Markus Haack

Niobe


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hatte.

      „Verzeih, dass ich mich angeschlichen habe, aber ich wollte dich nicht stören. Ich möchte bloß ein wenig bei dir sein.“ Lao sah schemenhaft Niobes Gesicht im Glas und bemerkte die Anmut, die darin lag. „Sieh nur, der Abendstern steht schon am Himmel.“

      Niobe sah den Stern und sprach, noch immer flüsternd. „Überall ist Schönheit, hier unten und dort oben. Wir ergänzen uns gut darin, uns gegenseitig zu zeigen, dass wir von Schönheit umgeben sind. Du öffnest mir die Augen für die Blüten, die am Himmel blühen und ich zeige dir die Ebenbilder der Sterne hier unten.“ Hier machte Niobe eine Pause und Lao sah den Schatten, der über ihr Gesicht huschte. „Aber, ich habe Angst“, fuhr sie mit leiser Stimme fort, „dass die Schönheit verblasst. Überall verändern sich die Dinge so rasch, dass es mir den Atem raubt.“

      „Ja, die Schönheit hier unten ist vergänglich und sie ist bedroht. Alles, was wir am Firmament sehen und von dessen Schönheit nur ein schwacher Abglanz zu uns strahlt, überdauert Jahrmillionen. Nur ist es so unerreichbar fern und wir wissen so wenig darüber. Dort gibt es noch so vieles zu entdecken und zu lernen.“ Niobe hörte auch im Flüstern, welche Sehnsucht in den Worten ihres Bruders mitschwang.

      „Zu viel zu wissen kann der Schönheit ihr Geheimnis und damit auch ihren Zauber nehmen. Sieh noch einmal hinab auf die Kirschblüten. Ginge ich hinunter, um sie mir aus der Nähe zu betrachten und würde ich damit beginnen, die Blütenstände zu untersuchen, dann verlöre sich die Schönheit.“

      „Aber, du hast die Botanik studiert und nimmst die Schönheit doch noch wahr, obwohl du das Geheimnis dahinter kennst, so wie auch ein Medicus jeden Knochen des menschlichen Körpers kennt. Was hat dich angetrieben, mehr über das zu erfahren, was das Auge nicht sieht? Doch das Gleiche, was mich angetrieben hat, als ich das All von hier unten aus studiert habe und zur Akademie gegangen bin, um alles über die noch so unvollkommene Weltraumtechnik zu lernen.“ Lao sah, dass Niobe jetzt ein wenig lächelte.

      „Lao, du hast ein unausstehliches Talent, meine eigenen Argumente gegen mich zu verkehren. Du hast recht, Wissen und Empfinden sind nicht immer im Widerstreit zueinander und vielleicht ist dort oben auch tatsächlich noch viel Schönheit, die nur darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Ich habe nur Angst, dass es uns entzweien könnte, wenn du die Schönheit dort oben suchst und ich hier unten. Dann ist es so, als würden das ewige Yin und das ewige Yang voneinander getrennt.“

      Niobe und Lao standen noch so lange am Fenster, bis sie sich nicht mehr sahen und alles um sie herum dunkel geworden war. Dann schlich Lao sich aus dem Gemach seiner Schwester und ging in sein eigenes.

      Niobes Geschichte

      Niobe war nicht in den Clan hineingeboren worden. Vor nunmehr gut zwanzig Jahren wurde sie als Baby aus einer Einrichtung für Waisen in Ostia, der ärmsten Provinz des Distrikts Italia, von Caius Lingdao aufgenommen und als Andenken an seine Heimat mit in den Clan nach Tsingtao gebracht. Auf Terranova war es üblich, dass die reichen Clans Waisenkinder aufnahmen, die wie Geschwister von eigenem Blut zusammen mit den vielen Kindern des Clans aufwuchsen. In den Habitaten ringsherum war es nicht anders, dass die Alten mit den Jungen zusammenlebten und der Reichtum daran abzulesen war, wie viele Angestellte und Ziehkinder der Clan um sich scharen konnte. Das wurde lange Zeit auch als soziale Verpflichtung gesehen, von der nicht nur die Clans profitierten. Es war nunmehr aber zu beobachten, dass die Zahl der Bedürftigen und Waisen in den letzten Jahren immer weiter angestiegen war und auch manchen ehemals reichen Clans das Geld ausging, um ihre Angestellten zu halten.

      Niobe wusste um ihre Stellung innerhalb des Clans. Sie hatte zusammen mit Lao gelernt, gespielt und war für ihn wie eine Schwester. Dennoch konnte sie als Waisenkind nie ganz eine Lingdao werden und wusste, dass Laos Vater sie damals auch aufgenommen hatte, damit sein einziges Kind eine Spielgefährtin bekäme. Auch wenn es im Umgang zwischen ihr und Lao, seinen Eltern oder anderen untereinander blutsverwandten Mitgliedern des Clans fast nie zu spüren war, so fehlte ihr doch der Stolz der Lingdaos. Aber sie spürte, dass sie von ihren Zieheltern nicht nur für das geschätzt wurde, was sie ihrem Sohn bedeutete. Sie war nicht betrübt darüber, keine geborene Lingdao zu sein, denn sie wurde geliebt und es ging dem Clan und somit auch ihr noch verhältnismäßig gut.

