Ursula Essling

Lockenkopf 1


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ihr wirklich keinen Kummer mehr machen. Zu meiner Überraschung nahm sie mich jetzt in die Arme und ich kuschelte mich ganz fest an ihre Brust. Das tat so gut. „Ist schon gut, Ulli, irgendwie werden wir schon wieder zu Schuhen für Dich kommen. Wo Gott eine Türe zuschlägt, lässt er immer ein Fenster offen!“

       Eine Schiffskarte nach Brasilien

      Wir haben in der Schule Geld hergestellt, um damit zu rechnen. Das hat viel Spaß gemacht. Lauter Pfennige, Fünfpfennig- und Zehnpfennigstücke haben wir auf Papier gelegt, drum herum gemalt und ausgeschnitten. Dann wurde das, was auf dem echten Geld steht, abgemalt. Beide Seiten. Die meisten stecken ihr Papiergeld in eine Streichholzschachtel. Ich besitze sogar eine Candydose dafür, die stammt noch von Tante Ruth.

      Ach ja, die Schiffskarte aus Brasilien kam und Tante Ruth ist bis nach Bremen mit dem Zug gefahren. Das ist ganz weit weg. Dann ist sie mit dem Schiff noch weiter weg. Sie hat geweint beim Wiedersehen sagen und uns alle umarmt. Tante Ruth hat auch versprochen zu schreiben, und jetzt ist sie weg. Ich bin so traurig darüber, ich habe sie so lieb gehabt. Und Mounts, getröstet werden und Kaugummi gibt's auch nicht mehr.

      Onkel Bob musste zwei Wochen nach Tante Ruths Abreise wieder nach Amerika. Er hat uns noch mal besucht und auch versprochen, zu schreiben.

      Jetzt haben wir ein neues Amimädchen. Sie heißt Frieda und sieht auch genauso aus, wie ich mir jemanden, der Frieda heißt, vorgestellt habe. Sie ist blond, hat große, helle Augen und ist ganz rot. Viel röter als Onkel Bob, bei dem doch ein Indianer drin gewesen sein soll. Frieda wohnt auch in unserem Schlafzimmer und zahlt Miete. Ich brülle jetzt auch nicht mehr extra laut, weil es nichts nützt. Friedas Ami ist auch nichts Besonderes. Er sieht aus wie alle anderen Soldaten, nur schwarz.

      Die alte Candydose habe ich also jetzt immer in meinem Ranzen und manchmal streichle ich sie. Tante Ruth hat mir einige Sachen geschenkt und sogar eine Spielhose mit einem großen Herz als Latz genäht. Aber irgendwie habe ich die besten Erinnerungen an sie, wenn ich die Dose in der Hand halte.

      „Holt Euer Geld heraus“, sagt Herr Göring. Alle holen ihre Streichholzschachteln heraus. Herr Göring geht von Tisch zu Tisch. Bei Heidi Hoffmann bleibt er stehen: „Du hast ja Dein Geld noch nicht herausgeholt?“

      „Ich habe es vergessen“, antwortet Heidi.

      „Willst Du nicht lieber noch mal nachsehen?“ fragt Herr Göring freundlich.

      „Ich habe nachgesehen“, sagt Heidi jetzt ganz trotzig.

      Da hat unser Lehrer ihren Ranzen genommen und auf dem Tisch umgestülpt. Alles fiel heraus, Griffelkasten und Bücher, die Tafel und die Streichholzschachtel mit dem Geld. Wir haben alle den Atem angehalten und Heidi hat einen knallroten Kopf gekriegt. Aber Herr Göring hat nur leise und ganz traurig gesagt: „Es ist nicht schön von Dir, dass Du mich belügst!“ Dann haben wir gerechnet.

       Warte, bis es dunkel ist

      Ich habe meiner Mutter schon wieder Kummer gemacht. Mein neuer blauer Glockenrock ist kaputt. Ausgerechnet der schöne Rock, den ich ganz für mich allein bekommen und nicht von Inge geerbt habe. Wenn meine Schwester nämlich aus was rausgewachsen ist, wird es für mich umgeändert. So habe ich auch ein echtes Bleyle Kleid. Das hat eine Farbe, die aussieht wie getrocknetes Blut. Am Ausschnitt oben sind die fünf Olympiaringe. Mama findet das Kleid toll, von der Qualität her und meint, ich müsste stolz darauf sein. Die Qualität ist bestimmt sehr gut; denn wer weiß, wie lange das Kleid schon in der Familie ist. Es gibt auch ein Bild von Inge mit dem echten Bleyle. Das geht und geht nicht kaputt!

      Aber der Glockenrock mit den Überkreuzträgern!

      Das kam alles vom Räuber und Gendarm spielen. Ich war bei Barbara und ihrer Schwester und wir wussten nicht, was wir machen sollten. Da haben wir bei Gisi Simoneit geklingelt, die im selben Haus wohnt. Sie wusste auch nicht, was wir machen sollten. Da sind wir alle zum Paul, der meinte dann, dass wir Räuber und Gendarm spielen könnten. Bei ihm waren gerade seine Cousine und sein Cousin zu Besuch, also waren wir genug Leute. Wir bildeten zwei Gruppen. Da jede Gruppe die Räuber spielen wollte, losten wir. Die anderen haben gewonnen. Wir machten aus, wo wir uns überall verstecken dürfen und versprachen uns gegenseitig, auf keinen Fall in die Mangelkammer zu gehen.

