da wird die Vernunft nicht zum
Handeln bestimmt. Deswegen ist alles, was wir Tugend,
Pflicht und Gesetz nennen, nur Resultat der Vernunft,
gezogen aus der Ueberlegung des Zwecks und der
dadurch herbeyzuführenden Folgen, die diese oder jene
Handlung, wie die Erfahrung lehrt, hat und haben wird.
Das heißt mit andern Worten: ein vernünftiges Wesen
wird nur solche Handlungen mit Ueberlegung begehn,
die zu etwas nützen, irgend eine Art von Vortheil
bringen. Je näher ihm, seiner Person, seinem eignen Ich,
dieser Vortheil, dieser Nutzen liegt, desto einfacher und
dringender sind die Bewegungsgründe, denselben zu
befördern.
8.
Hieraus folgt also, daß unsre jetzigen Begriffe von
Tugend und Pflicht gar keine allgemeine, ewige,
unwandelbare Wahrheiten, sondern nach den
verschiedenen Erfahrungen und Verhältnissen auch
verschieden sind und seyn müssen, ja! daß dieselbe
Handlung, unter andern Umständen, gut, gleichgültig
oder sträflich seyn, und daß Ein verständiges Wesen von
gewissen Pflichten die erhabensten Begriffe haben, indeß
das andre sich gar keine Vorstellung davon machen kann
und noch ein andres dasselbe, was jenem Pflicht scheint,
für ein Verbrechen hält. Um davon ein Paar Beyspiele zu
geben; so frage ich: ob wohl ein vernünftiges Geschöpf
einen Begriff von der Tugend der Mäßigkeit haben
würde, wenn ihn nicht die Erfahrung schon gelehrt hätte,
welche nachtheilige Folgen der unmäßige Genuß hat, wie
doppelt schmackhaft uns das vorkommt, was wir eine
Zeit lang entbehrt haben, und welche Freuden man
fühlen kann, wenn man einen Theil seines Genusses
aufgiebt, um die Wünsche und Triebe Andrer zu
befriedigen? Es würde, behaupte ich, ohne diese
Erfahrung gar keinen Begriff von der Tugend der
Mäßigkeit haben; ja; die Mäßigkeit würde für ein solches
Geschöpf keine Tugend seyn; vielmehr müßte das erste
Gesetz in dem Codex seiner Pflichten also lauten: »Es ist
der Vernunft und dem Gefühle gemäß, von allem, was
man erlangen kann, so viel zu nehmen und zu geniessen,
als Appetit und Vermögen verstatten.« Man frage ferner:
was für reine Begriffe von der Heiligkeit eines
rechtmäßigen Besitzes derjenige Mensch würde haben
können, der nichts von Eigenthum wüßte? – Gewiß gar
keine! Und so ist es mit allen übrigen Tugenden
beschaffen. Und wie viel Fälle giebt es nicht in der
bürgerlichen Zusammenlebung, wo das, was unter
andern Umständen für die erhabenste Tugend gelten
würde, wegen der zu erwartenden schädlichen Folgen
würklich unverantwortliches Verbrechen wird!
9.
Um nun noch einmal das Ganze zusammen zu fassen; so
giebt es keine reine, angebohrne, allgemeine Begriffe von
Tugend und Pflicht; der Mensch, wenn man ihn von allen
äußern Verhältnissen frey betrachtet, kennt nur Ein
Gesetz, und das ist: die Gefühle und Triebe, welche ihn
zum Handeln bewegen, durch die Vernunft zu gewissen
Zwecken leiten zu lassen; bey diesen Zwecken nimmt die
Vernunft auf die zu erwartenden Folgen Rücksicht,
wobey ihm die Erfahrung zur Lehrmeisterinn dient; und
da diese Folgen nach der Verschiedenheit der
Verhältnisse, darinn er sich befindet, verschieden sind; so
können auch seine Bewegungsgründe zum Handeln und
die Gesetze, welche er sich dabey vorschreibt, nur nach
diesen Verhältnissen beurtheilt werden. Endlich, er
handelt also der Vernunft gemäß, zweckmäßig, richtig,
gut, tugendhaft und pflichtmäßig, wenn seine
Handlungen die Harmonie in diesen Verhältnissen, das
heißt, wenn sie seine Glückseligkeit als isolirtes Wesen
und als Theil des Ganzen befördern.
10.
Kindisch und von eingeschränkten Begriffen zeugend, ist
es daher, wenn man höhern Wesen, und sogar der
Gottheit, Tugenden beymißt. Da wir die Verhältnisse der
höhern Wesen nicht kennen; so können wir nicht nur
nicht wissen, welche Zwecke ihre Vernunft zum
Augenmerke haben muß, sondern es ist uns auch
gänzlich unbekannt, ob nicht andre Kräfte als die, welche
wir Kräfte der Vernunft nennen, die höhern Wesen
leiten.
11.
Um nun moralisch gut, tugendhaft und pflichtmäßig, das
heißt, um so zu handeln, daß der Mensch seine
Glückseligkeit, als isolirtes Wesen und als Theil des
Ganzen, befördert, würken folglich drey Triebfedern:
erstlich sein Gefühl oder Instinct, wodurch er
unwillkührlich zu gewissen Handlungen hingezogen wird;
zweytens seine Vernunft, die dies Gefühl auf bestimmte
Zwecke leitet und seinen Verhältnissen anpaßt, und
drittens die Uebereinkunft mit andern Menschen, die sich
gegenseitig Vorschriften und Gesetze auferlegt haben,
wozu endlich bey den mehrsten Völkern noch viertens
religiöse Motive und Pflichten kommen, die aber so
unendlich verschieden sind, wie die Vorstellungen,
welche man sich unter den verschiedenen Völkern von
der Gottheit und den Verhältnissen der Menschen zu
derselben macht. Jede dieser Triebfedern einzeln würde
uns oft misleiten, und nur eine wohl geordnete
Zusammenwürkung derselben kann die höchste Moralität
bewürken. Daß der, welcher bloß seinen Gefühlen folgt,
keinen Anspruch auf moralische Vollkommenheit
machen könne, bedarf keines Beweises. Wer bloß die
Vernunft zu Rathe zieht, wird aber nicht weniger oft
unmoralisch und egoistisch handeln; will er dann auch
jedesmal die zu erwartenden nahen und fernen Folgen
genau calculiren; so wird er oft den günstigen Augenblik