Darf ich vielleicht mal reinkommen?“
Er schob Nelly zur Seite und lief an ihr vorbei in die Küche, um Katja und Christian zu begrüßen.
„Na endlich“, sagte Nellys Vater und hob die Hände, als würde er dem Himmel danken. „Meine Tochter nervt uns schon die ganze Woche, dass du so viel unterwegs bist und sie nicht zu dir darf. Jetzt sag mir bloß, dass du endlich fertig bist!“
Paolo lachte, nickte und legte den rechten Zeigefinger auf seine Lippen. Christian hatte den Schaukelstuhl besorgt und nichts verraten. Katja saß daneben und lächelte still vor sich hin. Wenn sie an die vielen spannenden Geburtstage dachte, an denen sie von ihren Mitmenschen überrascht worden war, überkam sie ein bisschen Wehmut. Nelly schien nicht in ihre Fußstapfen zu treten.
„Ich hasse Überraschungen. Ihr mit eurer Heimlichtuerei. Ich bin froh, wenn der Geburtstag endlich vorbei ist. Könnt ihr mir nicht einen kleinen Tipp geben? Einen ganz, ganz kleinen nur! Ich kann sonst nicht schlafen.“
Die drei anderen schauten sich an und grinsten.
„Nein, auf keinen Fall“, erklärte Paolo. „Hast du gefragt?“
„Was gefragt?“
„Unser Wochenende bei meinem Cousin.“
„Ich habe Mama gefragt.“
„Ach ja?“, mischte sich nun Christian ein. „Was ist denn mit dem Wochenende?“
Katja wollte Nelly einen Gefallen tun und sagte sachlich: „Die jungen Leute wollen nach Eltville verreisen und Paolos Cousin besuchen.“
„Verreisen?“, fragte Christian grinsend.
„Papa! Hör auf zu lachen. Mann, wir wollen einfach Freitag losfahren und Sonntag wiederkommen. Die Entfernung ist doch egal. Und ich bin dann schon ganz alt.“
Katja nickte Christian zu, dem es nicht leichtfiel, sein kleines Mädchen in die große Welt loszulassen. Ihm fielen dann immer wieder die Dummheiten ein, die Nelly mit ihrer Freundin vor eineinhalb Jahren angestellt hatte. Er hatte davon noch genug. Darum begann er eine Befragung mit Paolo.
„Wie heißt dein Cousin?“
„Leon. Er ist der Sohn meines Onkels, der die Pizzeria hat.“
„Wie alt?“
„Zweiundzwanzig.“
„Beruf?“
„Polizeischüler. Er macht ein Praktikum in Eltville.“
„Wo wohnt er?“
„In einer kleinen Wohnung in der Nähe der Polizeistation.“
„Papa! Das ist total unangenehm. Hör mit dem Verhör auf!“, rief Nelly jetzt erbost.
Paolo winkte ab. Er kannte Christian und fand es völlig in Ordnung, dass er sich um seine Tochter Sorgen machte. Und nachdem, was Nelly über das wilde Leben ihrer Mutter angedeutet hatte, war das wohl auch berechtigt. Nicht, dass Nelly noch genauso viel Quatsch machte. Er legte einen Arm um seine Freundin und küsste sie.
„Dann wünsche ich euch viel Spaß“, sagte Christian.
„Danke Papa, toll!“
Nelly fiel ihrem Vater um den Hals. Katja lächelte. Sie dachte: Eigentlich haben wir unsere pubertäre Tochter doch ganz gut hinbekommen, auch wenn wir schon so alt sind. Sie würde im Sommer dreiundsechzig Jahre alt werden, Christian neunundfünfzig. Es war ein langer Weg gewesen, bis sie hier so glücklich und zufrieden mit ihm und Nelly leben konnte. Sie hoffte, Nelly würde ihr Lebensglück früher finden und immer glücklich sein.
Paolo folgte Nelly in ihr Zimmer, wo er sie sanft auf das Bett schob und sich neben sie legte. Zärtlich küsste er sie und ließ eine Hand unter ihr T-Shirt wandern. Sie presste gierig ihren Körper an seinen.
