt es, dass mein Mann am Morgen denkt, ich hätte die ganze Nacht gearbeitet. Darum bittet er mich ins Bett zu gehen und sagt: „Bitte schlafe ein wenig. Ich verbringe den Tag mit den Kindern wie geplant, aber versprich mir, dass du für heute aufhörst und der Abend der Familie gehört!“ Ich verspreche es.

      Der Tag vergeht genauso schnell, wie er begann. Meine Familie ist kaum fort, da sind sie auch schon wieder zurück und mein Mann begrüßt mich gleich mit einem Vorwurf.

      „Erle, an der Rezeption sagte man mir du wärst den ganzen Tag nicht aus dem Zimmer gekommen. Du hättest auch nichts zu essen bestellt! Was ist los mit dir? Hast du mal in den Spiegel geschaut?“ Ich sehe ihn an und im ersten Moment verstehe ich gar nicht, was er sagt. Dann antworte ich: „Du wirst nicht glauben was ich heraus gefunden habe! Ich habe endlich einen Anhaltspunkt, der mich vielleicht zu meinen Vorfahren führt!“ Mein Mann will nichts davon hören. Er ergreift meinen Arm und zieht mich vom Stuhl. Mich hinter sich her ziehend, bringt er mich ins Bad. Als mein Blick auf mein Spiegelbild fällt, wird mir übel. Ich habe nicht nur Ringe unter den Augen wie der Saturn, ich sehe aus wie ein Gespenst. Meine Haut ist weiß, fast durchsichtig. Meine Wangenknochen treten hervor, man könnte meinen, ich hätte seit Tagen keinen Bissen mehr zu mir genommen. Dann fällt mein Blick auf die entsetzten Gesichter meiner Kinder. Sofort ergreift mein schlechtes Gewissen