Markus Haack

Niobe


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das Chaos, dass wir ein für alle Mal beendet zu haben glaubten. Wenn nur ein einziger Flecken Erde mit einer Gruppe von Separatisten darauf aus dem engen Bund heraustritt, den die gesamte Menschheit geschlossen hat, dann sind wir alle gescheitert und fallen zurück in ein Zeitalter der großen Kriege.“

      Das war der Zeitpunkt für den dramaturgischen Kniff, den Caius sich für diesen und ähnliche Fälle zurechtgelegt hatte. Er griff hinter sich in das Regal und zog ein offensichtlich sehr altes, in Leder eingebundenes Buch hervor.

      Caius las. „Wir müssen unsere Kräfte mobilisieren gegen den Feind, der in unseren eigenen Reihen, in unserer Mitte lebt und nur darüber nachsinnt, wie er uns schaden kann. Wir müssen alles über ihn wissen und dafür unsere eigene Freiheit für einen Moment opfern, um am Ende freier zu sein als jemals zuvor.“ Caius sah auf und blickte seinem Gegenüber ins Gesicht.

      „Welche Weisheit aus vergangenen Tagen“, sagte Secundus.

      „Sie scheinen nicht zu wissen, von wem diese Worte stammen. Sie sind vor mehr als tausendfünfhundert Jahren von einem Unmenschen gesprochen worden, der die Welt in dem Blut seines eigenen Volkes getränkt hat. Es war Marcus Valerius, dessen Namen und Schandtaten wir nie vergessen sollten.“

      Den Rest seiner Rede konnte Caius ungestört halten, da niemand es mehr wagte, ihm die Stirn zu bieten und womöglich auch auf so peinliche Weise bloßgestellt zu werden. Caius appellierte mit aller Macht gegen eine Fortführung der Politik, die er für alle Missstände verantwortlich sah. Alles, was dadurch erreicht würde, sei nur eine Aufwiegelung weiterer Aufstände und eine Unzufriedenheit mit der Regierung, die auch in der breiten Masse ankommen könnte und bald schon nicht mehr nur einige wenige zu Taten drängen würde. Die tradierten Werte von Terranova seien wieder stärker in den Fokus zu rücken. Die größtmögliche Freiheit des Einzelnen schüfe demnach im Großen eine Kontinuität von Wohlstand und Frieden. Diese Werte waren vor langer Zeit einmal in dem für alle Menschen verbindlichen Buch der Ethik festgeschrieben worden, dass Caius den Ratsmitgliedern als Nachtlektüre empfahl. Den Abschluss seiner Rede bildete ein Plädoyer für mehr kollektive Demut, die dem Größenwahn Einzelner für immer Einhalt gebieten müsste.

      Bevor das Wohngemach wieder zum Wohngemach wurde und nicht mehr Projektionsfläche der hohen Politik von Terranova war, nahm Caius den förmlichen Dank der Ratsvorsitzenden entgegen und hörte den verhaltenen Applaus einiger weniger Ratsmitglieder und die empörten Rufe der anderen, die in seinen Ohren noch eine Weile nachhalten, als es wieder still geworden war.

       Lao und Niobe

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat

      Lao war immer da gewesen. So sehr sie sich auch bemühte, konnte sie sich keine Erinnerung an eine Zeit wachrufen, in der er ihr nicht nahe gewesen wäre. Wollte sie ihm etwas zeigen, so musste sie ihn nur rufen und er kam, sah es an und kommentierte es auf seine unverwechselbare Art. Hatte sie wegen etwas Gewissensbisse oder litt sie, weil ihr Ziehvater auf sie geschimpft hatte, dann kam Lao und nahm ihr etwas von ihrer Last. Das war nicht selten geschehen, da Caius sie liebte und besorgt um sie war. Lao liebte er nicht weniger, doch ließ er ihn öfter das tun, was er wollte. Wahrscheinlich erinnerte sein Sohn Caius mehr an den eigenen rebellischen Geist seiner Jugendtage und er wusste ja, was sich daraus entwickelt hatte. Zu ihr, das wusste Niobe, hatte Caius eine besondere Beziehung, da sie ihn mit ihren großen dunklen Augen an die Augen seiner eigenen Mutter erinnerte, von der er so wenig gehabt hatte. Mit ihrer honigfarbenen Haut erinnerte sie ihn an die Erde seiner Heimat. Ihr braungelocktes Haar ließ ihn an die Wogen des Mare Nostrum denken. Ihre Gestalt war weniger zierlich als die der jungen Mädchen von Tsingtao, doch sie war hochgewachsen und in ihren Proportionen erkannte Caius das Ebenmaß wieder, an dem Marcus Vitruvius Pollio sich in seiner Proportionenlehre orientiert hatte, die in Rom seit mehr als zwei Jahrtausenden in der Architektur hochgehalten wurde. Niobe war nicht unglücklich. Sie liebte ihren Ziehvater. Dennoch spürte sie immer seine Präsenz und bisweilen auch einen Drang, von zuhause fortzugehen. Doch sie war darin weit mehr im Widerstreit mit sich selbst als Lao, der schon früh davon gesprochen hatte, einmal in weite Ferne aufbrechen zu wollen. Niobe fühlte auch in sich einen unbestimmten Forscherdrang. Hier aber hatte sie Heimatgefühle, die sie nur in den sanften Hügeln Tsingtaos empfand, die den einst so lieblichen, heute aber zunehmend verkommenden Ort am sachte wogenden Meer umkränzten. Was sie hier hielt, war aber vor allem die Liebe zu ihren Angehörigen. Wenn sie darüber nachdachte, was ihr hier das Wertvollste war, dessen Verlust für sie am schmerzlichsten wäre, dann dachte sie zuerst an Lao und dann an ihre Zieheltern. Was würde aus ihren Heimatgefühlen werden, wenn einer von ihnen nicht mehr hier wäre? Sie hatte Angst, dass Lao, der sich einmal mit einem Vogel mit gestutzten Flügeln in einem goldenen Käfig verglichen hatte, etwas Dummes tun würde, nur um aus diesem Käfig auszubrechen. Sie wusste, dass es immer sein Traum gewesen war, ins All aufzubrechen und sie wusste auch, dass er dafür vieles aufzugeben bereit war.

