Markus Haack

Niobe


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des Horizonts dringt. Sie stand inmitten von Büscheln des Zittergrases, das sich sachte in einem leichten Lufthauch wog, der durch die Luken der nur halb geschlossenen gläsernen Kuppel drang. Dieses Bild war von solcher Anmut, dass Lao eine Träne vergoss und noch in der Stille und Dunkelheit des Arboretums verharrte, bis er sich wieder gefangen hatte. So würde er sie in Erinnerung behalten, wie ein Halm dieses Grases, das sich im Wind beugt und dann wieder aufsteht.

      Lao raschelte an einem Zweig, um auf sich aufmerksam zu machen. Niobe drehte sich zu ihm um und lächelte.

      „Lao, es ist ein so schöner Tag heute. Schau dir die Passionsblumen an, die gerade in voller Blüte stehen.“ Während Niobe sprach, begann auch Lao ein wenig zu lächeln.

      „Ja, wir sind umgeben von Schönheit, hier unten und dort oben.“

      Ailans Geständnis gegenüber Niobe

      Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 7. Monat

      Niobe hatte Lao seit gestern Abend nicht gesehen. Heute Morgen hatte sie mit wachsender Sorge nach ihm gesucht. Er war weder in der Biosphäre, noch in seinen Gemächern. Das war ungewöhnlich. Wenn er einmal über Nacht fortgeblieben war, dann hatte er vorher immer etwas gesagt.

      Als Ailan an diesem Tag Niobes Gemach betrat, sah sie sie schweigend am großen Fenster stehen. Sie trat an Niobe heran und sah an ihr vorbei, den Blick auf die hängenden Gärten gerichtet, auf die verspielt gedrechselten Türme und das Glitzern der See in der Ferne.

      „Nun ist es geschehen“, begann Ailan mit einer Schwäche in ihrer Stimme, die Niobe unvertraut war. Unten glitten schwerelos Gondeln in den Röhren dahin, die silbrig in der Sonne glänzten. „Ich habe gewusst, dass Lao…“ Ailan brach mitten im Satz ab und senkte den Kopf.

      Niobe erstarrte. Sie formte tonlos die Worte, die aus ihrem Mund drangen. „Lao ist fort. Er hat es wirklich getan? Meinst du das?“

      Ailan schwieg eine Weile und sprach dann weiter, aber mehr wie zu sich selbst. „Ich war in der letzten Nacht in deinem Zimmer und stand so an deinem Bett, wie ich es immer getan habe, als du und Lao noch Kinder wart. Dann bin ich in Laos Zimmer gegangen und habe an seinem Bett gestanden. An seinem leeren Bett.“

      Ailan weinte, das sah Niobe an dem zucken ihrer Schultern. Sie erschien ihr wie ein verwirrtes Kind, als sie versuchte, sich zu fangen. „Ich bin doch seine Mutter und ich will doch immer, dass er glücklich ist. Ich bin auch deine Mutter. Ja, ich weiß, du wurdest nicht von mir geboren, aber du warst immer meine Tochter und ich musste an dein Bett treten, so wie früher, um nachzusehen, ob du es noch bist.“

      Ailan richtete den Kopf auf, als versuchte sie, ihre Kräfte zu sammeln und sich wieder zu fassen. „Ich war so egoistisch zu glauben, meine Kinder seien ein Teil von mir, der seinen Platz ganz natürlich für alle Zeiten bei mir haben würde. Ich glaubte oder fühlte, dass ich mir dessen immer sicher sein kann, bis Lao gehen wollte, fort von mir, fort von uns. Ich hatte solche Angst und ich war so egoistisch, so unverzeihlich egoistisch.“ Hier unterbrach sie sich, bevor sie leiser und mit trauriger Stimme weitersprach. „Wir hatten uns gestritten.“

      „Gib dir nicht die Schuld. Du konntest nichts tun. Ich habe geahnt, dass er gehen würde, aber wollte es auch nicht wahrhaben“, sagte Niobe. In ihrer Stimme klang die unterdrückte Enttäuschung mit, dass Lao sie verlassen hatte und sie nicht einmal in seinen Plan eingeweiht hatte.

      Ailan hatte die Augen geschlossen und schüttelte unablässig den Kopf. „Ich habe nichts dagegen getan. Ich hatte nicht einmal den Mut, es vor euch offen anzusprechen. Vielleicht hätten wir ihn gemeinsam umstimmen können.“

      „Er wusste, was er uns damit antut. Zerfleisch dich nicht selber“, entgegnete Niobe, wobei es ihr sichtlich schwerfiel, tröstende Worte zu finden, wo sie doch selber eine aufkeimende Wut in sich spürte.

