T.F. Carter

Begegnungen


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Abneigung ihrem Vater gegenüber, auch sie hatte das eine oder andere Mal Bemerkungen fallen gelassen, dass sie mit der politischen Situation nicht unbedingt übereinstimmte und hatte sich dafür stets schwere Verweise der Eltern anhören müssen. Aber seit einiger Zeit hatte sich eine für den jungen Soldaten schwer zu verstehende Vertrautheit zwischen seiner Schwester und der Mutter herausgebildet. Die beiden Frauen waren eigentlich vollkommen gegensätzlich, und es hatte oftmals viel Streit gegeben, doch nun, seit einigen Monaten, war dies weniger geworden. Seine Schwester stand am Übergang von der Heranwachsenden zur Frau, fand so offenbar andere Themen mit ihrer Mutter. Und so, hatte der junge Soldat beschlossen, fiel nun auch seine Schwester als Gesprächspartnerin aus.

      Aber er hatte seine Freunde aus dem Ort, in dem lebten, ein Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, der Junge so alt wie er, das Mädchen ein Jahr älter. Sie waren ungleiche Freunde, er ein Aristokratenspross, die beiden anderen aber Kinder einer Handwerkerfamilie. Die enge Beziehung, die schon seit der Kindheit existierte, wurde von dem Vater des jungen Soldaten abgelehnt, und auch seine Mutter bemühte sich, die Kontakte zu minimieren. Aber sie, die drei Freunde, hatten immer Mittel und Wege gefunden, sich zu treffen, trotz aller Widrigkeiten, selbst in diesem furchtbaren Krieg, der nun schon seit Jahren tobte.

      Die Situation war bizarr. Seine Familie lebte zeitweise in einem fremden Land, einem Land, das nun feindlich war, das die Armeen seines Landes besiegt und besetzt hatten. Die Familie seiner Freunde musste hart für die Sieger arbeiten, musste immer um ihr Leben fürchten, und so war jeder Tag, den er mit seinen Freunden verbringen konnte, ein gewonnener Tag.

      Seine Regierung lehrte ihn, dass seine Freunde minderwertig waren, Abschaum, aber er glaubte nicht daran. Er kannte die beiden, kannte auch andere Menschen aus dieser Umgebung, und manchmal fühlte er sich unter ihnen wohler als unter seinesgleichen, dort, wo alles von geplantem Vorgehen, Etikette und der Propaganda der Regierung bestimmt war. Hier, mit seinem Freund und seiner Freundin, in aller Heimlichkeit, hier konnte er wirklich über alles sprechen.

      „Dein Vater wird dich zwingen, in seine Organisation einzutreten“, hatte sein Freund ihm gesagt.

      „Ich weiß“, hatte er geantwortet, „und du weißt, dass es das Letzte ist, was ich möchte.“

      „Was willst du tun?“ hatte seine Freundin gefragt und schaute ihn mit ihren klaren blauen Augen an.

      „Ich weiß es nicht. Es ist… so ausweglos.“

      „Ihr werdet den Krieg verlieren“, ergänzte sein Freund.

      „Du kannst dafür getötet werden, wenn du das zu laut sagst.“

      „Haha“, lachte sein Freund, „es gibt so viele Gründe, weshalb ich sterben könnte. Das ist nur einer mehr.“

      „Es ist ein Wunder, dass wir noch leben“, fügte seine Freundin hinzu. „Viele von uns sind fort. Nur unser Ort, er ist noch nicht wirklich berührt. Ein wirkliches Wunder.“

      „Ich fürchte“, räusperte er sich, „dass die Situation jetzt erst prekär werden wird, wenn die feindlichen Truppen kommen.“

      Längst hatte sich gezeigt, dass die schweren Geschütze an der Küste nicht dort gewesen waren, wo die Landung des Feindes erfolgt war. Längst war aus den anfänglichen Brückenköpfen ein größeres Gebiet geworden, in dem sich die Truppen des Gegners sammelten. Und bald würde der tödliche Stoß gegen sein Land erfolgen. Alle Vorstöße bisher, sie waren nur ein leichter Auftakt dessen, was noch folgen würde.

      „Sie werden uns befreien…“

      „Wenn ihr nicht vorher noch getötet werdet.“

      Die Wahrheit war schmerzhaft, aber die Drei sprachen offen miteinander. Sie hatten sich umarmt und geweint, und dann hatten sie gemeinsam den Entschluss gefasst, er solle sich freiwillig zum Armeedienst melden, um der Gefahr aus dem Weg zu gehen, in die Organisation seines Vaters eintreten zu müssen.

      „Er wird Gift und Galle spucken“, hatte er gesagt.

      „Oh, das wird er“, hatte sein Freund genickt, „aber es ist der beste Weg.“

      „Pass auf dich auf.“ Liebevoll hatte sie ihm über die Wange gestreichelt.

