Adolph Freiherr von Knigge

KNIGGE: Über Eigennutz und Undank


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da wird die Vernunft nicht zum

       Handeln bestimmt. Deswegen ist alles, was wir Tugend,

       Pflicht und Gesetz nennen, nur Resultat der Vernunft,

       gezogen aus der Ueberlegung des Zwecks und der

       dadurch herbeyzuführenden Folgen, die diese oder jene

       Handlung, wie die Erfahrung lehrt, hat und haben wird.

       Das heißt mit andern Worten: ein vernünftiges Wesen

       wird nur solche Handlungen mit Ueberlegung begehn,

       die zu etwas nützen, irgend eine Art von Vortheil

       bringen. Je näher ihm, seiner Person, seinem eignen Ich,

       dieser Vortheil, dieser Nutzen liegt, desto einfacher und

       dringender sind die Bewegungsgründe, denselben zu

       befördern.

       8.

       Hieraus folgt also, daß unsre jetzigen Begriffe von

       Tugend und Pflicht gar keine allgemeine, ewige,

       unwandelbare Wahrheiten, sondern nach den

       verschiedenen Erfahrungen und Verhältnissen auch

       verschieden sind und seyn müssen, ja! daß dieselbe

       Handlung, unter andern Umständen, gut, gleichgültig

       oder sträflich seyn, und daß Ein verständiges Wesen von

       gewissen Pflichten die erhabensten Begriffe haben, indeß

       das andre sich gar keine Vorstellung davon machen kann

       und noch ein andres dasselbe, was jenem Pflicht scheint,

       für ein Verbrechen hält. Um davon ein Paar Beyspiele zu

       geben; so frage ich: ob wohl ein vernünftiges Geschöpf

       einen Begriff von der Tugend der Mäßigkeit haben

       würde, wenn ihn nicht die Erfahrung schon gelehrt hätte,

       welche nachtheilige Folgen der unmäßige Genuß hat, wie

       doppelt schmackhaft uns das vorkommt, was wir eine

       Zeit lang entbehrt haben, und welche Freuden man

       fühlen kann, wenn man einen Theil seines Genusses

       aufgiebt, um die Wünsche und Triebe Andrer zu

       befriedigen? Es würde, behaupte ich, ohne diese

       Erfahrung gar keinen Begriff von der Tugend der

       Mäßigkeit haben; ja; die Mäßigkeit würde für ein solches

       Geschöpf keine Tugend seyn; vielmehr müßte das erste

       Gesetz in dem Codex seiner Pflichten also lauten: »Es ist

       der Vernunft und dem Gefühle gemäß, von allem, was

       man erlangen kann, so viel zu nehmen und zu geniessen,

       als Appetit und Vermögen verstatten.« Man frage ferner:

       was für reine Begriffe von der Heiligkeit eines

       rechtmäßigen Besitzes derjenige Mensch würde haben

       können, der nichts von Eigenthum wüßte? – Gewiß gar

       keine! Und so ist es mit allen übrigen Tugenden

       beschaffen. Und wie viel Fälle giebt es nicht in der

       bürgerlichen Zusammenlebung, wo das, was unter

       andern Umständen für die erhabenste Tugend gelten

       würde, wegen der zu erwartenden schädlichen Folgen

       würklich unverantwortliches Verbrechen wird!

       9.

       Um nun noch einmal das Ganze zusammen zu fassen; so

       giebt es keine reine, angebohrne, allgemeine Begriffe von

       Tugend und Pflicht; der Mensch, wenn man ihn von allen

       äußern Verhältnissen frey betrachtet, kennt nur Ein

       Gesetz, und das ist: die Gefühle und Triebe, welche ihn

       zum Handeln bewegen, durch die Vernunft zu gewissen

       Zwecken leiten zu lassen; bey diesen Zwecken nimmt die

       Vernunft auf die zu erwartenden Folgen Rücksicht,

       wobey ihm die Erfahrung zur Lehrmeisterinn dient; und

       da diese Folgen nach der Verschiedenheit der

       Verhältnisse, darinn er sich befindet, verschieden sind; so

       können auch seine Bewegungsgründe zum Handeln und

       die Gesetze, welche er sich dabey vorschreibt, nur nach

       diesen Verhältnissen beurtheilt werden. Endlich, er

       handelt also der Vernunft gemäß, zweckmäßig, richtig,

       gut, tugendhaft und pflichtmäßig, wenn seine

       Handlungen die Harmonie in diesen Verhältnissen, das

       heißt, wenn sie seine Glückseligkeit als isolirtes Wesen

       und als Theil des Ganzen befördern.

       10.

       Kindisch und von eingeschränkten Begriffen zeugend, ist

       es daher, wenn man höhern Wesen, und sogar der

       Gottheit, Tugenden beymißt. Da wir die Verhältnisse der

       höhern Wesen nicht kennen; so können wir nicht nur

       nicht wissen, welche Zwecke ihre Vernunft zum

       Augenmerke haben muß, sondern es ist uns auch

       gänzlich unbekannt, ob nicht andre Kräfte als die, welche

       wir Kräfte der Vernunft nennen, die höhern Wesen

       leiten.

       11.

       Um nun moralisch gut, tugendhaft und pflichtmäßig, das

       heißt, um so zu handeln, daß der Mensch seine

       Glückseligkeit, als isolirtes Wesen und als Theil des

       Ganzen, befördert, würken folglich drey Triebfedern:

       erstlich sein Gefühl oder Instinct, wodurch er

       unwillkührlich zu gewissen Handlungen hingezogen wird;

       zweytens seine Vernunft, die dies Gefühl auf bestimmte

       Zwecke leitet und seinen Verhältnissen anpaßt, und

       drittens die Uebereinkunft mit andern Menschen, die sich

       gegenseitig Vorschriften und Gesetze auferlegt haben,

       wozu endlich bey den mehrsten Völkern noch viertens

       religiöse Motive und Pflichten kommen, die aber so

       unendlich verschieden sind, wie die Vorstellungen,

       welche man sich unter den verschiedenen Völkern von

       der Gottheit und den Verhältnissen der Menschen zu

       derselben macht. Jede dieser Triebfedern einzeln würde

       uns oft misleiten, und nur eine wohl geordnete

       Zusammenwürkung derselben kann die höchste Moralität

       bewürken. Daß der, welcher bloß seinen Gefühlen folgt,

       keinen Anspruch auf moralische Vollkommenheit

       machen könne, bedarf keines Beweises. Wer bloß die

       Vernunft zu Rathe zieht, wird aber nicht weniger oft

       unmoralisch und egoistisch handeln; will er dann auch

       jedesmal die zu erwartenden nahen und fernen Folgen

       genau calculiren; so wird er oft den günstigen Augenblik