Markus Haack

Niobe


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nicht tun. Ich kann dich offenbar nicht belehren und nichts auf Terranova wird dich wohl davon abhalten können. Verdammt, also lassen wir das. Dass du jetzt auch noch Niobe mitnehmen willst, ist selbstsüchtig von dir. Das darfst du nicht tun. Denke auch an das Glück von Niobe. Sie wäre dort in einem Distrikt, in dem alles nach anderen Regeln verläuft. Niobe ist hier zuhause und sie ist glücklich, wenn sie mit den Kindern des Clans spielt oder wenn sie die Pflanzen in der Biosphäre pflegt. Sie weiß mehr über Botanik als alle anderen hier in unserem Habitat, vielleicht sogar in ganz Tsingtao. Was soll sie in der Wüste mit sich anfangen. Lao, lass es. Wenn du schon gehen musst, dann lass Niobe aus dem Spiel. Geh einfach, ja, verschwinde, wenn du unsere Werte so sehr missbilligst.“

      „Ja, das werde ich tun. Ich werde gehen.“

      Lao blieb stumm inmitten des Sternenhimmels zurück, während sich ein heller Spalt darin öffnete und das Licht aus dem Flur einfiel, in dem seine Mutter kurz darauf verschwand.

      Caius spricht erneut vor dem Hohen Rat

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat

      Nachdem Caius von den Plänen der Xian gehört und Lao jede Form der Beteiligung daran strikt verboten hatte, setzte er sich nieder und recherchierte mit regloser Miene in den Tiefen des Netzes. Dort fand er selbst in zugangsbeschränkten Bereichen, nur spärliche Informationen über die Hintergründe des gigantischen Weltraumprojektes. Alles schien darauf hinzudeuten, dass vieles von dem, was dort geschah, im Dunkeln gehalten werden sollte.

      Die Suche nach Wissenschaftlern und Ingenieuren aller Art war angelaufen und Caius hatte eine fast panische Angst um seinen Sohn. Er wusste, dass er sich kaum von einem Verbot würde abhalten lassen. Er musste etwas unternehmen. Vielleicht gab es Hoffnung, das Projekt auf irgendeine Weise zu stoppen, dachte er. Doch diese Hoffnung schwand, als er erfuhr, dass die Xian gründlich gewesen waren und den Hohen Rat früh in ihre Pläne einbezogen hatten. Das Vorhaben war vom Hohen Rat in einer Sitzung gebilligt worden, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hatte. Dies allein war schon eine Abweichung von allen Prinzipien, in denen Caius die Grundpfeiler eines sauberen Politikstils sah. Dass ein Projekt dieser Tragweite, das alles auf Terranova verändern könnte, auf eine so geheimniskrämerische Art beschlossen wurde, das konnte und durfte nicht sein. Auch in seinem persönlichen Stolz als Berater des hohen Rates fühlte Caius sich verletzt, war aber vor allem außer sich vor Zorn, dass die Werte des Kanons, für die er einstand und die bis dahin für ihn als universell galten, auf diese Weise missachtet wurden. Er beschloss, den Hohen Rat anzurufen. Ohne vorher seine Tunika übergeworfen zu haben und seine Augenbrauen mit dem Brenneisen in Form gebracht zu haben, verlangte er Sprechzeit und war fast überrascht, dass ihm diese sofort gebilligt wurde. Kurz hielt er inne, bevor er sprach. Er durfte sein Gesicht nicht verlieren und musste seine Emotionen im Zaum halten, sonst würde seine Rede, die diesmal, entgegen seiner sonstigen Handlungsweise, improvisiert sein müsste, an Wirkung verlieren.

