Markus Haack

Niobe


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trat ein und sprach kein Wort, sondern hielt Ragnar bloß einen Brief entgegen, der auf Papier gedruckt war. Dieses Material war in Zeiten der Implantatkommunikation fast in Vergessenheit geraten. Der Widerstand bediente sich nur dann eines Boten, wenn der Inhalt einer Botschaft von äußerster Brisanz war. Der Widerstand wusste, dass der Hohe Rat begonnen hatte, ihm mit Spionen aufzulauern.

      Ragnar dankte dem Boten und bat ihn, seine schwere Kleidung abzulegen und sich am Kamin im großen Salon aufzuwärmen. Dort brannten immer ein paar Holzscheite. Ragnars Frau Vara würde ihm gerne auch eine warme Suppe servieren. Währenddessen zog Ragnar sich in sein Zimmer zurück, das ebenfalls in einem hohen Turm lag, der sich aber am anderen Ende des Anwesens befand. Dort breitete er den Brief auf einem alten, schweren Holztisch mit kunstvollen Schnitzereien aus und las den Inhalt.

      Der Brief von Dalila

      Verehrter Ragnar,

      dieser Brief wird Dich am Ende eines Tages erreichen, der für uns einen Wendepunkt darstellt. Der Hohe Rat hat heute früh unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit einen Beschluss gefasst, mit dem er, wieder einmal, einen Verrat an den Werten des Kanons und somit an seinen eigenen Werten begangen hat. Erst kürzlich wurden zahlreiche einst angesehene Akademien an Höchstbietende verkauft. Dann wurden Gesetze zur Eugenik neu gefasst und es wurde im Namen der Sicherheit die Einrichtung einer Gedankenpolizei beschlossen, die in unsere Implantate eindringen wird. Von all dem weißt du bereits. Der neueste Verrat an den Werten von Terranova verdient aber unsere besondere Aufmerksamkeit. Das Gerücht, von dem Du bereits durch mich gehört hast, ist wahr. Der Bau der Sternenstadt findet statt. Einige Ratsmitglieder schienen ahnungslos zu sein, wie weit die Pläne bereits gediehen waren. Andere, die den kanonischen Werten von Terranova weniger zugetan sind und wieder andere, die leicht durch die entsprechende Menge an Denaren zu manipulieren sind, wurden offenbar schon früher eingeweiht und haben in einer geheimen Kommission bereits alles beschlossen, was dem Hohen Rat heute vorgelegt wurde. Die Abstimmung soll eine reine Farce gewesen sein. Das Ergebnis stand im Vorhinein schon fest. Es soll sehr viel Geld geflossen sein, mit dem der Hohe Rat den Polizeistaat ausbauen will. Der Hohe Rat ist zum Spielball der mächtigen Clans, allen voran der Xian, geworden. Wir müssen uns vereinen und handeln. Wenn wir mit politischen Mitteln keine Wirkung erzielen, dann müssen wir zu anderen Mitteln greifen, ohne dabei unsere Maxime des friedlichen Widerstands aufzugeben.

      Ich habe auch den Kontaktpersonen der Gruppen in den anderen Distrikten geschrieben und alle zu einer Zusammenkunft in Scotia gebeten, wo wir unsere Thingstätte einrichten werden. Ich schreibe bewusst von der Widerstandsbewegung, denn ich bin davon überzeugt, dass wir unsere gemeinsamen Ziele finden werden und uns zu einer einzigen großen Bewegung mit neuer Schlagkraft formieren können. Uns alle verbindet, dass wir uns eine Regierung wünschen, die nicht den Interessen der Mächtigen folgt. Es darf nicht länger sein, dass die Regierung das Volk drangsaliert und die Sicherheit einzelner gegen die Freiheit der vielen gegeneinander ausspielt. Dort, wo Macht und Reichtum zuhause sind, wachsen die Bauten mit ihren Wasserfällen und paradiesischen Biosphären in den Himmel, während immer mehr Menschen an Hunger leiden. Wir müssen gegen solche Entwicklungen angehen, die auf Terranova Jahrhunderte lang als überwunden galten und deren trauriger Höhepunkt in einem Projekt zu erkennen ist, das von überall her die fähigsten Leute abzieht und die Vormachtstellung der Xian ausbauen wird.

      Jede Gruppe des Widerstands hat ihre eigenen Möglichkeiten, den friedlichen Kampf dagegen zu unterstützen.

