Wolfgang Endemann

LINKS – Aktualisierung eines politischen Schlüsselbegriffs


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Variante ebenso aus wie Totalitarismen jeglicher Art einschließlich autoritärer Herrschaftsformen, die sich das Etikett sozial oder kommunistisch anhängen und dabei die Menschenwürde ignorieren und die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten wie der gesellschaftlichen Möglichkeiten vernachlässigen.

      Menschenwürde setzt Angstfreiheit und gesellschaftliche Anerkennung voraus, damit aber eine existenzielle Grundversorgung und ein gewisses Maß an Gleichheit. Das kann zufallsunabhängig nur durch Institutionalisierung des Sozialen, durch einen starken Sozialstaat gewährleistet werden. Mindestens ebenso wichtig wie die Institutionalisierung des Sozialen für die Menschenwürde ist die individuelle Orientierung am Sozialen für die Emanzipation. Der Weg, den die Linke hier einschlägt, ist dem entgegengerichtet, den die bürgerliche Gesellschaft geht: statt auf Entfesselung des individuellen Eigeninteresses und die als natürlich empfundene Privatisierung aller Lebensaspekte setzt sie auf Altruismus und Kooperation. In der Auflösung des Zusammenhangs von Individuellem und Sozialem sieht sie eine törichte, irgendwann sehr aufwändig zu revidierende Fehlentwicklung, die die Menschen von ihren emanzipatorischen Möglichkeiten abschneidet.

      Dabei ist die Formel Kapitalismus = Individualismus und Sozialismus = Kollektivismus so falsch wie plakativ. Denn der Kapitalismus ist selbst ein (antagonistisches) Sozialsystem, seine bürgerliche Ordnung unterstützt institutionell, fördert und sozialisiert einen Individualismus der allgemeinen Konkurrenz und der Orientierung am Eigennutz. Wenn die Bürger ihrem Ideal des homo oeconomicus immer ähnlicher werden, wo bleibt ihre Individualität? Wird hier nicht Individualität mit Egozentrik oder gar Egoismus verwechselt? Die Linke möchte die Entwicklungsrichtung umkehren, wünscht sich eine Ordnung, die die Individualisierung, Verinnerlichung des Gemeinschaftlichen, Allgemeinen fördert. Statt Sozialisierung des Individualismus also Individualisierung des Sozialen. Wenn man den Gegensatz von Kapitalismus und ästhetischem Sozialismus pointiert beschreiben will, ist ersterer der unversöhnliche Widerstreit, letzterer die fruchtbare Durchdringung von Individuellem und Sozialem.

      Die bürgerliche Gesellschaft glaubt an ihre unwiderstehliche Anziehungskraft, weil sie freiheitlich, demokratisch und pluralistisch sei. Daß das bis auf die (vor)revolutionäre Frühphase eine Selbsttäuschung beziehungsweise nur eine vordergründige Beschreibung ist, hat die Linke bis heute nicht ausreichend einsichtig machen können. Auch nicht, daß sie in der Lage und willens ist, einen vernünftigeren Begriff von Freiheit zu vertreten, Pluralismus auf weniger oberflächliche Weise anzuerkennen, Demokratie der Klischeehaftigkeit und des hohlen Pathos' zu entkleiden und zu einem angemessenen, selbstverständlichen wie begrenzten Mittel der Meinungs- und Willensbildung zu machen. Die Linke muß die bürgerlichen Propagandabegriffe, die nach wie vor ihr manipulatives Potential ausschöpfen können, entzaubern, delegitimieren oder wenigstens umdefinieren. Wenn ihr das gelingt, kann sie Mehrheitsgesellschaft werden. Auch dann wird die Gesellschaft sich nicht in ein Paradies verwandeln, das kann eine Linke so wenig versprechen wie die bürgerlichen Optimisten. Aber ein Sozialismus wird wesentlich mehr inneren und äußeren Frieden bieten und seinen Bürgern größere kollektive und individuelle Autonomie ermöglichen.

      Einleitung: Politik als Handeln und Denken in Alternativen

      In der politischen Standortbestimmung gibt es keine häufiger verwendeten oder einleuchtenderen Kennzeichnungen als das Begriffspaar rechts-links resp. die Triade rechts-mitte-links (R,M,L). Das gilt auch, wenn man heute öfters hören kann, es gäbe kein rechts und links mehr, nur noch richtige, fortschrittliche, funktionierende Politik oder eben falsche, ideologische, veraltetem Denken verhaftete, etc. Denn diese Alternativen ausschließende Eingrenzung des Handlungsspielraums von Politik ist dumm und zielt nur auf die Affirmation eines pragmatischen „weiter so“ durch Tabuisierung der rechten und linken Ideenkonkurrenz. Sie unterstellt nämlich, daß es eigentlich gar nichts zu wählen gibt, daß es die eine Wahrheit gibt, die in Form von Sachzwängen, i.e. kapitalistischen Sachzwängen die richtige Politik leiten muß. Das wäre überhaupt das Ende der Politik, da nicht zu entscheiden wäre, wie die Menschen ihr Leben und Zusammenleben gestalten wollen, es müßten bei allen die gleichen Interessen vorausgesetzt und alle Veränderungen aus Wissensfortschritten begründet werden. Wie sanft sie immer wäre, es bedeutete die Diktatur der Wahrheit.

