K. Ingo Schuch

Armadeira


Скачать книгу

      Der padre beugte sich behutsam zu dem Kind herab. »Yara!« Aus leeren Augen blickte sie durch ihn hindurch und schien seine Anwesenheit nicht zu bemerken. Das Grauen darüber, was man ihren Eltern angetan hatte, musste ihr die Sinne vernebelt haben. Wohl eine Art Schutzmechanismus. Widerstandslos ließ sie sich hochnehmen. Das Mädchen hing schlaff in seinem Armen. Ihre einfache, aus Hartholz geschnitzte Puppe hielt sie fest.

      Padre Jerome überlegte nicht lange. Er musste sie von hier weg bringen, falls die hierher zurück kamen, die ihre Familie getötet hatten und die ungefähr zwei Dutzend Mitglieder des Stammes, die zerhackt und erstochen in und vor den primitiven Hütten lagen. Dem Zustand der Leichen nach zu urteilen, lag das Gemetzel schon mindestens vierundzwanzig Stunden zurück.

      Er setzte das Kind behutsam an einem großen Mahagonibaum ab. Sie musste völlig dehydriert sein. Aus einem Flaschenkürbis flößte er ihr vorsichtig ein paar Schlucke Wasser ein. Das Mädchen trank gierig, ohne aus seinem apathischen Zustand zu erwachen. Hin und wieder stieß sie ein gequältes Stöhnen aus. Nun sah er, dass ihre Beinchen blutverschmiert waren. Diese Tiere! Sie hatten das Kind missbraucht und liegen lassen wie einen benutzten Gegenstand! Der Padre holte die Decke und legte sie über das Kind. Nach einer Weile schloss sie die Augen und versank in einen unruhigen Dämmerschlaf.

      Padre Jerome machte sich an die Arbeit. Anfangs trug, später schleifte und zerrte er die getöteten Xa’o auf einem Haufen zusammen. Zwischendurch musste er immer wieder inne halten, weil ihm der Verwesungsgeruch fast die Sinne raubte. Hier lag Páohi, daneben seine Tochter Kahái, auch sie war offenbar geschändet worden, dort drüben der kleine Baai, der immer so zahnlos gegrinst hatte, wenn er mit den anderen Kindern Taranteln mit Stöcken zum Wettlauf angetrieben hatte.

      Für die Montands hob er eine Grube aus und steckte ein aus zwei Ästen notdürftig zusammengebundenes Holzkreuz darüber. Wo die primitiven Geräte, die er im Lager gefunden hatte, nicht ausreichten, nahm er seine Hände zu Hilfe. Der Mond spendete ihm dabei sein spärliches Licht. Stunden später war es getan. Über den Leichen der Xa’o hatte er aus den Ästen und Palmwedeln der Hütten einen großen Haufen aufgetürmt.

      Jetzt nahm er das Feuerzeug, das Montand gehört hatte, und entzündete den Stapel.

      Nach einer Weile zauberte der Feuerschein gespenstische Schatten auf die Baumriesen, die die Siedlung umgaben. Dutzende von Faltern und anderen fliegenden Insekten flatterten sinnentleert durch den Rauch ins Feuer und versengten. Hoch in den Bäumen ertönte das aufgeregte Gebell der Brüllaffen, ein paar Papageien protestierten.

      Padre Jerome stierte in die Feuersbrunst, bis ihn die Augen brannten. Er war aufgewühlt und verzweifelte fast an seinen widersprüchlichen Gefühlen, die ihn letztendlich in den Dschungel getrieben hatten. Dann rezitierte er mit sonorer Stimme aus einem uralten Klagelied:

       »...aber ich rief deinen Namen an, o Herr, tief unten aus der Grube!

       Du hörtest meine Stimme: Verschließe dein Ohr nicht vor meinem Seufzen, vor meinem Hilferuf!

       Du nahtest dich mir an dem Tag, als ich dich anrief; du sprachst: Fürchte dich nicht!

       Du führtest, o Herr, die Sache meiner Seele; du hast mein Leben erlöst!

       Du hast, o Herr, meine Unterdrückung gesehen; schaffe du mir Recht!

       Du hast all ihre Rachgier gesehen, alle ihre Anschläge gegen mich.

       Du hast, o Herr, ihr Schmähen gehört, alle ihre Pläne gegen mich, das Gerede meiner Widersacher und ihr dauerndes Murmeln über mich.

       Sieh doch: Ob sie sich setzen oder aufstehen, so bin ich ihr Spottlied!

       Vergilt ihnen, o Herr, nach dem Werk ihrer Hände!

