Alexander L. Cues

Die Ketzer von Antiochia


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Nachts, im Traum, sah er die vertrauten Gesichter der Großeltern und der Nachbarn in Kedesh. Ob sie wohl noch am Leben waren? Sein Schmerz tat unendlich weh, aber er weinte nur, wenn er allein war. Er vermisste die Umarmung des Vaters und seine aufmunternden Worte. Er ahnte, dass es jetzt auf ihn ankommen würde, und so gab er sich große Mühe, seine jüngeren Geschwister zu trösten, obwohl er sich selbst in seiner Trauer nach Trost sehnte. Es kostete ihn unendlich viel Kraft. Außerdem machten ihm seine Verletzungen noch sehr zu schaffen. Die Mutter hatte sich in Schweigen gehüllt. Der Schmerz hatte sie verstummen lassen. Erst nach einigen Tagen richtete sie die ersten Worte an ihren Sohn: „Du wirst stark und klug werden wie dein Vater. Er hat dir viel zugetraut.“ Diese Worte gingen Menachem nicht mehr aus dem Sinn.

      II

      Erst zwei Monate nach der Katastrophe konnte Menachem wieder aus eigener Kraft gehen. Dazu hatte er sich zwei Krücken aus Bauholz gebastelt, das er in Trümmern gefunden hatte. Er musste jetzt schnell auf eigenen Füßen stehen, denn nach dem Tod des Vaters war er es mit seinen sechzehn Jahren, der für die Familie verantwortlich war. Die Schäden in der von der Katastrophe heimgesuchten Stadt waren unübersehbar: Die Kolonadenstraße, einst der ganze Stolz des Magistrats, war übersät mit Bruchstücken der Tempel, Götterstatuen und öffentlichen Gebäude. Das Standbild der Stadtgöttin Tyche ragte nur noch als Fragment aus dem Schutt des einstmals daneben stehenden Tempels, dessen Säulen umgestürzt waren. Auch das Dach der Bibliothek war schwer beschädigt. Sogar die mächtige Stadtmauer hatte dem Beben nicht standhalten können. Die Häuserblocks in den griechischen, syrischen und jüdischen Wohnbezirken glichen einer Trümmerwüste. Am schlimmsten war jedoch, dass die Wasserleitungen und Kanäle, die vom Berg Silpios her die öffentlichen Zisternen der Stadt speisten, völlig zerstört waren. So liefen die Überlebenden in ihrer Not zum Orontes, um dort ihren Durst zu löschen, und tranken das verseuchte Wasser, in dem noch immer Leichen entsorgt wurden, ein schrecklicher Teufelskreis. Über allem lag eine gespenstische Stille. Staub und Leichengeruch machten einen Aufenthalt an vielen Orten in der Stadt fast unerträglich. Menachem und die Seinen verließen wie viele andere die Stadt und hielten sich auf dem freien Feld auf, jenseits der Stadtmauern, wo sie ein armseliges Zelt aus den Ziegenfellen ihres Vaters, die sie aus den Trümmern bergen konnten, errichtet hatten. Das schützte sie ein wenig vor den empfindlichen kalten Winden, die jetzt im Herbst aus Nordosten in die Ebene von Hatay Einzug hielten. Trotzdem konnte dieser Zustand keine Dauerlösung sein. Der junge Judäer überlegte, wo sie in der Stadt Schutz und Obdach finden konnten, und suchte Alexander auf, den jungen Griechen, dem er sein Leben verdankte. Alexander lebte mit seiner Familie in einem stark zerstörten Wohnhaus, wo sie einige Cellae, Räume des Erdgeschosses, zu Wohnhöhlen hergerichtet hatten. Die Menschen lebten dort mit der ständigen Bedrohung, von herabstürzenden Gebäuderesten erschlagen zu werden, hatten aber keine Wahl. Die Höhlen boten wenigstens Schutz vor der heraufziehenden Kälte des Winters. Die Eltern Alexanders waren Opfer des Erdbebens geworden. Er kümmerte sich mit seiner Schwester Berenike, zwei Jahre jünger als er, um die drei jüngeren Geschwister, die die Katastrophe überlebt hatten. „Glaubst du, dass wir das alles überleben können?“ fragte Menachem seinen Retter. „Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen. Und wenn der Kyrios kommt, hat alles Elend ein Ende. Bis dahin helfen wir einander, so gut es geht.“ Menachem glaubte nicht an Gottes Hilfe. Wo war sie? Um sie herum war bittere Not, Durst, Hunger, Seuchen, elendes Sterben. Wie konnte Alexander da von der Hilfe Gottes sprechen? „Wir machen eine Prüfung durch. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, auch nicht der Tod unserer Eltern. Was wir erleben, ist nur ein Vorspiel für die Wiederkunft des Kyrios. Wir beten darum, dass er kommt.“ Dann nannte Alexander ihm einen Namen: Porphyrios. „Du weißt doch, wie man Mauern errichtet und Dächer deckt. Geh´und grüße ihn von mir. Er ist Baumeister und sucht Helfer für den Wiederaufbau der Stadt. Er war mit meinem Vater befreundet. Du findest ihn im römischen Quartier, nicht weit von der Bibliothek entfernt.