Alexander Schreiber

Querfeldein


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wenn wir ihnen Zahlen zuordnen? Wo ist die Schönheit Beethovens, wenn wir Frequenzen messen, Fourier-Transformationen betreiben und alles, was einmal sinnhaft war, quantifizieren? Wo sind das Herzblut, die Neugier und der Fleiß eines Schülers in einer Schulnote zu finden? Worin versickert die Inspirationsquelle zeitloser Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe, wenn alles mit Zahlen gesagt sein soll? Überhaupt möchte ich mir keinen Elfenbeinturm in meinem Kopf einrichten. Ich will die Welt in mir wiederfinden.

      Egal wie kalt es ist - meine Spaziergänge haben daher Bestand. Die Kälte am ganzen Körper zu spüren, den Schmerz in den Fingern und Zehen zu empfinden - das ist eine dieser ursprünglichen Erfahrungen, nach denen man sich heimlich sehnt, nur um zu wissen, dass die Welt sich nicht um den Menschen dreht und dieser vielmehr dankbar sein kann, seinen Körper als einen Teil des Weltenganzen zu begreifen. Und wenn ich mich so ganz der Natur hingebe, wenn auch nur für wenige Stunden, erkenne ich gerade in meiner Machtlosigkeit, wie sie sich ganz mir offenbart - etwa in dem verträumten Funkeln des zugefrorenen Weihers im nahen Wäldchen. Babsi, du musst dies einmal sehen!

      Allmählich wird mir mein Maintal also immer werter, auch da ich nicht mehr durch so viel Forderndes abgelenkt werde - zumindest so viel Gutes kann ich bereits am Alleinsein finden. Auch der Austausch mit all den Dichtern und Schriftstellern im Forum tut mir gut. Nicht nur, weil es bedeutsam ist, sondern auch, weil unter Menschen, wie sie sich zufällig irgendwo antreffen lassen, nie so viel mir Bekanntes, Anregendes und Ersehntes zu finden ist. Durch meine Gedichte finde ich Klarheit, wenn - oder weil - sie auch oft viel Verwirrung tragen. Und in den Gedichten anderer finde ich Trost.

      Mir tut es wirklich leid, wie es eben einem Freund nur leidtun kann, zu lesen, wie du zwischen all den Zeilen deiner Vita so wenig Leben noch erkennen kannst. Nur, was soll ich dir anderes sagen? Dass dich, die du immerzu nur tätig bist und die die Welt nur bei Tage besieht, so viel Undeutlichkeit ängstigt, kann mich nicht überraschen und ich sage es nicht, um dich zu kränken, sondern um dir einen Weg aufzuzeigen - es muss ja nicht mein Weg sein. Wenn man einmal eine solche Verpflichtung eingegangen ist, wozu sich die meisten wohl genötigt sehen, sind alle Entscheidungen vorgezeichnet. Ich habe es dir schon oft gesagt und ich werde nicht müde, es zu sagen: Wir brauchen nicht mehr Pläne - wir brauchen mehr Zeit!

      16.1.2012

      Gut Babsi,

      wir werden nicht mehr darüber reden. Doch dann lassen wir auch meine Magisterarbeit unter den Tisch fallen.

      Oh ja, die Poesie ist mir ein Leuchtturm der Seele. Sie lässt mich wissen, auch wenn ich mich einsam wähne, dass es etwas Größeres, Bedeutsameres gibt als mein vergängliches Leid, obgleich dieses im Moment des Schreibens ganz im Mittelpunkt meiner Anschauung liegt. Jedoch in der Ferne dieses Licht zu erahnen, das mir den Weg weist, das mich erkennen lässt, wo ich bin, weitet meine Vorstellung von dem, was greifbar ist, fast als könnte ich die ganze Welt umgreifen, weil ich so viel mehr erschaffen kann, als die irdische Beschränktheit des Lebens preisgibt. Ja, so viel bedeutet mir die Poesie! Ob ich dafür jüngere Beispiele habe, fragst du? Erinnerst du dich noch an folgendes Gedicht aus glücklicheren Tagen?

       Gartenfest

      Der Garten war voll von geladenen Gästen.

      Ich fühlte mich einsam, verloren und fremd.

      Du lugtest so vorsichtig zwischen den Ästen

      bestimmt auf den Rotweinfleck auf meinem Hemd.

      Ich saß auf dem Bänkchen und zählte die Streben.

      Ich haderte. Sicherlich tat ich dir leid.