      Später, in einem Heuschober, hatten sie sich geliebt, sie und er. Sie waren schon seit längerem ein Paar, heimlich, überaus heimlich. Er liebte sie schon seit seiner Kindheit, und sie liebte ihn. Aus einer Kindheitsbeziehung war echte Liebe entstanden. Würde dies jemals bekannt werden, hätte dies große Schwierigkeiten zur Folge. Beziehungen dieser Art waren nicht gerne gesehen, und sie konnten sogar tödlich enden – für sie in jedem Fall, für ihn möglicherweise auch.

      Nun war er bei der Armee, schnell ausgebildet, kaum wirklich bereit für den Kampf, für diesen Krieg, der nicht zu gewinnen war, was auch immer die Regierung sagte. Die feindlichen Armeen waren größer, hatten neue Waffen, waren ausgeruht, brachten immerzu neue Männer heran. Die Armeen seines Landes waren ausgebrannt, abgenutzt, dezimiert. Wie konnte es sein, dass nun 17jährige, ja, sogar 16jährige bewaffnet wurden? Es war ein untrügliches Zeichen, dass das Ende nahte, auch wenn die Armeen seines Volkes immer noch über ein riesiges Gebiet herrschten. Wieviel Zeit haben wir noch? dachte er. Sechs Monate? Zwölf Monate? Wenn die Front, die sie verzweifelt hielten, brach, dann gab es kein Halten mehr.

      Ich kämpfe für etwas, hinter dem ich nicht stehe, dachte er. Andererseits gibt es überall Unschuldige, auch bei uns. Unsere Städte werden zerbombt, unschuldige Menschen verbrennen in den Trümmern, alte Männer, Frauen, kleine Babys…

      „Ihr erntet das, was ihr gesät habt“, hatte ihm sein Freund dazu gesagt, und er hatte unzweifelhaft Recht. Was hätte er, der junge Soldat, aber tun können? Widerstand leisten? Man hörte von Aktionen gegen die Regierung, die aber stets mit Todesurteilen endeten. Niemand hatte Erfolg. Warum sollte er Erfolg haben? Ihm fehlte der Mut, die letzte Entschlossenheit, im Zweifelsfall auch sein Leben zu opfern, und so – es war nur folgerichtig – kämpfte er nun für die Sache, die er selbst ablehnte.

      Es geht um das Überleben deines Volkes! redete er sich ein. Du denkst schon, wie die Propaganda es vorgibt, antwortete er sich selbst. Gut und Böse, Richtig und Falsch, alles war schwierig, nicht mehr greifbar.

      Seine Freunde aber, sie konnten nichts dafür, sie hatten nicht die Wahlmöglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen. Himmel, dachte er, Gott, wenn es einen Gott gibt, beschütze meine Freunde!

      Er hatte nach seiner Ausbildung noch ein paar Tage auf dem Landsitz seiner Familie verbringen dürfen, mitten im Feindesland. Und so hatte er auch noch einmal, möglicherweise ein letztes Mal, bei seinen Freunden weilen dürfen. Längst war es nicht mehr zu übersehen, dass seine Freundin hochschwanger war. Im August würde es soweit sein. Der Name des Vaters war nicht genannt worden, aber er fühlte, dass alle in ihrer Familie wussten, dass er es war. Und ihr Vater, ihre Mutter, ihr Großvater hatten ihn wortlos umarmt, als er gekommen war, um sich zu verabschieden, weil er an die Front musste. Die Front, die immer näher kam. Diese Familie hatte ihn umarmt, obwohl er für diejenigen kämpfte, die dieser Familie Tod und Verderben bringen konnten…

      Seine Freundin wurde, so gut es ging, vor seinem Vater und vor dessen Schergen versteckt. Sie galt als krank, würde Hausarbeiten machen. Die Ausreden wurden akzeptiert, denn längst waren andere Dinge wichtiger geworden. Wie konnte verhindert werden, dass die feindlichen Armeen den Durchbruch schafften? Alles war auf die Stärkung der Front ausgelegt, so dass die Schwangerschaft eines einzelnen Mädchens vollkommen unwichtig geworden war.

      „Möge Gott dich beschützen“, hatte sie ihm gesagt und ihn geküsst.

      Er hatte seine Hand auf ihren Bauch gelegt: „Möge unser Kind in eine bessere Welt geboren werden. Möge es das Glück finden, das uns versagt bleibt.“

      „Komm zurück“, hatte sie geweint, „ich werde immer auf dich warten.“

      „Ich werde immer daran denken…“

      Zum Abschied hatte sie ihm ein Foto von sich gegeben, kein besonders gutes, aber es gab nicht viele Fotos, die sie aktuell zeigten. Die Aufnahme wurde ihr nicht gerecht, denn sie sah verhärmt