T.F. Carter

Begegnungen


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      Die Spannung löste sich, und alle begannen nun zu kichern.

      Jemand rief von der anderen Seite nach dem verlorengegangen Kameraden, doch dieser blieb weiterhin stumm, in Todesangst erstarrt.

      „Wollen Sie nicht antworten?“ fragte der Leutnant, der sich inzwischen durch seinen Zug gekämpft hatte und an der Seite des gegnerischen Soldaten auftauchte, in dessen Landessprache.

      „Ich…“

      „Antworten Sie, dass es Ihnen gut geht.“

      „Mir geht es gut!“ rief der feindliche Soldat.

      „Lassen Sie ihn gehen“, scholl eine Stimme von der anderen Straßenseite herüber. „Und wir garantieren Ihnen freien Abzug.“

      „Wir gewähren Ihnen freien Abzug“, erwiderte der Leutnant in der Sprache des Gegners laut und vernehmlich. „Wir benötigen keine Almosen.“

      Keine Almosen? dachte der junge Soldat, während er den Leutnant und den fremden Soldaten beobachtete. Wir sind überall auf dem Rückzug. Wir haben dem Gegner nichts entgegenzusetzen. Jeder Sieg, den wir in einem Straßengraben erkämpfen, ist irrelevant, abgesehen davon, dass wir alle überleben wollen.

      „Schön“, war es von drüben zu hören. „Schicken Sie ihn rüber, und dann ziehen wir uns zurück.“

      „Ziehen Sie sich zurück, und wir schicken Ihren Kameraden hinterher.“

      „Das sind bestimmt 30 Mann“, zischte ein Mann an der Seite des jungen Soldaten.

      „Ich habe etwa fünfzehn gezählt“, erwiderte er.

      „Fünfzehn? Aber so schnell kann man doch gar nicht zählen.“

      „Ich schon. Es sind etwa fünfzehn, und wir sind einundzwanzig.“

      Er spürte den Blick des Leutnants auf sich gerichtet: „Sind Sie sich sicher?“

      „Absolut sicher. Die, die in den Graben gesprungen sind, waren etwa fünfzehn. Ich weiß natürlich nicht, ob noch weitere Soldaten hinter den Bäumen verborgen sind.“

      Der Leutnant runzelte die Stirn und rief dann erneut in der fremden Sprache: „Wir werden uns jetzt nach Südwesten bewegen. Sie gehen nach Nordosten, immer die Straße entlang. Nach einhundert Metern schicken wir Ihren Kameraden zu Ihnen.“

      Es dauerte einen Moment, bis die Antwort kam: „Einverstanden!“

      „Wir schicken zwei Mann hoch! Nicht schießen.“

      „Wir auch.“

      Atemlos wartete der junge Soldat auf das Zeichen seines Zugführers, und er schloss kurz die Augen, als er sah, dass er einer dieser beiden war. Er schluckte schwer, hielt die Waffe vor der Brust, drückte sich hoch und stand dann langsam auf. Sein Kamerad, derjenige, der ihm erzählt hatte, dass sie alle gleich quieken würden, stieg bereits zurück auf die Straße.

      „Gewehr schussbereit, aber nicht im Anschlag!“ raunte der Feldwebel von hinten.

      Zwei Soldaten des Gegners tauchten aus dem gegenüberliegenden Straßengraben auf. Er sah sofort, in welch gutem Zustand die Bekleidung und die Waffen waren. Er hingegen hatte ein Gewehr in der Hand, das einer der besiegten Armeen eines anderen Feindes gehört hatte, eine alte Waffe, die, wie er fürchtete, ihn im Ernstfall mehr bedrohen könnte als den Gegner.

      Misstrauisch musterten sich die vier Männer. Sie sind etwas älter als ich, mutmaßte der junge Soldat, gut genährt, austrainiert. Wir, wir haben erschöpfte Veteranen und minderjährige Rekruten wie mich.

      Im Straßengraben gegenüber war eine Bewegung zu erahnen. Die gegnerischen Soldaten krochen ein paar Meter von dieser Stelle fort und kletterten dann ebenfalls zurück auf die Straße. Die vier Männer, die hier voreinander standen, stellten sicher, dass niemand dem anderen beim Abzug in den Rücken schoss.

