Anke Grohmann

Ewigkeit


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Abendessen. Als ich eine halbe Stunde später wieder ins Hotelzimmer komme, sitzt meine Familie zusammen und sieht sich die Filmaufnahmen des Tages an. Ich setze mich dazu, und bemerke bald, dass ich keine Ruinen oder alte Kirchen oder Pferde auf einer Koppel sehe. Auch nicht meine Kinder, wie sie versuchen, auf eines dieser Pferde zu reiten. Nein, meine Gedanken verselbständigen sich, und ohne es zu merken, stehe ich auf, und setze mich wieder an die Akten. Ich höre auch nicht, wie sie das Zimmer verlassen, eben so wenig, wann mein Mann zurückkommt. Hätte ich damals gewusst, dass ich meine Familie bald nie mehr um mich haben würde, dann wäre ich sofort mit ihnen ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren. Aber wie gesagt, manchmal lenkt das Schicksal unsere Schritte in eine ganz andere Richtung.

      Wieder finde ich um Mitternacht erst den Weg ins Bett. Und wie in den Nächten zuvor, erwache ich zwei Stunden später atemlos und mit schmerzenden Füßen. Ich denke an die Entdeckung der letzten Nacht, der Vollmond, der keine Schatten hinterlässt, und bleibe deshalb im Bett. Ich kuschle mich an meinen Mann und er versteht diese Geste quasi zur Aufforderung zum Kuscheln. Wir verbringen eine Stunde in vollkommener Harmonie und Innigkeit. Nach intensivsten Liebesspielen schlafen wir erschöpft, aber mit einem Gefühl tiefster Zuneigung ein. Wir erwachen am Morgen zum ersten Mal seit fast zwei Tagen ausgeruht und glücklich. Nach dem Frühstück gehen wir spazieren und anschließend in das öffentliche Freibad. Es ist ein wunderschöner Tag und für ein paar Stunden vergesse ich die Akten in unserem Hotelzimmer. Wir spielen mit unseren Kindern Wasserball, nehmen an Tauchwettkämpfen teil und rutschen ausgelassen, wie Kleinkinder, die Wasserrutsche hinunter. Auf einmal steht die alte Frau, die als Wahrsagerin im Hotel aufgetreten war, vor mir und sagt: „Erle, du bist zurückgekommen. Jetzt erfüllt sich die Prophezeiung. Genieße den Tag mit deiner Familie, denn bald wirst du bei deiner wahren Familie sein. Sei nicht traurig, dass du diese verlierst, sie werden weiterleben und immer an dich denken. Deine Aufgabe in dieser Welt ist beendet. Gehe zurück ins Hotel und siehe in die Akten. Deine Fragen werden dort beantwortet!“ Dann dreht sie sich um, und verschwindet genauso plötzlich, wie sie erschienen war.

      Mein Mann kommt angerannt und schreit: „Erle, was ist mit dir? Du bist weiß wie eine Wand! Was hast du?“ Ich sehe ihn an und frage: „Hast du denn die alte Frau nicht gesehen? Die Wahrsagerin aus dem Hotel?“ Er schüttelt den Kopf und auch alle Umstehenden sehen mich fragend an. Dann begreife ich. Ich hatte eine Vision. Ich erzähle meinen Mann was ich erlebt habe. Er schüttelt nur den Kopf und sagt: „Erle, das hast du geträumt. Die Akten spuken noch immer in deinem Kopf herum. Bitte mach diesen Tag nicht kaputt. Er war bisher so wunderschön!“ Ich kann nicht länger im Freibad bleiben und deshalb sage ich: „Seit nicht böse, ich denke ich gehe zurück ins Hotel und werde ein wenig schlafen. Wir sehen uns dann heute Abend!“

      Im Hotel angekommen setze ich mich sogleich an die Akten. Gestern hatte ich ein Stück Pergament in den Händen, welches wie eine Familienaufstellung aussah. Ich nehme es jetzt mit an den Schreibtisch, krame eine Lupe hervor und beginne dieses zu entziffern. Es ist so alt, dass es bei jeder unachtsamen Bewegung zerfällt. Deshalb schiebe ich es vorsichtig in eine Klarsichthülle, die ich mir von der Rezeption geben ließ. Nun, nachdem das Pergament weitestgehend geschützt ist, schaue ich es mir genauer an. Der erste Eintrag stammt aus dem Jahr 989 nach Christus. Ein Gutsbesitzer namens Roald ehelichte eine Gutsbesitzertochter mit Namen Erle. Sie bekamen Zwillinge. Ein Mädchen mit Namen Ibke und einen Jungen mit Namen Jarl. Das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn man allerdings bedenkt, dass meine Kinder ebenfalls Ibke und Jarl heißen, ebenfalls Zwillinge sind und auch am siebenundzwanzigsten des Monats September geboren wurden, dann wird man meine Überraschung verstehen können. Nachdem meine Verwunderung der Neugierde gewichen ist, lese ich weiter. Leider ist das Papier genau an einer Stelle beschädigt, an der ich etwas über deren Kinder hätte erfahren können. Nun kann ich erst zweihundert Jahre später fortfahren. Roald und Erle müssen noch mehr Kinder gehabt haben, denn der Stammbaum ist sehr verzweigt. Interessant ist, dass in jeder Generation entweder ein Roald und eine Erle Zwillinge bekamen mit Namen Ibke und Jarl, oder ein Paar mit Namen Ibke und Jarl gaben ihren Zwillingen die Namen Erle und Roald. Diese Eheschließungen fanden selbst unter Verwandten des ersten Grades statt. Dies kann ich bis ins Jahr 1573 verfolgen. Hier enden dann plötzlich die Aufzeichnungen, als würde diese Familie nicht mehr existieren. Nur ein kleiner Strich deutet darauf hin, dass es zumindest noch einen Abkömmling gegeben haben muss. Aber wie der hieß, oder was aus ihm wurde, ist nicht ersichtlich. Vielleicht ist aber auch die letzte Erle während der Schwangerschaft verstorben, sodass es nie einen weiteren Abkömmling gegeben hat. Dann drängen sich mir nur die Fragen auf: „Wer bin ich? Wieso trage ich diesen Namen? Warum heißen auch meine Kinder Ibke und Jarl?“

