Markus Haack

Niobe


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in Laos Gesicht, dass sie ungewollt in eine offene Wunde gefasst hatte. Lao hatte nie zur Schwermut geneigt und hatte mit seinem Tatendrang immer dafür gesorgt, dass dunkle Gedanken nie lange Bestand hatten. In ihrer Kindheit hatte Lao Niobe manchmal mitgenommen, wenn er mit Jun zusammen draußen Rollenspiele gespielt hatte. Er war dann zu dem geworden, was er hatte sein wollen. Oft hatte er den Kommandanten gespielt, der seine Besatzung von den vertrauten Pfaden fortgeführt hatte. Das waren Kinderspiele gewesen. Auch Niobe erkannte, dass ihr Bruder jetzt vor einer Realität stand, aus der er sich nicht fortträumen wollte, sondern in der er selbst zum Gestalter werden wollte.

      Niobe brach das Schweigen. „Du sagtest, alles, was dir auf der Welt wertvoll ist, sei hier. Ich weiß aber, wie sehr du darunter leidest, dass du deine Träume nicht verwirklichen kannst. Es macht mir Angst, dass du eine Dummheit begehen könntest, wenn du doch die Chance dazu siehst.“

      Lao unterbrach sie. „Welche Chance meinst du?“

      „Anscheinend hast du noch nichts von der Sternenstadt gehört. Die Xian planen den Aufbruch ins All. Sie wollen eine ganze Heerschar von Wissenschaftlern und Technikern mitnehmen und auf einem fernen Planeten eine Kolonie gründen. Jeder weiß, dass es ihnen dabei darum geht, den Wettlauf ums All zu gewinnen und sich Rohstoffquellen zu sichern. Dafür würden sie alles tun, auch wenn die Vorhut dabei sterben müsste. Dann versuchen sie es eben wieder und wieder.“

      Lao schaute ungläubig in Niobes Gesicht. „Ist das wirklich wahr oder ist das vielleicht ein Werbegag gewesen? Am Ende steht dahinter die Produktionsfirma für eine neue virtuelle Welt, die nur Werbung für ihr Produkt machen wollte?“

      Niobe schüttelte heftig den Kopf. „Unter der Anzeige prangte das Wappen der Xian, die nicht für ihren Humor bekannt sind.“

      Lao lächelte und es erschien Niobe, als läge in diesem Lächeln eine Spur von aufkeimendem Wahnsinn. „Das ist ja fantastisch. Ich werde mich bewerben.“

      „Aber Lao, ich habe dir davon erzählt, weil ich dich für so vernünftig gehalten habe, dass du mir die Angst nehmen kannst.“ Niobe musste ein Weinen unterdrücken, bevor sie weitersprach. „Bitte, sag mir, dass du nicht wirklich vorhast, dich für diesen Wahnsinn zu bewerben. Es würde uns alle hier in die Verzweiflung treiben, wenn du das tätest. Und wenn du sterben würdest… “

      Lao stand mit offenem Mund und schüttelte den Kopf. „Nein, was sprichst du denn von meinem Tod? Die Menschheit ist reif, nach den Sternen zu greifen. Wenn die Xian das als erste erkannt haben, dann muss ich eben mit dem Feind paktieren. Vielleicht solltest du auch darüber nachdenken.“

      Niobe verstand nicht, wie ihr Bruder so reden konnte. Sie hatte nicht bemerkt, wie sein Denken sich in den letzten Jahren verändert hatte.

      „Du und ich, wir beide im Weltraum. Das wäre doch fantastisch“ fuhr Lao fort. Du könntest auch deinen Traum wahrmachen. Du könntest im All Pflanzen entdecken, die ganz anders sind, als alles andere, was du je gesehen hast. Und mehr noch. Wolltest du nicht eigentlich immer Archäologin werden? Wie wäre es mit Weltraumarchäologie? Vielleicht treffen wir auf Zeugnisse fremder Kulturen da draußen, die wir erstmal verstehen lernen müssten.“

      Niobe war erschrocken über die energische Reaktion ihres Bruders und seinen irrsinnigen Gedanken, sie könnte dabei mitmachen wollen.

      Lao stellte sein Glas auf den Tisch und erhob sich. „Ich muss mir das genauer ansehen. Dann muss ich Vater damit konfrontieren. Er wird toben, aber am Ende muss er es verstehen.“ Mit diesen Worten ging er hinein und ließ Niobe auf dem Dach zurück.

      Lao und Ailan

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat

      Lao wollte mit seinem Vater sprechen. Er hatte es sich fest vorgenommen, schob es aber vor sich her, weil er Angst vor den Konsequenzen hatte. Sein Entschluss stand aber fest. Er hatte sogar seine Bewerbung für eine Stelle in der Sternenstadt bereits abgeschickt.

