Markus Haack

Niobe


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sprach mit einer von Wut verzerrten Stimme, die Lao von seiner Mutter nicht kannte. „Ich verstehe dich nicht. Es ist nicht nur, dass du irgendwelche Traditionen damit brichst oder anders bist als deine Vorfahren oder deine Neffen und Nichten, die fast alle ihren eigenen Weg gegangen sind. Ich gebe nichts auf Zwang und Sippenhaft, sondern würde jedem dazu raten, seinen eigenen Weg zu suchen. Es macht mich nur wütend, dass dein Weg, für den du dich offenkundig entschieden hast, dich von uns wegführt - nicht nur physisch, sondern in allem, was uns ausmacht und was uns heilig ist. Es wird auch deinen Vater umbringen, verstehst du das?“

      „Mutter, ich gehe nicht, weil ich euch verlassen möchte. Ich kann mir keine besseren Eltern vorstellen. Ihr habt mir immer gegeben, was ich gebraucht habe. Ich habe mich immer von euch geliebt gefühlt. Und, wenn du es so sehen willst, habt ihr mir auch das gegeben, was mich jetzt scheinbar von euch entfernen wird, nämlich den Glauben an mich selbst und daran, dass meine Träume wahr werden können. Ihr habt mir Grenzen gezeigt, aber habt mich doch so geliebt, dass ihr mein Verlangen danach, diese Grenzen zu überwinden, nicht genommen habt, weil ihr wusstet, dass ihr mich damit verlieren würdet. Ich konnte immer frei zu euch sprechen. Dafür liebe ich euch. Ich werde nie einem Menschen näher sein, egal wie weit weg ich bin.“

      „Lao, wir beide lieben dich, aber diese Grenzen, die wir dir gezeigt haben, haben wir dir nicht ohne Grund gezeigt. Vor allem dein Vater.“ Die Mutter unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Die Grenzen habe ich nie so starr ausgelegt und habe immer beschwichtigende Worte gefunden, wenn dein Vater wütend wurde und dich auf den rechten Pfad, wie er sich ausdrückte, bringen wollte. Es mag dir immer so vorgekommen sein, dass er eingeknickt ist und dir zuliebe die Grenzen aufgeweicht hat, aber dieser Eindruck ist falsch. Er hat es mir zuliebe getan und weil er selbst zwischen den Kulturen steht und sich seiner dadurch oft nicht sicher war. Es war meine Milde, die gegen seine Härte stand. Es waren aber immer Fälle, die in ihrer Bedeutung gering waren gegen das, was du für dein zukünftiges Leben beschlossen hast. Es wird nicht wieder so sein, dass ich deinen Vater umstimmen kann. Nicht diesmal, weil ich selbst es nicht zulassen kann, was du vorhast.“

      „Mein Entschluss kommt doch keineswegs so plötzlich und unerwartet. Ich weiß, dass mein Vater schon die Wahl meines Studienfachs missbilligt hatte, weil ich damit mit der Tradition des Clans gebrochen habe, ein öffentliches Amt mit Würde und Ansehen anzustreben. Dies, so musste ich täglich auf die eine oder andere Art erfahren, sei der nobelste Weg, den Geist und Willen in den Dienst des Kanons zu stellen, auf den sich die Verfassung von Terranova beruft. Ich respektierte meinen Vater und war es leid, mit ihm zu streiten, weshalb ich es immer darauf beruhen ließ, ihm in den Glauben zu lassen, dass alles, was er sagte, richtig sei. Meine Träume vom Weltall und mein Verlangen danach, im Denken ganz frei zu sein, verschwieg ich euch beiden. Aber, ich will nicht immer an den Ketten eurer Werte und Denkweisen hängen. Ich will nicht alles beim Status Quo halten, um ja nicht die Geister einer schrecklichen Vergangenheit heraufzubeschwören. Nicht verheimlicht habe ich euch aber mein Interesse für Technik und Wissenschaft, das Vater spätestens seit der Wahl meines Studiums nicht mehr als jugendliche Verirrungen abtun konnte.“

      „Lao, Vater hat sich längst damit abgefunden, dass sein Sohn seinen eigenen Weg finden würde. Du musst aber verstehen, dass der Plan der Xian in seinen Augen und auch in meinen eine Monstrosität ist und du mit deiner Teilhabe daran alles verrätst, woran wir immer geglaubt haben. Du hast sicher eine Idee davon, welche Interessen die Xian mit ihren Plänen wirklich verfolgen. Und trotzdem willst du dorthin. Ich verstehe dich nicht.“

      „Ja, ich weiß, dass die Xian nach Reichtum und Macht streben. Ich weiß auch, dass dieser Clan nicht für die Werte des alten Terranova steht.“

      Ailan verdrehte die Augen und sprach nun wieder energischer zu ihrem Sohn. „Die Werte des alten Terranova sagst du? Das klingt so abfällig. Es sind die Werte, die tausendfünfhundert Jahre lang für einen annähernd gleichbleibenden Wohlstand und vor allem für Frieden gesorgt haben, bis sich einige Clans von diesen Werten freigemacht haben.“

      „Aber die Werte haben auch für Stillstand gesorgt“, warf Lao ein.