“ Auf dem Weg dorthin durch die zerstörte Stadt offenbarte sich ihm das von Elend beherrschte Bild, das er fortan nicht mehr vergessen würde. Noch immer lagen Leichen in den Trümmern, manchmal ganze Familien, die der Tod beim Essen ereilt hatte. Scharen von Ratten rannten umher und zankten sich laut um jeden Bissen. Im Hippodrom und an anderen Stellen, die man vom Schutt bereits geräumt hatte, verbrannte man Leichen, was einen bestialischen Gestank verursachte. Menachem dachte, dass die Toten wohl besser dran waren als jene, die jetzt von der Seuche befallen waren und fiebernd in den Trümmern umherirrten, wo der Tod auf sie wartete. Noch immer suchten Kinder nach ihren Eltern, hofften Überlebende darauf, ihre Angehörigen zu finden. Die staatliche Ordnung war völlig zusammengebrochen. Diebe und Plünderer waren unterwegs. Aber wer war ein Plünderer, und wer suchte unter den Trümmern nach eigenen, vielleicht schmerzlich vermissten Gegenständen? Niemand sprach mit einem anderen, jeder schien mit seinem eigenen Schmerz überfordert. Menachem hatte nur einen Wunsch: Schnell wieder heraus aus dieser Wüste aus Schutt und Leichen. Es schien ihm unvorstellbar, dass hier jemals wieder Menschen leben und arbeiten könnten. Er beschleunigte seine Schritte, musste aber immer wieder Umwege machen, weil Trümmer seinen Weg versperrten. Als er schließlich den höher gelegenen römischen Bezirk erreichte, bemerkte er, dass hier einige Häuser zwar stark beschädigt, aber nicht völlig eingestürzt waren. Ein trauriges Bild boten allerdings einige öffentliche Gebäude: das Nymphaeum, das Pantheon daneben, der Tempel der Diana und der Altar, auf dem für den Kaiser geopfert wurde. Wie sollte er hier nur den Architekten Porphyrios finden? Menachem setzte sich auf einen Stein und zog den Schlauch hervor, in dem sich sein kostbarer Wasservorrat befand. Er wollte gerade trinken, als er einen Schlag auf seiner Schulter spürte: „Her mit dem Schlauch, wenn dir dein Leben lieb ist!“ brüllte eine Männerstimme. Als er sich umdrehte, erblickte er zwei heruntergekommene Gestalten. „Wird es bald?“ drohte der zweite und hob einen Stein auf, um ihn gegen Menachem zu schleudern. Um der bedrohlichen Situation zu entgehen, hielt er den Unbekannten den Wasserschlauch hin. Plötzlich aber ertönte hinter ihnen eine ganz andere, Ehrfurcht gebietende Stimme: „Macht euch davon, elendes Pack! Der Zorn der Götter wird euch treffen!“ Als Menachem sich umdrehte, nahm er einen Greis im Priestergewand wahr, der sich mühsam mit Hilfe einer Krücke näherte und ihn anrief: „Was suchst du hier? Mach´dich fort, bevor sie dich hier niedermachen! Sie werden dir für das bisschen Wasser den Hals umdrehen! Die Götter zürnen, und keiner weiß, warum. Unsere Tempel und Altäre sind zerstört, es gibt keine Opfer mehr und keine Mähler. Und auch der Kaiser, den wir verehren, hat keinen Ort mehr in dieser Stadt. Sein Standbild ist zerstört wie das von Tyche und Diana. Mach`dich davon, es gibt hier nur noch Mörder und Plünderer!“ „Wer seid Ihr?“ „Ich bin Severus, Priester des Mithras. Ich bereite mich vor auf seinen Geburtstag.“ „Und wann ist das?“ „Sieh`her: Was siehst du auf diesem Stein?“ Menachem konnte die lateinischen Buchstaben D-I-M lesen. „Was hat das zu bedeuten?“ „Deo Invicto Mithrae – dem unbesiegbaren Gott Mithras geweiht. Er wird am Ende der Tage siegen. Er hat uns gerettet durch das Vergießen des ewigen Blutes. Das steht auf diesem Grabstein. Jeder römische Soldat glaubt daran, und du kennst ihn nicht einmal? Am 25. Dezember feiern wir seinen Geburtstag. Und nun sag´mir endlich: Was machst du hier, wo das Chaos regiert?“ „Ich suche Porphyrios, den Architekten. Wisst Ihr, ob er sich hier aufhält?“ „Schau nach, da vorn, wo die Bibliothek stand, da steht sein Bretterverschlag. Er baut die Stadt wieder auf, der Fantast!“ Menachem wunderte sich: „Sonderbarer Alter,“ dachte er. „Ein Priester des unbesiegbaren Mithras! Schimpft auf das Chaos und jammert darüber, dass nicht mehr geopfert werden kann. Was können uns Opfer helfen?“ Er kannte nur die Opfer im Jerusalemer Tempel. Als er klein war, nahmen ihn die Eltern einige Male mit auf die beschwerliche Reise nach Jerusalem zum Passahfest, wo er vor allem über die hohen Mauern und den Tempel des Herodes in der Stadt staunte. Er erinnerte sich, dass dort des Ewigen gedacht wurde, der die Vorfahren aus der Sklaverei in Ägypten geführt und ihnen die Tora geschenkt hatte. Es war jedes Mal eine festliche Atmosphäre. Viele Verwandte und Nachbarn waren mit ihnen gezogen und feierten in Jerusalem den Seder, an dem sie das Lamm schlachteten und die ungesäuerten Brote aßen. Sie brachten den Priestern Schafe und Ziegen als Opfer. Nur dort, so hatte er gelernt, durfte man Opfer bringen. Die beiden Wegelagerer hatten sich glücklicherweise davongemacht. Menachem grüßte den Priester des Mithras zur Verabschiedung mit Respekt und überquerte den Trümmerberg