      In meiner Gruppe waren Gisi, Pauls Cousine Marlies und Barbara. Wir haben ziemlich lange nach den Räubern gesucht, obwohl wir alle Verstecke kennen.

      Da hat Gisi gemeint: „Gucken wir doch mal in die Mangelkammer!“ „Aber wir haben doch ausgemacht, dass wir uns nicht in der Mangelkammer verstecken“, hat Barbara geantwortet. „Eben drum!“ Also gehen wir in die Mangelkammer. Und wen sehen wir da? Die Räuber! Die hatten sich's da gemütlich gemacht und wir suchen und suchen. Wir waren wütend. Aber jetzt waren wir die Räuber und wir beratschlagten uns, um ein sicheres Versteck zu finden. Plötzlich hatte ich einen Einfall: „Gehen wir doch auch in die Mangelkammer. Jetzt, nachdem wir denen unsere Meinung gesagt haben, denken die doch nie daran, uns dort zu suchen. Außerdem ist es nur gerecht.“ Gesagt, getan.

      Die Gendarmen fanden uns tatsächlich nicht und uns wurde es langweilig. Da haben wir mal die Mangel ausprobiert. Gisi hatte hier schon mit ihrer Mutter gemangelt und Barbara auch. Sie konnten die riesige Walze auch bewegen. Wir lernten es dann alle. Allerdings war das auch nicht mehr so interessant, nur die Mangel hin und her zu schieben. Es gab aber nichts zu mangeln. Gisi schaute uns alle prüfend an und fragte, ob jemand ein Taschentuch dabei hätte. Das hatte nur Marlies, aber es war gebraucht. Und ein gebrauchtes Taschentuch zu mangeln ist eklig. Marlies fand aber, mein Rock sei genau das Richtige dafür. Also breitete ich den Glockenrock um mich aus und setzte mich an das untere Ende. Mir war schon ein bisschen mulmig dabei zumute. Aber sie haben die Mangel zu dritt bedient, da konnte mir nichts passieren. So bin ich sitzen geblieben. Das mit dem Mangeln hat auch geklappt. Aber die Walze ließ sich nicht zurückdrehen und ich steckte fest.

      Gisi reparierte rum und die beiden anderen versuchten, mich da rauszuzerren. Wir hatten ganz vergessen, dass wir Räuber und Gendarm spielten, jetzt hätten wir Verstärkung gebraucht. Aber die anderen fanden uns ja nicht. Es wurde beratschlagt und hin und her geredet, was zu tun sei. Barbara meinte, sie würde ihre Mutter zu Hilfe holen. „Bloß nicht“, Gisi war ganz entsetzt. „Wir dürfen hier doch gar nicht rein, das gibt nur Ärger!“ Ja, den Ärger konnte ich mir vorstellen, wenn ausgerechnet Frau Martin uns hier finden würde.

      Sie war so streng zu ihren vier Kindern, dass diese immer Angst vor ihr hatten, ich übrigens auch. Ich war nicht gerne bei Martins oben. Sie betete viel und redete über die Sparsamkeit und die Verdammnis. Sie teilte ihren Kindern täglich eine Karamelle zu, aber von den einfachen, nicht von den dicken. Ich habe nie was von ihr bekommen, wenn ich beim Bonbonausteilen zufällig mal dabei stand. Alle Kinder mussten jeden Tag eine Stunde im Garten arbeiten, nur im Winter nicht.

      Maria und Barbara spielten Flöte und trugen immer selbst genähte Ärmelschoner. Ich habe Frau Martin nie lachen sehen oder freundlich gucken. Außerdem konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass sie ein Kind drücken konnte. Ihr spitzes weißes Gesicht wirkte noch strenger durch den straffen großen Knoten auf ihrem Kopf. Der ist rabenschwarz.

      Da ist Herr Martin ganz anders. Er ist auch sehr fromm und spielt in der Gemeinde eine Rolle, aber er hat blonde Locken und ist immer fröhlich und zu jedem freundlich. Auch zu Kindern. So ist die Barbara auch. Deshalb habe ich sie vielleicht viel lieber als Maria.

      Endlich bin ich frei. Aber mein Rock, o lieber Gott, mein schöner Rock, wie sieht der aus! Es sind lauter runde Löcher, die nur noch von einem bisschen Stoff zusammengehalten werden. Ich stehe praktisch in der Unterhose da und die ist auch noch rosa! So kann ich auf gar keinen Fall nach Hause gehen, ich würde mich zu Tode schämen. Dann fällt mir meine Mutter ein. Wie hat sie sich gefreut, dass sie mir den Rock zum Geburtstag schenken konnte.

      Die anderen versuchten mich zu trösten: „Warte, bis es dunkel wird, Ulli. Geh dann erst heim. Da sieht Dich niemand.“ Marlies hatte einen Schal. Den borgte sie mir, damit ich ihn notdürftig um die Hüfte