      Frieden in Freiheit

      Dalila

      Ragnar Lodbrok und die Bibliothek des Lebens

      Ragnar führte als leitender Botaniker eine einzigartige Bibliothek des Lebens, in der von jedem bekannten Lebewesen, sei es Tier oder Pflanze, eine sehr große Menge an Eiern oder Samenzellen tief unten im Permafrost verwahrt wurden, die für jede Art ein breites Spektrum genetischen Codes repräsentierte. Seine Frau, die eine ausgebildete Biochemikerin war, sowie ein kleines Team von fünf Wissenschaftlern und gelegentlich ein paar Gastwissenschaftler standen ihm dabei zur Seite. Sie hatten lange recht gut davon gelebt, weil der Hohe Rat von Terranova das Projekt für die Erhaltung der Artenvielfalt mit großzügigen Mitteln bedacht hatte. Seit einigen Jahren verebbte der Zufluss öffentlicher Denare jedoch, weil überall nur noch die Sorten, die in den Biosphären bereits vorhanden waren, schon vorort repliziert wurden. Der Hohe Rat sah keinen Sinn mehr darin, die Finanzierung des Erhalts der anderen Millionen von Arten zu garantieren, die man in den urbanen Naherholungsbieten nicht brauchte. Das eingesparte Geld machte den Hohen Rat blind für die Erkenntnis, dass eine Artenarmut und eine Armut an Genom in den Biosphären langfristig verheerende Folgen haben würde. Die fehlenden Mittel musste Ragnar vermehrt durch Privatleute ausgleichen, denen er vor zwei Jahren erstmals den Zugriff auf seine Datenbanken gewährt hatte. Reiche Bürger, darunter auch die Lingdaos, zahlten teilweise hohe Summen dafür, in ihren privaten Biosphären Sorten pflanzen zu können, die es nirgendwo anders gab.

      4. Teil

      Stiller Abschied von Niobe

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 7. Monat

      Die Zusage kam per Bote. Lao nahm den Brief entgegen, der ihm die Gewissheit gab, dass er vom Führungskomitee der Sternenstadt genommen worden war. In weniger als zwei Wochen würde er aufbrechen. Von seinem Freund Jun hatte er bereits am Tag zuvor erfahren, dass er auf seine Bewerbung hin ebenfalls eine Zusage erhalten hatte. Sie würden gemeinsam in der Sternenstadt wohnen.

      Seinen Eltern und Niobe hatte er nichts von der Zusage erzählt. Er hatte nicht mehr von der Sternenstadt gesprochen und auch Niobe und seine Eltern hatten darüber geschwiegen. Caius schien noch zu hoffen, dass Laos Plan nur ein Anfall von Unvernunft war, der sich ganz von selbst wieder legen würde. Offenbar glaubte auch Niobe wirklich daran, dass Lao.am Ende nicht gegen den Willen seiner Eltern und gegen die Prinzipien des Clans handeln würde. Die Stimmung hatte sich bald fast wieder normalisiert. Nur Ailan war oft tief in Gedanken und blickte mit Wehmut zu Lao herüber. Ihr hatte er unmissverständlich klargemacht, dass er gehen würde.

      Und sein Entschluss stand noch unverrückbar fest, obwohl er gleichzeitig tiefe Trauer empfand. Er würde sich heimlich davonstehlen wie ein Dieb. Er konnte sie sowieso nicht umstimmen, also wollte er seine Familie an den letzten Tagen vor seiner Abreise noch einmal so erleben, wie er sie in Erinnerung behalten wollte. Tatsächlich fühlte er sich dabei aber wie ein Dieb und auch noch wie ein Lügner, der schon davon wusste, dass er denen, die er am meisten liebte, die Freude und auch etwas von ihrer Ehre rauben würde. Sein Pakt mit den Xian würde für einiges Aufsehen in den Clans sorgen, von denen die Lingdaos immer für ihre Integrität geschätzt worden waren. Besonders litt Lao aber unter der Vorstellung, Niobe zurückzulassen. Er war mit ihr aufgewachsen und hatte alles mit ihr geteilt. Eines aber wusste er: Niobes Trauer und Enttäuschung würden sich irgendwann legen und sie würde ihr Glück schon finden. Sie war eine starke Frau geworden. Hier könnte sie es mit ihren Fähigkeiten sicher bald zu etwas bringen und würde dem Clan noch viel Freude und auch Ehre bereiten. Die spontane Idee, sie mitnehmen zu wollen, war irrsinnig gewesen. Er sah jetzt klar, dass er nicht bei Verstand gewesen sein konnte, als er daran gedacht hatte.

      Dennoch würde es schwer werden, sie hier zurückzulassen. Sie bedeutete ihm mehr als jeder andere Mensch. Er fühlte, dass es für ihn der schmerzlichste Verlust sein würde, sie nicht mehr sehen und hören zu können. Niemand hatte ihn je auf die Weise zum Lachen bringen können wie sie. Selbst dann, wenn er noch so niedergeschlagen war, hatte sie immer etwas gefunden, womit sie ihn aufmuntern konnte. Aber, die Sternenstadt war für ihn die Chance, seine Träume vom All zu verwirklichen. Kein Abschied verläuft ohne Schmerz, aber bald würde alles gut werden, dachte er. Es würde doch auch kein Abschied für immer werden. Auch seine Eltern würden ihm irgendwann verzeihen.

      Als er nun zu Niobe trat, die sich gerade in der Biosphäre des Habitats befand, sah er sie schon mit anderen Augen als noch ein paar Stunden zuvor, als die Zusage noch nicht eingetroffen war. Es war ihm vorher noch unwirklich erschienen, dass er bald nicht mehr hier sein würde.

      Niobe