      Auch seine Kameraden waren inzwischen teilweise, einige Meter in der anderen Richtung, auf dem Weg erschienen, und die beiden Trupps entfernten sich nun, langsam rückwärts gehend. Der feindliche Soldat, der zur falschen Seite gesprungen war, wurde vom Feldwebel wie ein menschlicher Schutzschild gehalten, dann aber tätschelte der ältere Mann dem Gegner beinahe besänftigend auf die Schulter, bevor er sich weiter zurückzog.

      Der feindliche Soldat rührte sich immer noch nicht.

      „Komm!“ forderte ihn einer seiner Kameraden auf. „Wir gehen.“

      Der junge Soldat und sein Kamerad wechselten einen Blick. Die Situation schien sich zu entspannen, beide Trupps waren inzwischen etliche Meter voneinander entfernt, und sie würden sich an der nächsten Wegbiegung aus den Augen verlieren.

      „Komm jetzt!“ wurde der feindliche Soldat erneut aufgefordert, und nun löste er sich aus der Schockstarre, lief erst langsam, dann immer schneller, an den vier Männern in der Mitte vorbei, folgte seinen Kameraden, verschwand in ihrer Mitte.

      „Ok“, nickte einer der beiden anderen Soldaten. „Das war’s.“

      Der Kamerad des jungen Soldaten nickte zurück. „So sieht es aus“, antwortete er in der Sprache des Gegners.

      Rückwärts gehend entfernten der junge Soldat und sein Kamerad sich, während die beiden anderen Männer ihnen nachschauten. Er kam ins Stolpern, weil er auf dem unebenen Fahrweg umknickte, fiel beinahe rückwärts auf die Erde und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten.

      „Obacht“, flüsterte sein Kamerad. „Wer weiß, wenn du hier umfällst, ob dann irgendeiner denkt, du wärst abgeschossen worden. Dann geht hier ein Geballere los.“

      „Es ist schon gut, es ist nichts passiert.“ Nervös blickte der junge Soldat zu seinem Leutnant, der nur wenige Meter entfernt stand, dann zurück zu den beiden gegnerischen Soldaten. Einer ging seinen Kameraden nach, der andere kletterte, zu seinem Erstaunen, aus dem Straßengraben. Was hatte er dort gemacht? dachte der junge Soldat. Das war unsere Seite.

      „Stopp!“

      Die Stimme ließ ihn zusammenzucken. Irgendwie hatte er geahnt, dass er gemeint war. Er sah aus den Augenwinkeln, wie zwei seiner Kameraden hinter ihm, noch bestimmt ein gutes Dutzend Meter entfernt, die Gewehre in den Anschlag brachten, und beinahe befürchtete er, nun die Schüsse zu hören, die bisher auf so wundersame Weise ausgeblieben waren.

      Der feindliche Soldat stand nun mitten auf dem Weg, beide Hände in die Höhe gereckt. Hinter ihm war, schon einige Meter entfernt, sein Kamerad zu sehen, und das Entsichern eines Gewehres war deutlich zu hören.

      „Moment, Moment, nein!“ schrie der Soldat auf dem Weg, und er reckte einen seiner Arme noch weiter empor. Er hielt etwas in den Händen, ein Stück Papier. Er machte eine begütigende Geste zurück zu seinem Kameraden, wandte sich dann wieder nach vorne, streckte die Arme, so weit er konnte, halb zur Seite, halb nach oben und machte dann langsam und vorsichtig einige Schritte auf den jungen Soldaten zu.

      Der Leutnant rief dem Herannahenden in dessen Sprache entgegen: „Was wollen Sie? Wir hatten doch vereinbart, dass wir…“

      „Jemand hat etwas verloren. Ich möchte es zurückgeben.“ Der fremde Soldat hielt das Papier von sich, als ob es sich um einen hochexplosiven Gegenstand handelte.

      „Schauen Sie nach“, ordnete der Leutnant an und machte dem jungen Soldaten ein Zeichen.

      Vorsichtig ging dieser nun auf den fremden Soldaten zu, immer dessen Hände im Blick. Würde jemand schießen? Käme hier das Ende?

      „Ein Foto“, sagte der fremde Soldat, als sie wieder voreinander standen. „Es lag im Graben.“

      Es durchzuckte ihn heiß. Es war SEIN Foto. Das Foto des Mädchens, das er so sehr liebte. Er erinnerte sich, dass er es vorhin nur notdürftig verstaut hatte, und offenbar war es ihm herausgefallen, als er in den Graben gesprungen und den kleinen Abhang hinuntergerollt war. „Es ist meines“, schluckte er, „ich hatte es vorhin…“

      „Ist das deine Freundin?“ Der fremde