      „Ich habe ihn eindringlich gebeten, nein, ich wollte ihn zwingen, hier zu bleiben. Ich habe ihn angeschrien, er würde sich mit dem Teufel einlassen. Ich habe ihm auch vor Augen geführt, wie unglücklich du und Vater werden würdet, wenn er ginge. Er wollte dann, dass du mitkommst.“

      Hier unterbrach Niobe sie, wobei sie ihre Wut, in die sie nun auch ihre Mutter mit einbezog, nicht mehr ganz so gut verbergen konnte. „Er wollte bis zuletzt, dass ich mitkomme?“

      „Ich habe ihn angeschrien und ihm gesagt, er könne ja gehen, wohin er wolle, aber er soll nicht auch noch dich mit hineinziehen. Ich bin schuld, dass Lao nicht mehr darüber gesprochen hat. Ich wollte nicht, dass du schwach wirst und dich ins Unglück stürzt. Was sollst du denn auch in der Wüste anfangen? Er wollte dich einfach mitnehmen, dich mir auch noch wegnehmen und dich...“ Ailan konnte nicht weiter sprechen und sah, wie aufgebracht auch Niobe war. Der Glanz in Niobes Gesicht rührte von Tränen, in denen sich das letzte Sonnenlicht des Tages verfing.

      Sie wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und hob den Kopf, bevor sie sprach. „Arme Mutter. Lao ist so besessen. Ich hatte Angst, dass so etwas passieren könnte. Er hat mit allem gebrochen, was unserem Clan heilig ist. Und dann wollte er mich auch noch mitnehmen und mich mit hineinziehen in diesen Irrsinn? Das ist unfassbar. Hättest du doch nur etwas gesagt.“ Niobe wusste, dass auch sie wahrscheinlich nichts gegen den Entschluss Laos hätte ausrichten können, aber sie war aufgebracht und wollte ihrer Wut Luft machen.

      Auch Ailan hob ihren Kopf, sodass ihre Blicke sich trafen. Sie fühlte plötzlich etwas, das sie trotz all ihrer Trauer und Wut tröstete und von innen heraus wärmte. Niobe hatte sie sonst nur Ailan genannt, nie aber Mutter. Das eine Wort schweißte sie zusammen in dem Gefühl von Liebe und gemeinsamen Verständnis.

      Angst um Lao

      Jahr 2021 nach der Erleuchtung, 3. Monat

      Seitdem Lao fortgegangen war, hatte Niobe nichts mehr von ihm gehört. Er antwortete nicht auf ihre Versuche, ihn zu kontaktieren. Täglich suchte sie in den Weiten des Netzes nach Neuigkeiten über die Sternenstadt. Die Wut und Trauer, dass ihr Bruder nicht einmal ihr von seinen Plänen erzählt hatte, wichen bald einer Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte oder er schlecht behandelt würde. Es hat lange schon aus allen Teilen von Terranova Gerüchte gegeben, die Xian würden das einzelne Leben nicht so sehr schätzen, sofern es nicht um Angehörige des eigenen Clans ging. Es gab in den Arbeitsstätten der Xian weit mehr Arbeitsunfälle als anderswo. Auch häuften sich ominöse Todesfälle oder Fälle von Vermissten, die nie aufgeklärt wurden.

      Bald gab eine Nachricht Niobe einen konkreten Anlass, Angst um Lao zu haben. Es war eine unter vielen Nachrichten der letzten Zeit, in denen es um Unruhen ging, die sich auf Terranova immer mehr häuften. Niobe las, es habe eine Detonation nahe der Sternenstadt gegeben. Es sei ein Fusionskraftwerk beschädigt worden, das die Anlagen mit Energie versorgte. Eine militante Widerstandsbewegung oder vielleicht auch nur ein Einzeltäter habe die Tat verübt. Lapidar hieß es noch, es seien verschärfte Sicherheitsbestimmungen eingeführt worden. Woanders fand Niobe Hinweise darauf, dass die Sternenstadt gegenüber ihrer Außenwelt fast hermetisch abgeriegelt worden war. Lao per Implantatkontakt anzurufen, wurde nun auch aus technischen Gründen zur Unmöglichkeit, weil die Xian den Kontakt unterbanden.

      Angst und Sehnsucht um Lao wurden übermächtig und schienen um sie herum alles aus den Angeln zu heben. Wenn sie nicht auf ihrem Bett lag und Bilder, Töne und Stimmen aus dem Äther des Netzes auf sich eindringen ließ, schlich sie durch die Gänge. Sie vermied es auch, die Biosphäre zu betreten, da sie nicht spüren wollte, wie das Schöne an ihrem Innersten abprallte und nicht mehr zu ihr durchdrang.

      Verstärkt wurde ihre Verzweiflung auch durch Veränderungen, die sie an ihren Eltern bemerkte. Besonders Caius wirkte oft nur noch wie ein Schemen seiner selbst. Sie mühte sich, ihm eine Tochter zu sein, die ihm etwas vom Gefühl des schweren Verlusts abnehmen konnte. Immer wieder machte sie ihm deutlich, dass Lao ja nicht gestorben sei und bestimmt bald wiederkäme. Doch das besserte seine Stimmung nicht. Im Gegenteil - einmal murmelte er, es sei vielleicht einfacher zu ertragen, wenn er tatsächlich gestorben sei. Bei Caius saß der Stachel so tief, dass er noch immer nur