      Als wir damals erfuhren, dass ich Zwillinge bekommen würde, sind mir sofort diese Namen durch den Kopf gegangen. Mein Mann war begeistert und er sagte, wenn es dich glücklich macht, dann nennen wir unsere Kinder so. Du hast auch einen besonderen Namen, also scheint mir das für unsere Kinder auch richtig zu sein. Weil wir gerade bei Namen sind. Ich glaube ich habe bis jetzt nicht erwähnt, wie mein Mann heißt. Er heißt Robert. Seine Wurzeln liegen in Amerika. Ich beende gerade diesen Gedanken, da kommen meine Kinder angerannt und schreien laut: „Mutti, du hast noch was verpasst! Wir haben den ersten Preis beim Tauchwettkampf gewonnen. Ein Preisgeld von einhundert Euro war damit verbunden. Können wir das Geld als Taschengeld bekommen?“ Ich will gerade antworten, da kommt Robert herein und sagt: „Ich habe schon mein Einverständnis erklärt!“ „Na“, sage ich, „dann kann ich ja wohl nicht Nein sagen!“ Unsere Kinder drehen sich um und beim Verlassen des Raumes rufen sie über die Schulter: „Wir sind einkaufen!“ Mein Mann beugt sich über mich und beginnt mein Nacken zu streicheln. Dann flüstert er meinen Namen und sagt: „So schön wie letzte Nacht, war es noch nie!“ Ich lächle ihn an und biete ihm meine Lippen zum Kuss. Er beugt sich vor, doch plötzlich hält er in seiner Bewegung inne und schaut auf das Pergament. „Was hast du da?“ Ich antworte: „Es ist ein Stammbaum. Er beginnt im Jahr 989 und endet 1573.“ Als er die Namen liest, zieht er sich einen Stuhl heran und sagt erstaunt: „Die haben ja alle eure Namen?“ Plötzlich springt er auf und geht zu den Akten. Er nimmt sich einen Stapel und beginnt ihn durchzusehen, nachdem er sich auf den Boden platzierte. Ich sehe ihn fragend an, dann sagt er: „Ich will jetzt wissen, mit wem ich eigentlich verheiratet bin. Vielleicht kommst du aus einer steinreichen Familie und hast hier noch Besitz!“ Mit einem Stapel in der Hand nehme ich ebenfalls nun auf dem Boden Platz. Wir bemerken nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als unsere Kinder ins Zimmer stürmen und uns daran erinnern, dass es Zeit für das Abendessen ist, unterbrechen wir unsere Tätigkeit. Da ich keinen Hunger habe und vorgebe am Nachmittag ein großes Stück Kuchen gegessen zu haben, bleibe ich im Zimmer und sortiere weiter. Zwei Stunden später bringt mir Robert einen kleinen Imbiss und bleibt bei mir sitzen, bis ich diesen verzehrt habe. Dann sagt er: „Ich kann verstehen, warum du so begierig bist und erfahren möchtest, wo deine Wurzeln liegen. Lass dir Zeit beim Durchsehen dieser Akten. Wenn ich kann, werde ich dir helfen. Doch ich möchte, dass du mir eines versprichst. Bitte nimm wenigstens drei Mahlzeiten am Tag ein. Ich habe mit der Hotelküche abgesprochen, dass man dir täglich diese ins Zimmer bringt. Sie bieten dir auch einen extra Raum für die Akten an, damit der alte muffige Geruch aus unserem Zimmer verschwindet, denn es ist sehr ungesund, hier zu schlafen. Ich werde mit den Kindern den Urlaub so verbringen, wie wir es geplant haben und wir möchten nur, dass du trotz dieser Arbeit auch an deine Erholung denkst.“ Ich springe auf und schlinge meine Arme um meinen Mann, ziehe ihn zu mir und küsse ihn, bis er mich sacht wegdrückt und sagt: „Ich kann dir nicht mehr helfen, wenn du mich jetzt erstickst!“ Wir lachen beide, dann beginnen wir die Akten in den Raum zu tragen, den man mir zur Verfügung gestellt hat.

      Als wir das Zimmer betreten, liegen bereits Aktenberge dort. Das Zimmermädchen, welches gerade herauskommt, zeigt auf die Stapel und sagt: „Die sind alle heute gekommen. Im Pfarrhaus hat man sie auf dem Dachboden entdeckt. Der Pfarrer meinte, sie fänden hier vielleicht die richtigen Antworten!“ Robert und ich sehen uns an und lachen los, dann sagt er: „Der Pfarrer denkt wohl: Jetzt habe ich endlich einen Dummen gefunden, der mir die Unterlagen sortiert!“ Lächelnd küsse ich ihn und sage: „Ich liebe dich!“ Er dreht sich um, und ruft: „Dennoch gehört dir dieser Spaß ganz allein!“, und schon fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Ich bleibe zurück in einem Zimmer voller Papier und fühle mich auf einmal sehr einsam. Plötzlich bekomme ich Angst und mein Brustkorb zieht sich zusammen,