„Ich freue ich auf morgen. Denk nicht, ich mag deine Überraschung nicht. Aber es macht mich verrückt, dass ich so gar keine Ahnung habe.“
„Das hältst du nun auch noch eine Nacht aus. Ich komme morgen früh gleich her, die richtigen Geschenke bekommst du dann am Mittag, wenn ich dich von der Schule abgeholt habe. Lade bitte deine Freundinnen zum Kaffee auf das Weingut ein. Wer wird denn kommen?“
„Simona, Ina, Norma, Becky, mehr nicht. Wir fahren alle zusammen mit dem Bus, also musst du nicht kommen. Vielleicht Simonas neuer Freund. Er ist Musiker. Noah heißt er und hat Simona noch nicht geküsst. Ich wünschte, er würde es endlich tun, damit sie nicht mehr die ganze Zeit davon redet.“
Lachend erwiderte Paolo: „Eure Probleme möchte ich haben! Wenn er morgen mitkommt, gebe ich ihm einen Tipp.“
„Bloß nicht! Dann bekomme ich Ärger, weil ich dir davon erzählt habe. Musst du schon weg?“
Paolo war aufgestanden und zog Nelly mit hoch. Er schloss sie in die Arme, nickte und küsste sie. Nelly begleitete ihren Freund, der Katja und Christian zugewinkt hatte, noch an die Tür.
„Geh schlafen, wenn du wieder aufwachst, hast du Geburtstag. Bis morgen, meine Süße. Gute Nacht.“
Nelly wartete an der Tür, bis er ins Auto eingestiegen war, und seufzte. Sie sagte ihren Eltern Gute Nacht und ging schlafen.
♥
„Alles Gute, liebe Nelly, alles Gute für dich …“, schmetterten Katja und Christian am nächsten Morgen an Nellys Bett.
Kurze Zeit später klingelte es und Paolo erschien mit dem großen Rosenstrauß an der Badezimmertür, wo Nelly gerade ihre Haare bürstete. Er gratulierte, küsste sie leidenschaftlich und trug seine Freundin auf den Armen in ihr Zimmer. Unter wilden Küssen förderte er ein kleines Kästchen hervor, in dem die Kette lag. Nelly nahm sie heraus und legte sie sich um den schlanken Hals. Paolo lächelte und küsste sie in den Nacken, als er den Verschluss zumachte. Sie betrachtete das kleine goldene Herz.
„Danke Schatz, ich freue mich sehr. So eine schöne Kette. Und die Rosen erst!“
Die Kette von Tante Marie hatte Nelly im letzten Sommer verloren. Darüber war sie lange sehr traurig gewesen und wollte absolut kein neues Schmuckstück. Jetzt lächelte sie. Als die beiden in die Küche kamen, war der Frühstückstisch schön gedeckt und neben Katja und Christian hatte sich auch Benjamin eingefunden. Ein kleiner Tulpenstrauß stand vor Nellys Platz. Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch. Es war gut, dass Nelly heute erst zur dritten Stunde hatte. Also konnten sie den Morgen genießen. Wuschel, der schon ein wenig ergraut war, lag unter dem Tisch. Der kleine Hund ging meist mit auf das Weingut, wenn Nelly in der Schule war. Er hatte ihr zärtlich über das Gesicht geleckt, als wüsste er, dass sie heute Geburtstag hatte.
Paolo fuhr die Mädchen heute in die Schule. Simona wartete schon am Auto. Sie gratulierte Nelly und zeigte ihr ein Foto von einem Geschenk.
„Das ist ja toll“, sagte Nelly. „Jetzt bekomme ich schon keine Geschenke mehr, sondern nur noch Fotos von Geschenken.“
„Es war so schwer zu tragen, Süße, das bekommst du heute Nachmittag. Die Mädels und ich haben zusammengelegt. Aber ich verrate erstmal noch nichts, sonst bekomme ich Ärger mit Ina.“
„Es ist doch nicht schlimm. Ich freue mich so auf heute Nachmittag, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Diese ganzen Geheimnisse machen mich total fertig.“
Sie waren ausgestiegen und zum Unterricht geeilt, wo auch die anderen Mitschüler Nelly gratulierten. Sie hatte für alle Süßigkeiten mit, denn das war schon immer so üblich gewesen. Die neue Englischlehrerin war locker und fröhlich und ließ sie zu Beginn der Stunde zehn Minuten lang naschen. Dafür verlangte sie nur ein Geburtstagslied für Nelly und der Englischkurs gab sich redlich Mühe.
Die Mädchen konnten es kaum erwarten, dass der Unterricht vorbei war. Gott sei Dank war heute Freitag und die Schule endete um zwei Uhr. Mit dem Bus fuhren Nelly, Simona, Ina, Norma und Becky