      Als Lao an die Akademie gegangen war, um sein Studium in Weltraumtechnik aufzunehmen, war sie ebenfalls zur Akademie gegangen, um alles über die Botanik zu lernen. Die Wahl des Studienfachs war ihr nicht leicht gefallen, da sie lieber die Geschichte von Terranova oder Archäologie studiert hätte. Diese Fächer waren aber längst einem Nützlichkeitsdenken zum Opfer gefallen, das Einzug gehalten hatte, kurz nachdem die Xian das Regiment an der Akademie Tsingtaos übernommen hatten. Der Hohe Rat hatte mit einem Federstreich gebilligt, dass auf ganz Terranova Bildungseinrichtungen privatisiert werden durften. Die Folgen davon waren verhängnisvoll.

      Der Gram über die geringe Auswahl an Studienfächern dauerte nur kurz. Niobe fand sich damit ab, Botanikerin zu werden. Sie liebte alles, was lebte und hatte sich schon seit Kindheitstagen an der Zartheit der Blütenblätter oder dem morgendlichen Tau an den Gräsern erfreuen können. Auch sah sie mit Freuden den Aufgaben entgegen, die sich ihr als Pflanzenpflegerin in der etwas heruntergekommenen Biosphäre der Lingdaos noch bieten würden.

      Mit der gleichen Liebe und Sorgfalt, mit der sie Pflanzen behandelte, spielte sie auch mit den Kindern des Clans oder pflegte die Alten. Niobe verstand es, die richtigen Worte und Gesten zu finden, um den Kindern die kleinen Bekümmernisse zu nehmen und die Alten zu erheitern, wenn sie ihres Todes gedachten. Oft bekam sie bei solchen Gelegenheiten zu hören, dass sie so gut zu allen sei, aber sich selbst dabei vergesse. Sie antwortete dann immer, dass sie vom Wohlergehen und Glück jedes Lebewesens um sich herum etwas aufnähme und in ihrem Innern gar nicht so viel Glück fassen könne, wie ihr von allen Seiten zuteil werde. Für Verrichtungen des häuslichen Alltags wurde sie nicht gebraucht, denn das erledigten Maschinen flink und beinahe ohne dabei von den Menschen des Habitats bemerkt zu werden.

      Niobe und die Kunde von der Sternenstadt

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 4. Monat

      Manchmal verließ Niobe auch das Habitat und wanderte über die Pfade, die zwischen den allerorts angelegten Landschaftsgärten verliefen. Es war früher eine herrliche Ruhe überall gewesen. Man hatte nur das gedämpfte Reden anderer Spaziergänger gehört oder die Schritte von Menschen, die ohne Eile von ihren Habitaten aufgebrochen waren, um zu einer der Kuppeln zu laufen. In manchen der Hallen blühte der Handel mit Waren von überall her noch immer wie in ihrer Kindheit. In anderen konnte man sich noch immer vergnügen oder aber seine Fähigkeiten erweitern. Alles war aber teurer geworden und an vielen der Hallen prangte heute das Signet der Xian oder einer der anderen großen Clans. Auch sah Niobe auf ihren Spaziergängen immer häufiger Menschen ohne Obdach, die an Brotresten nagten. Noch zu Zeiten ihrer Kindheit wäre sofort jemand gekommen und hätte Hilfe angeboten, wenn ein anderer solche Not erlitten hätte. In den Jahren, die seitdem vergangen waren, war ein notleidender Mensch am Wegesrand aber schon ein vertrautes Bild geworden und jeder hatte seine eigene Last zu tragen.

      Niobe hatte einige Orte, die sie außerhalb des Habitats gerne aufsuchte. Dafür musste sie mit einer Gondel fahren, die lautlos durch Röhren aus einer unverwüstlichen Kohlenstofffaser glitt. Die gläsern schimmernden Röhren verliefen an manchen Stellen unterirdisch durch Tunnel, durch die vor langer Zeit noch stählerne Wagons auf Schienen gefahren waren. Diese einst staatlich betriebenen Gondeln gehörten seit einigen Jahren auch den Xian, was einen stetigen Preisanstieg zur Folge hatte.

      Eine kaum mehr beachtete museale Attraktion Tsingtaos waren zwei Haltestellen, an denen der Innenausbau und sämtliche Einrichtungen, die seit bald 1800 Jahren dort existierten, konserviert worden waren. Niobe war dort gerne, weil es ein merkwürdiges Gefühl in ihr wachrief, dass alle Dinge und alle Zeiten irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Oft war sie alleine dort und dachte darüber nach, warum sie vieles so anders empfand als die meisten Menschen, die sie kannte. Es musste etwas in ihr sein, das sie in allen Dingen mehr erkennen ließ, als die Oberfläche preisgab. Was war heute mit dem einst großen Geschichtsbewusstsein geworden, das die meisten Bewohner von