      Während er im letzten Licht der untergehenden Sonne auf dem Bett in seinem Schlafgemach saß, legte er sich Worte für das Gespräch zurecht. Er liebte seine Eltern beide und wollte ihnen nicht wehtun. Während er darüber nachdachte, wie er die Wogen würde glätten können, hörte er den Summer der Tür. Er wollte niemanden einlassen, konnte aber seiner Mutter nicht den Zutritt verweigern.

      Ailan Lingdao trug noch die Robe, die ihr vor Gericht Autorität verlieh. Lao erkannte zuerst nur ihre Silhouette, weil er nach draußen in das letzte Licht des Tages geblickt hatte und im Zimmer keine Beleuchtung eingeschaltet war.

      Vielleicht war es aber auch gut so, dass seine Mutter in diesem Moment zu ihm kam, dachte er. Vielleicht sollte er sich zuerst ihr anvertrauen, um sich Mut für das Gespräch mit dem Vater zu holen. Seine Mutter war eine große und stolze Frau, die den Namen Lingdao mit Würde trug. Er hatte so viel von ihr gelernt. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte sie meist auf seiner Seite gestanden, wenn es um die Erfüllung seiner Wünsche gegangen war.

      Mit ihr verband ihm auch noch etwas. Sie war seine spirituelle Mentorin gewesen. Er war mit ihr als Kind oft im Tempel des Konfuzius gewesen, wo er das Paradoxon erlebt hatte, dass gerade die Wahrnehmung des Transzendenten den Blick auf die Kostbarkeit des Lebens freistellte. Auch das hatte ihm immer Kraft gegeben. Vielleicht würde er seine Mutter überreden können, vor seinem Aufbruch noch einmal in den Tempel zu gehen, damit sie gemeinsam ihre spirituelle Verbindung erneuern könnten. In der Ferne würde ihm die physische Trennung von seiner Mutter leichter fallen, wenn er wüsste, dass sie ihm spirituell nahe war.

      Seine Mutter war eine anmutige Frau, deren Schönheit nicht oberflächlich war, sondern in für Lao unbegreifliche Weise mit ihrer Kraft zusammenhing. Diese Kraft schöpfte sie eben auch aus dem Glauben, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte und der bis auf Zeiten vor der Erleuchtung zurückging, als das Feuer noch die einzige Lichtquelle in der Nacht war. Laotse und später Konfuzius waren in diesen Zeiten in Fleisch und Blut durch Täler gewandert und auf Berge gestiegen.

      Durch Täler und auf Berge. Das schoss Lao durch den Kopf, als seine Mutter eintrat. Er würde auch durch Täler gehen müssen, bevor er die Aussicht vom Gipfel seines Erfolgs würde genießen können. Das würde seine Mutter verstehen.

      Ailan legte die Hand auf die Schulter ihres Sohnes. „Lao, ich habe eine großartige Neuigkeit für Dich. Ich habe heute mit dem Stabschef des Transportkonsortiums von Tsingtau gesprochen, der ein alter Bekannter von mir ist. Er könnte dich in seinem Stab aufnehmen. Du würdest dann direkt dem Ministerium für Transportwesen in Rom zuarbeiten und müsstest nicht einmal hier wegziehen.“

      Laos Blick verfinsterte sich. Er ahnte, dass es doch schwerer werden würde, seine Mutter mit seinem Plan zu versöhnen. Doch es hatte keinen Sinn, es weiter für sich zu behalten. Er musste es ihr erzählen.

      Ohne Umschweife und fest entschlossen begann er zu sprechen. „Mutter, ich habe mich bereits entschieden. Meine Bewerbung für die Sternenstadt habe ich vor ein paar Tagen verschickt.“

      Lao hielt daraufhin den Blick starr durch das Fenster auf einen fernen Punkt am Horizont gerichtet und wartete auf die erste Reaktion seiner Mutter.

      Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Ailans Stimmung war von euphorisch auf wutentbrannt umgeschlagen. „Die Sternenstadt? Weißt du, dass die Xian dahinterstecken? Weißt du, dass es dabei nur um Geld und Macht für einen Clan geht, an dessen unmoralischem Handeln Terranova gerade zugrunde geht? Das kannst du nicht ernst meinen. Lao, komm zur Vernunft.“

      Lao blickte weiterhin durch das Fenster, hinter dem die Gebäude, hängenden Gärten und Wasserfälle im Abendrot lagen und ihm alles so friedlich und vertraut erschien. Das würde er hinter sich lassen.

      „Mutter, ich weiß, was es bedeutet. Ich werde, wenn man mich nimmt, all das hier verlassen und aufbrechen, vielleicht sogar fortgehen von dieser Welt in ein unbekanntes Leben irgendwo da draußen. Aber es wird nicht umsonst geschehen. Ich werde glücklich sein, was ich nie könnte, wenn ich sehen müsste, dass andere genau das tun, wovon ich schon als Kind geträumt habe. Ich habe die Chance, die nur wenigen vergönnt ist, meinem