Ursula Essling

Lockenkopf 1


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zusammen.“

      Meine Schwester ist auch immer mit ein paar Mädchen zusammen, die streiten sich aber oft, genau wie die Erwachsenen. Peter und ich streiten uns nie.

      Inge muss manchmal auf mich aufpassen. Das macht sie aber nicht gern. Wenn sie nicht auf mich aufpassen muss, laufen wir ganz gern hinter ihr und ihren Freundinnen her. Es könnte ja interessant werden, was die großen Mädchen unternehmen. Neulich ist sie ganz wütend geworden und hat Mama gesagt, sie wolle nicht immer auf die Babys aufpassen, sie hätte schließlich ein eigenes Leben.

      Da habe ich uns gerächt und ihr bewiesen, dass wir keine Babys mehr sind.

      Im Hof gibt es einen riesigen Stall, da waren früher mal Schafe drin. Aber die sind schon lange aufgegessen worden. In dem Stall haben die Leute jetzt Kartoffeln und Kaninchen, jede Familie hat so eine eingezäunte Ecke.

      In diesen Stall habe ich Inge geschickt. Ich habe ihr mitgeteilt, Mama hätte gesagt, sie solle Kartoffeln holen. Unsere Ecke ist ziemlich hinten, also brauchte Inge einige Zeit. Der Schlüssel steckte draußen an der Tür. Ich kam nur dran, weil ich mich auf einen Hackklotz gestellt habe. Deshalb konnte ich den Schlüssel umdrehen. Dann warf ich ihn fort.

      Das war am späten Vormittag. Zum Mittagessen rief Mama nach uns. Ich kam ganz brav hoch, aber Inge nicht. Meine Mutter verlor die Geduld und meinte: „Wenn sie nicht will, soll sie sehn, was übrig bleibt.“

      Am Nachmittag hörten wir einige Leute im Hof ärgerlich durcheinanderreden. Sie standen vor der Stalltür und wollten ihre Kaninchen füttern, aber der Schlüssel war weg. Sie suchten lange herum, fanden ihn aber nicht. Währenddessen war Inge vor lauter Angst wie gelähmt und gab keinen Mucks von sich. Mama hatte sich inzwischen auch furchtbar um Inge gesorgt, die sonst doch immer so pünktlich und zuverlässig ist. „Hoffentlich ist dem Kind nichts passiert, hoffentlich ist dem Kind nichts passiert!“

      Weil mir Mama leidtat und die Kaninchen auch, habe ich dafür gesorgt, dass die Leute den Stallschlüssel gefunden haben.

      Ich bin zu Peter gegangen und habe ihn eingeweiht. Ich habe ihm auch genau erklärt, wo ich den Schlüssel hingeworfen hatte.

      Da half er suchen und fand ihn.

      Als eine verheulte Inge aus dem Stall kam, haben die Erwachsenen Peter nicht gelobt, dass er den Schlüssel gefunden hat. Nein, sofort haben sie gegeifert, dass wir dahinter stecken müssten.

      Peter hat eisern geschwiegen und mich nicht verraten. Es kam trotzdem alles raus, weil Inge mich verpetzte. Und ausgerechnet war Samstag und Papa war früher zu Hause. Er hat mich übers Knie gelegt und verhauen. Das ging ja noch, aber Mama hat für Inge extra Kartoffelpfannkuchen gemacht und mich nicht mehr gekannt.

      Das wäre das Schlimmste, wenn ich eine Fremde für meine Mutter würde. Die Welt ist nicht in Ordnung, wenn sie mir böse ist. Ich versuche dann alles, bis sie mir endlich verzeiht. Das dauert immer lang und ich verspreche ihr auch immer, dass ich es nicht mehr tun werde. Das ist die Wahrheit. Ich will es ja auch nie wieder tun. Am besten ist es, wenn ich Mama zum Lachen bringen kann. Dann muss sie mir gut sein und ich bin glücklich.

       Die Männer arbeiten alle „Hinten“

      Wir sind umgezogen. Mit einem Lastwagen. Das Bett, die Pritsche und der Stuhl waren drauf. Außerdem unser Kartoffelvorrat, der aber erfroren ist. Und alle unsere Tiere. Kaninchen, Gänse, Enten und Hühner. Wir waren auch in dem Lastwagen.

      Es war November und schon sehr kalt. Die neue Wohnung war auch sehr kalt. Ein paar Fensterscheiben sind kaputt. Das käme noch vom Krieg, sagten die Nachbarn. Wir haben Zeitungspapier dazwischen gestopft, damit der Wind nicht durch kann. In der Küche ist ein alter Eisenherd, da drin macht meine Mutter morgens immer Feuer, bevor wir aus dem Bett kommen und uns waschen.

      Zu der Wohnung gehört noch eine Mansarde, aber die muss erst noch hergerichtet werden. Wir wohnen Parterre und haben nur zwei Treppen zum Keller. Papa ist glücklich, dass wir einen Keller haben. Die Kellerfenster gehen zum Hof. Über den Fenstern sind Pfeile gemalt. Im Hof ist unser Klo. Neben dem Hühnerstall. Auch die anderen Leute haben ihre Klos und ihre Ställe dort. Aber sie haben nur Hühner.