      Durchaus möglich, daß heute noch eine Mehrheit der Weltbevölkerung, neben einer großen Gruppe naiver Rationalisten etwa die Anhänger der monotheistischen Religionen, aber sogar Linksorientierte, die den Gedanken des wissenschaftlichen Sozialismus, eines wissenschaftlich basierten Gesellschaftsentwurfs, so überzogen haben, daß sie Sozialismus mit Wissenschaft gleichsetzen, daß solche Mehrheit sich einem absoluten Wahrheitsanspruch unterwerfen bzw. unterstellen würde. Jedoch gibt es dafür weder ausreichende Übereinstimmung, schon die „religiösen Wahrheiten“ lassen sich nicht unter einen Hut bringen, noch wäre der „Wahrheitsanspruch“ allen anderen aufzuzwingen. Blickt man nur auf die westlichen Staaten, ist das Meinungsspektrum deutlich enger. Konservative Positionen können sich nur noch in Ausnahmefällen durchsetzen, es bleibt abzuwarten, ob eine zunehmende Krisenanfälligkeit der Wirtschaft die Empfänglichkeit für rechte Gedanken nachhaltig steigern kann. Konsequent linke Einstellungen sind immer noch exotisch, sie unverfälscht in die Realität umzusetzen oder wenigstens tendenziell nationalstaatlich zu verordnen ist auf allseits bekannte Weise gescheitert.

      Ein weiteres Motiv, die Rechts-Links-Polarität zu leugnen, ist die schöne Idee von der integrierten bzw. nivellierten Mittelstandsgesellschaft, in der sich immer schon und heute mehr denn je Wunschdenken statt Realitätssinn manifestiert. Da wird zunächst R-M-L mit Oben-Mitte-Unten gleichgesetzt, ein Kurzschluß, der auch vielen Linkssympathisanten unterläuft. Während letztere dann den Unterschichtenbauch beklagen, betrachten Bürger den Mittelschichtsbauch als ihren größten Trumpf, die schmalen Ausschläge nach unten und oben als quantité négligeable. Politik müsse – welch ein kurzsichtiges Mißverständnis des Politischen – nur noch für die Mitte gemacht werden, da werden Wahlen gewonnen, Oben und Unten, also R und L, seien abgeschlossene Geschichte. Man kann natürlich die Klassen immer so definieren, daß die Mitte am stärksten ist; wovon wir auch ausgehen, die Schwerkraft der Sozialordnung zieht die Masse nach unten. Der Bauch wird zum Hängebauch. Das spürt die Mittelschicht und ist zunehmend verunsichert.

      Die Homogenität geteilter Wahrheit oder geteilter objektiver Interessenlage ist eine Illusion. Auch ist nicht damit zu rechnen, daß eine wachsende, selbst eine zusammenwachsende Gesellschaft keinerlei Fliehkräfte freisetzt. So ist die Grundlage des Politischen die Pluralität, wohlgemerkt nicht die Demokratie, die nur eine Form ist, Pluralität zu organisieren. Und um Mißverständnisse zu vermeiden, muß auch bemerkt werden, daß das Wahrheitskriterium für Politik keineswegs obsolet wird, nur relativiert sich, was als Wahrheit eingebracht wird. Einfache universell gültige Wahrheiten sind uns kaum bekannt, die unter Prämissen stehenden Wahrheiten widersprechen sich partiell, ihre Anwendbarkeit ist problematisch und ihre Konsequenzen sind schwer zu überblicken. Vielfach müssen Einschätzungen und Hypothesen zugrunde gelegt werden. Einsichten vermischen sich mit subjektiven Vermutungen, Werturteilen und Neigungen.

      Politische Kompetenz, die Verhandelbarkeit von Entscheidungen erfordert demnach die Kenntnis der (für realisierbar gehaltenen) Gestaltungsalternativen. Wie immer man die linke Alternative bewertet, was man darunter inhaltlich zu verstehen habe, scheint in den politisch interessierten Kreisen klar zu sein. Allerdings geben wertkonservative, ordnungspolitisch rigide, dann wieder extrem libertäre sowie technik-enthusiastische und antidemokratische Elemente im Kosmos linken Selbstverständnisses und in der Projektion der Gegner der Linken Anlaß, daran zu zweifeln, und lassen es lohnend erscheinen, nochmals über diese Sicht auf die Welt, über einen angemessenen, nicht von vornherein parteipolitisch verengten Begriff von „links“ nachzudenken.

      Die meisten Volksvertreter sehen sich wie die engagierten Bürger in einem Spektrum von rechts- bis linksaußen, wobei die „wehrhafte Demokratie“ die Extremisten auszuschließen sucht. Die Abgeordneten arbeiten also zumindest mit der Relativbestimmung „links“, sie würden sich sehr ungern an der falschen Stelle platzieren lassen. Das zeigt, daß der parlamentarischen Sitzordnung durchaus eine klare Bedeutung beigemessen wird, und diese Ordnung der Parteien wird als linear vorgestellt. Soweit das korrekt ist, kann man bei zwei politischen Aussagen immer entscheiden, welche mehr rechts