      „Wir haben fast alle Krankheiten ausgerottet, wir können innerhalb weniger Stunden an jeden Punkt des Planeten reisen, ja sogar an Orte, die außerhalb des Planeten liegen. Wir haben jederzeit durch die Kraft unserer Gedanken Zugriff auf fast das gesamte Wissen der Menschheit. Armut, die vor der Gründung von Terranova und auch in den ersten hundert Jahren noch den meisten Menschen ein unwürdiges Leben beschert hatte, war fast ein Randphänomen geworden, bevor Macht- und Geldgier wieder das Regiment übernommen haben. Es musste niemand mehr hungern und jeder hatte Aufstiegschancen und selbst wer nicht arbeitete, war von einem engmaschigen Netz aufgefangen worden. Gut, es war dann kein Leben im Luxus, aber erzähl mir nicht, dass wir hier auf Terranova nicht gut gelebt haben. Was willst du denn mehr? Warum aufbrechen in ein großes unbekanntes Leben in der kargen Einöde des Alls? Kämpfe lieber für das, was Terranova einst ausgemacht hat.“

      „Mutter, ich weiß, dass es für dich schwer zu verstehen ist. Dort draußen ist ein Raum, der unermesslich groß ist und wo überall Entdeckungen auf uns warten. Wir aber stecken hier fest und stehen uns mit unseren Werten und Direktiven selbst im Weg. Gut, für viele mag das ein Leben sein, vielleicht auch das Leben, was die meisten Menschen sich wünschen. Für mich ist es das aber nicht. Ich weiß auch, dass es den Xian um Macht und Denare geht, vielleicht auch um so etwas wie die Vorherrschaft über das All, auch wenn ich nicht daran glaube, dass der hohe Rat es jemals soweit kommen lassen wird. Die Xian und die anderen reichen Clans sind aber die einzigen, die die Mittel dazu haben und es wagen können, ein so gigantisches Projekt anzustoßen. Ich glaube, dass sie zwar die Vorreiter sein werden, dass es aber irgendwann normal sein wird, in Alpha Centauri oder auf dem PK27 zu leben, genauso, wie das Leben hier auf Terranova weitergehen wird. Es werden andere Clans folgen und die Macht wird sich verteilen. Das All ist unendlich groß. Das kann nicht von einem Clan beherrscht werden.“

      Ailan schüttelte den Kopf, bevor sie weitersprach. Es war draußen mittlerweile fast stockfinster geworden und Lao hatte mit einer Anweisung durch sein Implantat den Raum in ein gedimmtes Licht getüncht, das direkt aus den Wänden zu kommen schien. Die Decke des Raumes schien sich zu öffnen und den Blick auf einen Sternenhimmel freizulegen, von dem Lao und Ailan kurz darauf von allen Seiten umgeben waren, als würden sie durch das All schweben. Tatsächlich war dies nur eine Projektion, die Lao sich oft vor dem Einschlafen ansah.

      „Lao“, fuhr die Mutter fort, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen sanfteren Ton zu geben, um Lao vielleicht doch noch umstimmen zu können. „Ich kann dir deine Träume nicht nehmen. Was aber die Xian und auch die Antracis angeht, so unterschätzt du sie. Beide Clans stehen für eine menschenverachtende Behandlung ihrer Arbeiter und für Gesetzesverstöße, die nicht oder kaum geahndet werden. Viele Millionen Menschen arbeiten in den Minen und Werken der Clans unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ich selbst war schon an mehreren Scheinverfahren gegen die Xian beteiligt, weil sie auch hier in Tsingtao durch ihr werteverachtendes Verhalten aufgefallen sind. Auch wenn wir ein paar kleinere Prozesse gewonnen haben, standen wir letztendlich auf verlorenem Posten, weil sie ihre Macht überall ausspielen können und jeder Distriktvertreter irgendwann einknickt, wenn der Bau eines großen Werkes auf der Kippe steht. Schau dir den Distrikt Beijing an. Dort sind ganze Straßenzüge gesäumt von Bannern der Xian. Genauso haben in Scotia oder Transilvania die Antracis überall ihre Hände drin.“

      Ailan spürte, dass ihre Worte nichts bewirkten. Sie sprach nun wieder energischer. „Außerdem, was ist mit Niobe? Wie kannst du ihr das antun?“

      Sie hielt inne, als sie sah, das Lao ihr offenbar kaum mehr zuhörte, sondern den virtuellen Sternenstaub durch seine Finger gleiten ließ und in seinen Augen das Licht eines grün leuchtenden Gasriesen funkelte.

      Lao wirkte abwesend, als er wieder zu sprechen begann. Er wollte den Schmerz nicht an sich heranlassen, den das Unverständnis seiner Mutter in ihm auslöste. Auch spürte er eine Taubheit dort, wo der Gedanke an den Verlust seiner Schwester ihm vor kurzem noch größte Schmerzen verursacht hätte.

      „Mutter, ich habe Niobe gefragt, ob sie mich begleiten will. Sie hat abgelehnt, aber ich werde sie wieder fragen und am Ende werden wir gemeinsam gehen.“