Alexander L. Cues

Die Ketzer von Antiochia


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Auch er war bereits ein alter Mann, nach römischer Sitte gekleidet mit einer Toga, die ihn als Angehörigen des Ritterstandes auswies. „Salve! Was führt dich her zu mir? Hier findest du nur noch Trümmer.“ „Grüße richte ich Euch aus von Alexander, dem Sohn des Parmenides, der ein Opfer des Erdbebens geworden ist. Er hat mir erzählt, dass Ihr Helfer sucht für den Wiederaufbau der Stadt.“ „Du gehst an Krücken! Was kannst du? Hast du die großen Baumeister studiert?“ Menachem erzählte Porphyrios von seinen Erfahrungen beim Bau von Wänden und Dächern im jüdischen Viertel, was dieser interessiert zur Kenntnis nahm. „Und woraus waren deine Wände gemacht? Was ist übrig geblieben von deinen Wänden und Dächern? Stehen sie noch nach der Katastrophe?“ „Sie waren aus Lehmziegeln, mit Lehm bestrichen. Nichts davon hat das Beben übrig gelassen.“ „Siehst du, das überrascht mich wenig. Genau das müssen wir ändern. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.“ Er führte ihn zu einem Wohnhaus, von deren Art Menachem auf seinem Fußmarsch durch den römischen Bezirk viele gesehen hatte. Wie die dortigen Häuser war auch dieses stark zerstört, aber seine Grundmauern standen noch. Der Baumeister kratzte mit einem Stein an der Mauer. „Hast du schon mal so eine Mauer gesehen? Weißt du, was das ist?“ Der Junge schwieg. Er wusste nicht zu antworten, aber er war sichtlich beeindruckt. Keine Kerbe, nur ein oberflächlicher Kratzer war sichtbar. „Das ist römischer Beton. Die Mauern, die wir bauen, müssen aus diesem Material sein. Damit werden wir die Stadt wieder aufbauen, dem Erdbeben und dem Feuer trotzen.“ Menachem war beeindruckt vom starken Willen des Alten. Er fragte ihn: „Wie wollt Ihr wohl ein solches Vorhaben in die Tat umsetzen?“ Porphyrios antwortete voller Überzeugung, als würde es bald schon so weit sein: „Zuerst einmal müssen wir riesige Berge von Trümmern beseitigen. Wir brauchen Elefanten, Ochsen und große Transportkarren. Vor allem aber brauchen wir Menschenkraft – ein ganzes Heer von Sklaven wird nötig sein, um Platz zu schaffen.“ „Und woher soll das alles kommen?“ fragte Menachem, dem der Onkel einmal erzählt hatte, dass beim Bau des Tempels in Jerusalem mehr als tausend Sklaven eingesetzt worden waren, von denen mindestens die Hälfte ihr Leben gelassen hat. „Wir werden zehn- oder zwanzigtausend Sklaven brauchen, Hunderte von Elefanten und Ochsen und unzählige Transportkarren, um die Stadt wieder aufzubauen,“ fuhr der Alte unbeeindruckt fort. Es war für den Jungen unvorstellbar, woher der Baumeister das alles nehmen wollte. Außerdem würde man riesige Mengen Zement aus Vulkanerde benötigen, denn er wollte mit römischem Beton bauen. Woher sollte die kommen? Ganz abgesehen davon, dass alles viel, viel Geld kosten würde. Trotz seiner Zweifel an der schnellen Umsetzbarkeit der Visionen des Baumeisters imponierte dieser dem Jungen durch seine Überzeugungskraft sehr. Sie trafen sich von da an jeden Tag. Der Baumeister schätzte den Eifer des Jungen. Es gefiel ihm, dass er kluge Fragen stellte. So verschaffte er ihm und den Seinen ein Quartier neben dem ebenfalls zerstörten Palast des Präfekten auf der Orontes-Insel. Hier hatten sich viele Veteranen des römischen Heeres niedergelassen, darunter auch Gallier und Thraker. Die meisten von ihnen hatten nach ihrer Entlassung aus dem Heeresdienst das römische Bürgerrecht und einen namhaften Betrag aus der Militärkasse erhalten, mit dem sie sich Land gekauft hatten. Viele hatten von ihrem Recht zum Connubium Gebrauch gemacht und eine nicht-römische – meistens syrische – Frau geheiratet. Diese Leute waren jetzt, soweit sie das Erdbeben überlebt hatten, Nachbarn von Menachem, seiner Mutter und seinen Geschwistern. Ihre neue Wohnung bestand aus zwei kleinen Räumen, von denen der eine offenbar als Werkstatt eines Schuhmachers gedient hatte. Von ihrem Haus war das Erdgeschoss erhalten geblieben. Nebenan wohnte eine siebenköpfige Familie aus der Cyrenaika. Ihr Hausvater Herophilos war Arzt und verstand sich auf das Heilen von Knochenbrüchen. Viele Verletzte suchten ihn deshalb Tag für Tag auf, um bei ihm Hilfe zu finden. Die meisten mussten von Angehörigen zu ihm getragen werden, nur manche schafften es auf selbst gebastelten Krücken oder wunderlichen Karren hierher. Jeden Tag bildete sich eine lange Schlange bemitleidenswerter Gestalten vor dem Haus. Die Menschen litten nicht allein an den schrecklichen äußerlichen Verletzungen. Die meisten von ihnen waren schwermütig geworden, konnten oder wollten nicht mehr sprechen. Andere wiederum zitterten am ganzen Leib oder schrien, wenn Fremde ihnen zu nahe kamen. Menachem und seine Familie lebten zu dieser Zeit von dem, was er gespart hatte. Das würde sie wenigstens über den Winter bringen. Jedoch war es nicht einfach, überhaupt das Nötigste aufzutreiben. Gerstenmehl und Gemüse kaufte er von einem einheimischen Bauern, der jenseits des Orontes sein Land bestellte. Der Einkauf kostete ihn jedes Mal einen ganzen Tag und war außerdem gefährlich, weil er den Fluss auf den Steinen der zerstörten Brücke überqueren musste. Trotz dieser widrigen Umstände beschäftigte ihn aber vor allem seine Arbeit mit dem Baumeister, die durch ihre Regelmäßigkeit etwas Normalität suggerieren konnte, wenn auch nur zeitweise. Schon am frühen Morgen studierten sie die Pläne, die Porphyrios aus den Trümmern des Präfekten-Palastes geborgen hatte. Stadtpläne, für jeden Bezirk! Menachem hatte so etwas noch nie gesehen: Pläne für die öffentlichen Bauten, Hippodrom, Theater, Bibliothek, Tempel. Und die Zeichnungen der Stadtmauer mit dem Eisernen Tor und dem Stauwehr, das die Schmelz- und Regenwasser des Parmenios auffangen sollte. Der Alte erfreute sich an Interesse und Sachverstand des Jungen, der ihn nach Beschaffenheit und Stärke von Mauern und Säulen fragte. „Siehst du, was das Erdbeben zerstört hat? Eine große Stadt, die ihresgleichen nicht hat im römischen Reich. Sie ist nach dem großen Erdbeben vor fünfzehn Jahren wieder erstanden, schöner und größer als zuvor. Und sie wird auch jetzt wieder aufgebaut werden. Warum? Ich will es dir sagen: Der Kaiser braucht diese Stadt. Er braucht sie, um die Grenzen seines Reiches zu sichern. Und die Händler brauchen diese Stadt genauso. Von Ost nach West, von Süd nach Nord führen ihre Wege hierher. Sie sind die Adern, die die Schätze Arabiens und Ägyptens, Papyrus, Elfenbein und Weihrauch aus dem fernen Indien, Gewürze und Schmuck, kostbare Seidenstoffe aus China seit jeher in das Herz der Stadt transportieren. Jetzt weißt du, warum ich glaube, dass die Stadt Antiochia wieder erstehen wird. Und du, du wirst dabei sein. Du wirst bald an meine Stelle treten. Ich bin zu alt, um ihren Wiederaufbau zu betreiben. Du wirst die griechischen und römischen Baumeister studieren, und das am besten in Rom und Alexandria, wo die besten Schulen für Architektur des römischen Reiches zu finden sind.“ Der Junge hatte große Mühe, seine Freude zu verbergen. Er wusste nicht, wie er dem Alten danken sollte. Aber wie sollte seine Familie ohne ihn auskommen? Porphyrios schien seine Gedanken zu erraten: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen um deine Mutter und deine Geschwister. Sie werden ihr Auskommen haben.“ Der Baumeister hatte zuvor schon im kaiserlichen Palast vorgesprochen und den Legaten auf die Begabung Menachems aufmerksam gemacht. Der versprach seine Unterstützung bei der Förderung des Jungen, denn Porphyrios genoss ein hohes Ansehen bei den Autoritäten der Stadt, und das Interesse des Imperiums am Wiederaufbau der Stadt war groß.