      Caius sprach mit lauter Stimme, die in ihrem Unterton keinen Zweifel an seiner unverrückbaren Überzeugung ließen: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Menschheit erneut über sich hinauswachsen will. Es soll da draußen im All irgendwo einen Klumpen Erde geben, nach dem einige vom Größenwahn infizierte Menschen, darunter auch Mitglieder des Rates, in ihrer Gier trachten wie nach dem goldenen Vlies. Es mag sein, dass Menschen dort leben könnten, wenn sie denn nach einer mehrjährigen Überfahrt dort ankämen. Ich hege aber den Verdacht, dass es nicht um neuen Wohnraum geht, denn der wird bei einer seit zwei Jahrhunderten stagnierenden Bevölkerung von 6 Milliarden Menschen, von denen die meisten hier alles haben könnten, um im Wohlstand zu leben, nicht benötigt. Es geht vielmehr darum, dass bestimmte Industrien und damit auch der Clan der Xian, die in diesen Industrien den Ton angeben, ihre Macht ausdehnen wollen. Ich spreche dabei aus Erfahrung mit den Xian, die ihre Denare in alles stecken, was mehr Kontrolle über die Zugangswege zu den Kostbarkeiten in den extraterrestrischen Böden verspricht. Wie anders ist es zu erklären, dass sie, erwiesenermaßen auch durch Bestechung, mehr als die Hälfte aller Schürfrechte für Edelsteine und Metalle innerhalb unseres Sonnensystems erhalten haben? Wie anders ist es zu erklären, dass sie auch dieses irrwitzige Sternenstadtprojekt durchführen dürfen? Auf dem fernen, vermeintlich bewohnbaren Planeten, den die Sonde Perimedes da draußen irgendwo gefunden haben soll, gibt es mit Sicherheit große Vorkommen solcher kostbaren Substanzen. Es ist skandalös, dass dieses Vorhaben noch mit allen Mitteln vom Hohen Rat unterstützt wird, der damit eine Mitverantwortung bei der Erschaffung dieser Monstrosität trägt. Die Sternenstadt, wie sie sie nennen, zieht aus allen Teilen von Terranova die fähigsten Wissenschaftler und Techniker sowie Unsummen an Denaren ab, um ein Projekt voranzutreiben, dessen Idee nur den Hirnen Wahnsinniger entsprungen sein kann. Ein Raumschiff, hundert Mal so groß wie Tethralon, in dem eine ganze Kolonialisierungsheerschar Platz findet, soll dort gebaut werden. Noch ist es nicht zu spät, diesem Irrsinn ein Ende zu setzen. Wozu brauchen wir eine Arche Noah, ohne dass die Welt eine Sintflut erlebt? Niemand kann die Folgen absehen. Das Gefüge gerät aus den Angeln, weil ein einziger Clan sich mit seinen aberwitzigen Interessen durchsetzt und dadurch übermächtig wird. Und eine Gefahr wurde noch von niemandem erwähnt. Wer kann mit Sicherheit ausschließen, dass womöglich fremde Lebewesen, die uns gefährlich werden könnten, in den Tiefen des Alls wohnen? Ich spreche nicht einmal von intelligentem Leben, sondern von mikrobiologischen Lebensformen, die Krankheiten auslösen könnten, gegen die wir mit unserer Medizin nicht gewappnet sind. Beendet diesen Wahnsinn, dem, so spreche ich mit schwerem Herzen, mein Sohn auch zum Opfer zu fallen droht."

      Das Letzte, so wusste er, hätte er lieber nicht ausgesprochen. Es war die Wahrheit, so wie er sie sah, aber es war dennoch ein Fehler, wie er ihn sonst immer zu vermeiden gewusst hätte. Man würde ihn für befangen halten, da er von der Angst getrieben schien, dass seinem Sohn etwas zustoßen könnte.

      3. Teil

      Ragnar Lodbrok

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 5. Monat

      Auf den Tag genau drei Wochen zuvor strichen in einem weit entfernten Distrikt eisige Winde über die Ebenen und trieben den Schnee in die Schluchten zwischen den schwarzen säulenförmigen Strukturen, die wie Stalagmiten aus dem Boden emporgewachsen zu sein schienen. Das Material stammte von einer extraterrestrischen Mine und spiegelte wie polierter Bergkristall seine Umgebung wider. Eine Gestalt, eingehüllt in schweren Stoff, kämpfte sich durch das Schneegestöber und erreichte mit Mühe das Portal des Bauwerks. Es gab keine Gondelverbindungen in diesen abgelegenen Teil des Distrikts Gotenburg, den nur einige Einsiedler als ihre Heimat empfanden.

      Unter diesen Einsiedlern war auch Ragnar Lodbrok, der seine zehnjährige Tochter Freya in den Schlaf sang. Das gelang ihm nur mit Schwierigkeiten, da er sich unablässig an der frischen Narbe kratzen musste, unter der sein neues Implantat angebracht war. Das alte war entfernt worden, da es keinen ausreichenden Schutz vor Fremdzugriffen mehr geboten hatte und Ragnar keine Spione in seinem Kopf dulden konnte. Auf das Implantat verzichten konnte er hingegen auch nicht, da Kommunikation und Informationen für sein Metier das nötige Schmiermittel waren, ohne das die Maschinerie nicht funktionieren würde. Die Maschinerie war in diesem Fall eine Organisation, die von außen nur als der Widerstand bezeichnet wurde, in Wirklichkeit aber noch ein zersplittertes Gebilde von kleinen und ein paar größeren Gruppen war. Sie hatten unterschiedliche Interessen und waren über ganz Terranova versprengt.

      Ragnar war in diesem nördlichsten Teil des nördlichsten noch bewohnten Distrikts der Mittelsmann für die größte Widerstandsgruppe. Der Kopf dieser Gruppe war genau dort, wo auch das Zentrum der Macht über ganz Terranova seinen Sitz hatte, in Rom. Von dort aus war bereits von langer Hand geplant worden, den noch recht losen Verbund von Gruppen zu einen. Hinter diesem Bestreben stand eine bemerkenswerte Frau, die den Decknamen Dalila trug.

      Kurz nachdem Freya mit einem leichten Seufzen auf ihren halb geöffneten Lippen in das Reich süßer Kinderträume entglitten war, ertönte von weit unten der tiefe Klang des Gongs, der den Besucher ankündigte, der vor dem Portal bald zu erfrieren drohte. Ragnar eilte die Wendeltreppe hinunter, die vom Turmzimmer seiner Tochter in die hohe Eingangshalle führte. In den schwarzen Wänden spiegelten sich tausend Lichter, die im Raum zu schweben