      Und plötzlich und unverhofft saßt du daneben

      in deinem gehäkelten weiß-beigen Kleid.

      „Du bist ja ein Tollpatsch; da muss ich dich hegen!“

      erwogst du und deutetest auf meine Brust.

      Zum Glück, ach ergoss sich ein prasselnder Regen.

      Wir stellten uns unter die Tanne, bewusst.

      Jüngst habe ich dieses Gedicht so ziemlich verunstaltet und da bemerkte ich, dass ich einen Abschluss suche, dass ich nicht mehr am Alten und Trügerischen hängen möchte:

       Gartenfest II

      Kaum bist du gegangen, ging ich in den Garten,

      wo schüchterne Blicke sich trafen zurück,

      wo willige Lippen, kaum fähig zu warten,

      sich labten einstmalig am flüchtigen Glück.

      Hier stehe ich nun, meine Hoffnung verwaschen.

      Hier stehe ich nun und zerschlage die Bank.

      Hier stehe ich, trinke nun Rotwein aus Flaschen

      und proste der Tanne zum zynischen Dank.

      Hier sehe ich mich, mit mir selbst traurig tanzen,

      ich tanze mit Rotweinfleck auf meinem Hemd.

      Nach allem, was war, bliebst im Großen und Ganzen

      du wie auf dem Gartenfest immer mir fremd.

      So viel Verwirrung, Enttäuschung und Wut, wie in dem Gedicht zu finden ist, so viel davon ist mir nun abgenommen. Gewiss, ich denke immer noch an sie und ja, ich widme ihr auch noch immer meine Gedichte, aber ich suche meinen Schmerz auf, stelle mich meinen Empfindungen, um irgendwann einmal nicht wieder zurückblicken zu müssen. Das Leid ist ein Dämon, der einem im Nacken sitzt, solange man die Augen vor ihm verschließt. Man muss ihm in die Augen blicken und ihn niederringen. Und dazu verhilft mir die Poesie.

      Du fragtest auch nach meinem Umgang. In der Welt der Dichter finde ich die Gespräche, die mich vervollständigen, neben dem Briefaustausch mit dir natürlich. Da könnte ich dir eine ganze Reihe von einzigartigen Persönlichkeiten aufzählen, die alle mehr Zeit wert sind, als der Tag Stunden hat. Am meisten erfreue ich mich an den Unterhaltungen mit einer gewissen Sanny aus Berlin, die die zartesten Gedichte schreibt - Worte, die mir in ihrer Schlichtheit und Wärme durch all mein Erinnern streifen, ehe ich sie verstehe, als seien sie ihrem unbefangenen und doch so klaren Weltempfinden, an dem ich seither in einigen Briefen Anteil nehmen durfte, entflogen in eine Ganzheit, wovon man sich als Leser als einen Teil empfindet. Das ist Poesie, wie sie zuvor nicht vorstellbar war! Nicht weil sie nach Größe trachtet, sondern weil man sich ihrer Bescheidenheit und Natürlichkeit nicht entziehen kann.

      Ich werde dir demnächst davon weiter berichten. Sanny hat mir gerade geschrieben. Und ich möchte noch rasch antworten, bevor ich zu Bett gehe.

      Gute Nacht!

      17.1.2012

      Liebe Babsi,

      ich wollte dir ja noch von meinem Wortwechsel mit Sanny berichten. Sie besitzt die angenehme Gabe, den ganzen Raum auf einen Gegenstand zu konzentrieren, bis man fast alles daran erkennen kann, um diese ganze Spannung schließlich in ein heiteres Nichts zu verwandeln. Das muss dir jetzt ganz und gar unverständlich erscheinen, verzeih! Lass mich es dir an unserem Gespräch von gestern Nacht erklären. Erst danach halte mich für verrückt!

      Sie nahm mein neues Gedicht in den Blick und wollte auf charmante, aber direkte Weise wissen, ob nur das lyrische Ich so leide oder ob es dem Autor ähnlich ergehe:

       Gedankenlos

      Die Gedanken sind stumm,

      durch die Nacht singt die Geige

      ein wunderbar trauriges Lied.

      Bin zu leben zu dumm

      und zu sterben zu feige,

      erleide, was um mich geschieht.

      Zunächst schrieb ich ihr in etwa das, was ich dir nicht zu erklären brauche, weil du das alles schon kennst und sie schenkte mir viel Achtsamkeit. Als sie aber fragte, warum die Gedanken stumm seien, wenngleich ich so viel darüber sinniere, verhalf