      III

      Am dritten Tag der Woche vor dem Geburtstag des Mithras bekam Menachem Besuch. Alexander erkundigte sich, ob seine Empfehlung an den Baumeister erfolgreich war. Als Menachem ihm erzählte, was inzwischen geschehen war, gratulierte er ihm und lud ihn ein, die Synagoge der Christianer demnächst zu besuchen: „Am besten, du kommst zur nächsten Versammlung. Bring´deine Familie mit. Wir haben unseren Gästen nicht viel anzubieten. Aber das wenige, was wir haben, teilen wir gerne mit euch. Berenike wird auch dabei sein.“ Als Menachem seiner Mutter von der Einladung erzählte, war sie sehr erfreut über die Gelegenheit, ihre Retter wiederzusehen, um ihnen noch einmal danken zu können. Von dem Gespräch mit dem Baumeister hatte er ihr noch gar nichts erzählt, denn sie würde wohl erst einmal nicht schlafen vor Aufregung und sich große Sorgen um ihren Sohn machen. Aber er hatte nun die Stelle des Vaters eingenommen und trug große Verantwortung für sie und die anderen Kinder. Aus diesen Gründen würde er zuerst mit dem Onkel darüber sprechen und ihn fragen, ob er sich für die Zeit seiner Abwesenheit um die Familie kümmern würde. Am Abend nach dem Sabbat brachen sie frühzeitig auf, denn sie hatten einen beschwerlichen und gefährlichen Weg ins jüdische Viertel vor sich. Es war fast schon dunkel, und so hatte sich Menachem eine Fackel besorgt, die ihnen Licht spendete. Bei Dunkelheit trauten sich nicht viele Menschen auf die Straße, aus Angst vor Dieben und Räubern. Die Kinder fanden das alles jedoch ziemlich spannend, da es für sie der erste Ausflug nach langer Zeit gewesen war. Viele Monate lang waren sie mehr oder weniger eingesperrt in der kleinen Wohnung, so dass ihnen diese Abwechslung sichtlich gefiel. Die Mutter trug ihren Jüngsten, der ebenfalls neugierig auf die vielen neuen Bilder in der zerstörten Stadt reagierte.