      Unsere Hühner haben's gut, bis sie geschlachtet werden. Mein Vater hat ihnen nämlich noch einen Zwinger gebaut, damit sie in Sicherheit Würmer fressen können.

      Vor dem gepflasterten Hof ist Rasen, da bleichen die Frauen ihre Bettwäsche und hängen sie auch zum Trocknen auf.

      Wir haben die Nummer A, aber zum Haus gehört noch ein weiterer Eingang, und der hat die Nummer B. Zwischen den beiden Hauseingängen liegt die Waschküche. Da ist ein riesiger Kessel drin, unter dem man Feuer machen kann.

      Außerdem haben wir noch drei Nachbarn. Die dazugehörigen Männer arbeiten alle „Hinten“, bei meinem Vater. „Hinten“, das ist die Kunstlederfabrik, in der alles Mögliche hergestellt wird.

      Jetzt ist mein Vater wirklich viel früher daheim, weil er es zur Arbeit nicht so weit hat. Das hat auch seine Vorteile. Denn wenn er abends nicht mehr aus dem Haus zu gehen braucht, darf ich ihn kämmen. Mir gelingt es nie, solche Locken zu drehen, wie er selbst, aber er sieht trotzdem immer sehr abenteuerlich aus. Dabei sitzt er auf dem Fußschemel und liest aus der Zeitung vor. Ganz besonders gern liest er von Verbrechen. Dann empören sich die Erwachsenen immer so. Papa bringt nämlich öfter mal einen Kollegen mit heim. Dann trinken die Männer Bier und Mama hofft im Stillen, dass der fremde Mann heimgeht, bevor wir zu Abend essen. Aber die Leute fühlen sich bei uns immer wohl.

      Ein Kollege von Papa, der Herr Zwilling heißt, obwohl er gar keiner ist, kommt besonders oft. Er redet nicht viel, hört nur zu, wenn Papa aus der Zeitung vorliest, und sieht meine Mutter an.

      Wenn schlimme Sachen passieren, sagen die Erwachsenen meistens: „Das hat es unter Hitler nicht gegeben!“ Ich frage mich oft, wer dieser Hitler war, aber wenn ich frage, dann bekomme ich zu hören: „Das verstehst Du noch nicht.“ Wenn wir in die Stadt gehen, (mit dem Bus ist es zu teuer und außerdem ist Laufen gesund), kommen wir an der Vorderfront eines kleinen Tempels vorbei. Die Hinterfront gibt es nicht mehr. Meine Mutter erklärte mir, dass dies einmal das Stadttheater gewesen sei. Sie muss es ja wissen; denn meine Eltern haben in dieser Stadt gewohnt, bis sie ausgebombt sind.

      Langsam glaube ich, dass dieser Hitler der Herrscher der Stadt war und in diesem Tempel vor sein Volk getreten ist.

      Bei uns gibt es auch viele Kasernen mit amerikanischen Soldaten drin. Die haben so olivfarbene Hosen und Jacken an und sehen alle gleich aus. Im Radio reden sie immer davon, dass die Amis unsere Befreier seien. Meine Mutter nickt dann mit dem Kopf und sagt: „Sie haben uns befreit, von der Butter und vom Fleisch.“ Ich finde das auch nicht so gut, denn ich wollte nicht von Fleisch und Butter befreit werden.

       Ungeahnte Köstlichkeiten

      Es ist eiskalt. Wir haben viel Schnee. Inge geht mit mir Schlitten fahren. Sie hat Kohleferien. Wenn Inge dabei ist, darf ich auch vom Damm an der Eisenbahnbrücke runterfahren. Für mich allein ist das sonst zu gefährlich. Wir frieren. Mein Mantel ist aus einer gefärbten amerikanischen Wolldecke. Meine Mutter hat ihn selbst genäht.

      Bald ist Weihnachten, aber Inge sagt, dass sie sich gar nicht so richtig darauf freuen kann. Mama ist nämlich sehr krank und wir haben solche Angst. Wir besuchen sie ja zweimal in der Woche im Krankenhaus. Da liegt sie da, ganz dünn und blass. Wir bringen ihr auch immer etwas mit, was wir so zusammenbasteln können. Papa bringt ihr ein Buch aus der Stadtbücherei. Sie holt immer was zum Essen für Inge und mich aus ihrer Nachttischschublade raus. „Das sollst Du selbst essen, Gretel“, sagt mein Vater dann immer. „Du musst doch wieder zu Kräften kommen.“ Aber Mama will unbedingt, dass wir das Essen wegtun, damit es die anderen Frauen nicht sehen.

      Ich kann nur bis fünf zählen, aber ich habe schon mehr als zweimal bis fünf gezählt und es sind noch mehr Betten in diesem Krankensaal. Und überall sind Frauen drin, die Nachthemden anhaben. Die meisten haben auch Besuch.

      Gestern