      Lao war tief in Gedanken, als Niobe auf das Dach des Bauwerks kam, das der reiche Clan der Lingdaos sich mit niemandem teilen musste. Lao sah an ihrer Gangart und dann in ihren Augen, dass etwas sie bedrückte. Sein Eindruck bestätigte sich, als Niobe in einem Tonfall unterdrückter Melancholie zu ihm sprach.

      „Das Dach war schon immer dein Lieblingsplatz gewesen. Hier bist du den Sternen am nächsten.“

      Lao nickte und nahm einen Schluck aus dem Glas, das er in der Hand hielt. Als er ihr antwortete, versuchte er Heiterkeit in seine Stimme zu legen, so als müsste er sie wegen einer Sache trösten. Nur wusste er noch nicht, worum es sich dabei handelte. „Setz dich doch zu mir und trink einen Quimtau mit mir.“

      Niobe setzte sich und ließ die klare, rötlich gefärbte Flüssigkeit in ein mehrfach gewundenes und gedrechseltes gläsernes Gefäß einlaufen. Nachdem sie daran genippt hatte, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort.

      „Lao, ich habe Angst vor der Zukunft.“

      Lao schüttelte sachte den Kopf und seufzte leise. „Was ist denn los? Wovor genau hast du Angst? Sorgst du dich wegen der Veränderungen, die auf Terranova vorgehen? Ich glaube nicht, dass es uns dadurch so bald schlechter gehen wird. Ich glaube sogar, dass wir langfristig zu den Profiteuren gehören werden.“ Laos Stimme wurde lauter und im Tonfall härter, als er weitersprach. „Wenn es mehr Licht in unserer Welt geben soll, dann müssen wir auch den Schatten in Kauf nehmen. Wichtig ist nur, dass wir uns nicht in den Schatten verkriechen, weil wir Angst vor der Sonne haben. Lass dich also nicht von deinen Ängsten leiten.“

      Niobe verzog das Gesicht fast unmerklich, als sie die Härte in den Worten ihres Bruders spürte. Auch Lao spürte die Veränderung. Er hatte Niobe nicht weiter verunsichern wollen. So traurig und durcheinander hatte er sie lange nicht erlebt.

      „Niobe, ich verstehe ja, dass du Angst hast, aber...“, hier unterbrach ihn Niobe. „Es ist nicht das, was du denkst. Vor den Veränderungen habe ich auch Angst. Fast jeder hat Angst davor. Viel mehr Angst aber macht mir die Vorstellung, dass unser Leben sich so rasch verändert.“ Sie hielt kurz inne und es schien, als ringe sie nach Worten. „Vielleicht kann unser Clan profitieren von den Veränderungen, aber was macht das mit uns? Wir verraten das, was uns immer wichtig war, nur damit es uns weiterhin gut geht. Aber, das war es auch nicht, was ich dir eigentlich sagen wollte.“ Hier schwieg sie erneut für einige Sekunden, bevor sie Lao direkt in die Augen sah und das Wort wieder ergriff. „Ich habe Angst davor, dass du fortgehst.“

      Lao lachte kurz auf. „Fortgehen? Wieso sollte ich? Was mir auf der Welt wichtig ist, das ist hier. Die Sterne sind so fern, dass ich ihnen nicht bedeutend näherkomme, wenn ich von hier aufbreche. Ja, ich hatte einmal davon geträumt, dass ich später einmal auf Tetrathlon würde forschen können. Die Raumstation gehört aber seit ein paar Jahren den Antracis und außerdem, weshalb sollte ich dort gebraucht werden. Ich weiß, wie man Antriebe entwickelt, aber die wenigsten Ingenieure haben jemals diesen Planeten verlassen. Außerdem, was ist das schon? Selbst wenn ich als Techniker ein paar Jahre in einer der Minen im All arbeiten könnte, hätte das noch wenig zu tun mit dem Aufbruch in die Tiefen des Alls, von dem ich träume. Vater würde mir auch niemals erlauben, für unsere Feinde zu arbeiten. Er ist so stur. Er versteht die Zeichen der Zeit einfach nicht und