       Gib ihnen Verstockung des Herzens; dein Fluch komme über sie! Verfolge sie in deinem Zorn und vertilge sie unter dem Himmel des Herrn hinweg! «

      Die Xa’o lebten auf einer natürlichen Lichtung unweit des Flusses, der Quelle allen Lebens war. Sie hatten ihre einfachen Hütten errichtet, wie es viele Generationen vor ihnen getan hatten und rangen dem Urwald das Lebensnotwendige ab. Die Männer gingen fischen oder jagen, die Frauen bauten etwas Mais und Maniok an. Die Xa’o hatten kaum Kontakt zu Fremden, nur zu den Flusshändlern, die ab und zu mit ihren Booten den Seitenarm des Rio Anapu heraufkamen.

      Eines Tages kam ein nicht mehr ganz junger weißer Mann zu ihnen. Er sah aus wie einer der Missionarios, die einst die ersten Weißen gewesen waren, denen die Xa’o vor langer Zeit begegnet waren. Der Fremde nannte sich padre Jerome und er kam ohne Waffen und ohne Versprechungen. Er war alleine und seine Augen waren ohne List. Von ihm schien keine Gefahr auszugehen und so duldeten sie ihn in ihrer Mitte.

      Der padre kam immer wieder. Mit der Zeit hatten die Xa’o sich daran gewöhnt, dass er abends mit ihnen am Feuer saß und versuchte, ihren Geschichten von den Ahnen und den Waldgeistern zu folgen. Unter ihnen sprachen und verstanden zwei Männer einige Brocken "krummer Hals", wie sie die portugiesische Sprache nannten. Die Xa’o waren freundlich und lachten gemeinsam mit ihm über seine Versuche, ihre eigene tonale Sprache zu erlernen, die für sie "gerader Hals" war und die mit drei Vokalen und sieben Konsonanten auskam.

      Sie ließen ihn mit dem Bogen und dem Blasrohr auf Cupuaçu-Früchte zielen und dann durfte er die Männer zum Fischen und auf die Jagd begleiteten. Der padre versuchte ihnen zu erklären, dass ihre Art zu leben ihm sehr gefiel. Er sprach nicht darüber, wohin er ging, wenn er sie wieder flussabwärts für Tage, Wochen oder Monate verließ und sie fragten nicht danach.

      An einem regnerischen Tag im Sommer kam Jerome nicht alleine. In seiner Begleitung befanden sich ein Mann und eine Frau. Sie brachten ihre kleine Tochter mit. Das Mädchen mochte vier Jahre alt sein. Sie kamen mit einem langen canoa den Fluss herauf, das zudem mit Gepäckstücken und einigen merkwürdig aussehenden Gerätschaften beladen war. Die Fremden erklärten mit Unterstützung des Padre, dass sie gerne einige Zeit bei den Xa’o leben würden. Doktor Jacques Montand war Dozent für Linguistik und Ethnologie an der Universität von Belém und er wollte in einem gemeinsamen Projekt mit der FUNAI untersuchen, welche sozialen Strukturen die Xa’o sich ohne engeren Kontakt zur Außenwelt erhalten hatten und wie ihr Verhältnis zu anderen indigenen Völkern war. Man hatte keine klare Vorstellung, wie viele Stämme oder Gruppierungen noch ohne den segensreichen oder zerstörenden zivilisatorischen Einfluss in den Wäldern Amazoniens lebten.

      Vitória Montand arbeitete an der Universität als wissenschaftliche Assistentin im Fachbereich Zoologie und sie interessierte sich sehr für die Biodiversität des noch weitestgehend unberührten Waldes. Sie hatte den Franzosen auf einer früheren Reise in die Regenwälder Paraguays kennen und lieben gelernt. Es war klar, dass die Xa’o weder wussten, was eine Universität war noch jemals von der FUNAI gehört hatten. Padre Jerome versuchte, den Sinn einer Indianerbehörde in ihre Sprache zu übersetzen, aber das war schier unmöglich. Den Xa’o fehlte jegliche Vorstellung von Organisationsformen, die komplexer waren als ihre Clanstruktur.

      Páohi war so etwas wie der Stammesälteste oder Häuptling. Er lachte viel und war wie alle Xa’o ohne Arglist. Er bedeutete den Fremden, dass sie natürlich ihr Tapýi aufstellen durften, deren graue Leinenwände sich gegenüber dem Tiefgrün des Waldes deutlich hervorhoben. Die Xa’o halfen den Fremden beim Ausladen der höchst ungewöhnlichen Gerätschaften und nach einiger Zeit hörten die Kinder auf, sich über ihre helle Haut und ihre Kleidung lustig zu machen. Das kleine Mädchen hieß Anaïs, aber die Xa’o nannten sie Yara. Sie sagten, mit ihrem langen Haar und ihren Augen in der Farbe des Honigs sehe sie aus wie ein Mãe-d’água, eine Sirene, die in den Flüssen lebt und mit ihren Liedern die Männer verzaubert.

      Padre Jerome saß die ganze Nacht auf dem Boden bis die Glut erloschen war. In seinen Armen wiegte er die kleine Yara. Er hatte ihr behutsam das Blut abgewischt und sie in ein Tuch eingewickelt. Irgendwann hatten sie endlich zusammen weinen können.

      Am nächsten