Henning Stühring

Von Stalingrad bis Kursk


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des Unteroffiziers Czock glatt durchschlägt. Der Schwerverwundete ist nicht zu retten, ein Abtransport unmöglich. Die Kameraden können dem Bewusstlosen nur den Helm abnehmen und in den Schatten einer Birke legen. Vor den Sterbenden tritt ein Offizier des Bataillons, nimmt Haltung an, salutiert. Ein soldatischer Gruße zum Tode. Vier schrecklich lange Stunden währt der Endkampf des Unteroffiziers an diesem heißen Sommertag.

      Ziel des Unternehmens „Seydlitz“ ist die Vernichtung der südlich und östlich von Bely stehenden Feindkräfte in Stärke von rund 60.000 Mann, namentlich der 39. Armee und des XI. Kavalleriekorps. Damit soll die Lage im Rücken von Generaloberst Models 9. Armee endgültig bereinigt werden. Der Angriff beginnt am 2. Juli. Von Norden tritt das XXIII. Armeekorps an, während sich von Süden die schnelle „Gruppe Esebeck“ in Bewegung setzt. Doch die 1. und 5. Panzerdivision rollen nur langsam voran.

      Der Gefreite Otto Will43 nimmt an dem Unternehmen „Seydlitz“ teil. Als Angehöriger der 5. Panzerdivision dient der Melder im II. Bataillon/Schützenregiment 14. Der auf dem rechten Auge nahezu blinde Will berichtet über den Vorstoß seiner 5. Kompanie:

      „2. Juli 1942. Um 3 Uhr ist das Warten vorbei. Die Spannung löst sich, der Angriff beginnt. Unter massierter Artillerievorbereitung und Einsatz von Fliegern greifen wir an. Gegen 5 Uhr haben wir erste Feindberührung. Es kommt zu einem Gefecht, als wir gegen Berasui 1 vorgehen. Die Russen verteidigen den Ort mit großer Hartnäckigkeit. Wir kommen nur schwer voran, weil der Himmel seine Schleusen geöffnet hat und wir wegen des starken Regens nicht weit sehen können […]

      3. Juli 1942. […] Wir verfolgen den fliehenden Feind in den dahinter liegenden Wald. Mitten im Wald ist plötzlich die Hölle los. Hier haben sich die Russen im Unterholz festgesetzt und leisten erbitterten Widerstand. Man kann sie kaum ausmachen. Es knallt an allen Ecken und Enden. Die Baumkrepierer sind besonders gefährlich.“

      Damit benennt der Gefreite drei Faktoren, die symptomatisch für alle Offensiven der Heeresgruppe Mitte im zweiten Kriegsjahr sind:

      1. der zähe Feindwiderstand

      2. der verregnete Sommer 1942 im Mittelabschnitt

      3. das schwer passierbare Gelände

      Für den Angreifer bedeutet das bestenfalls ein langsames Vorwärtskommen, noch dazu unter hohen Verlusten. Die unübersehbaren Schwierigkeiten des Unternehmens „Seydlitz“ verdeutlichen wie durch ein Brennglas alle Vorbehalte gegen einen zweiten großen Marsch auf Moskau.

      Unter dem Druck sowjetischer Gegenstöße frisst sich die Offensive der Gruppe Esebeck schon nach wenigen Tagen fest. Am 4. Juli tritt das XXXXVI. Panzerkorps zur Unterstützung der festliegenden Verbände an. Für den verwundeten Generaloberst Model übernimmt zwischenzeitlich General der Panzertruppe von Vietinghoff die Führung der 9. Armee. Auf dem Schlachtfeld zeichnet sich schließlich eine Wende zugunsten der deutschen Angreifer ab: Die bislang in Reserve gehaltene und nunmehr ins Gefecht geworfene sächsische 14. I.D. (mot.) bringt die Entscheidung. Unter dem zusätzlichen Druck wird der Gegner weich. Die deutschen Zangenarme können Raum gewinnen und sich schließlich vereinigen. Bis zum 12. Juli werden die eingeschlossenen sowjetischen Verbände vernichtet. Am Monatsende meldet das Armeeoberkommando 37.000 Gefangene. Was aber noch viel wichtiger ist: Die 9. Armee hat ihre logistische Basis gesichert, der Nachschub kann ungehindert in den Frontbogen bei Rshew rollen.

      Für Feldmarschall von Kluges Heeresgruppe Mitte sind es hart errungene, gleichwohl wichtige Teilerfolge. Zum einen setzen die offensiv begradigten Fronten eigene Kräfte frei, um überhaupt die befohlene Linie halten zu können. Andererseits stellt das Behaupten der Positionen nur 150 bis 200 Kilometer vor Moskau eine permanente Bedrohung der sowjetischen Hauptstadt dar. Eine Tatsache, die Stalin lange Zeit im Unklaren über den Schwerpunkt der deutschen Sommeroffensive im Süden und falsche Schlüsse ziehen lässt.

      Leningrad - die 1. Ladogaschlacht

      Für die Heeresgruppe Nord verfolgt Hitler weitergehende Ziele. Laut Weisung Nr. 41 vom 5. April gilt es, „Leningrad zu Fall zu bringen und die Verbindung mit den Finnen herzustellen.“ Für dieses operativ zweifellos wichtige Ziel wird Mansteins 11. Armee nach der Eroberung Sewastopols zu Feldmarschall Küchlers Heeresgruppe Nord verlegt. Eine folgenschwere Fehlentscheidung Hitlers, die zulasten des deutschen Südflügels geht. Statt über die Straße von Kertsch zu springen und die strategisch wichtige Schwarzmeerküste in Besitz zu nehmen, sollen Mansteins Verbände Brückenköpfe über die Newa bilden und die Ostseemetropole erobern. Eine Alternative wäre gewesen, den Kessel von Demjansk mit seinen 100.000 Mann zu räumen und die freigewordenen Kräfte der 18. Armee zu unterstellen.

      Der beabsichtigte Angriff auf Leningrad erhält zunächst den Decknamen „Feuerzauber“, später wird das Unternehmen in „Nordlicht“ umbenannt. Manstein, als Bezwinger der Festung Sewastopol zum Feldmarschall befördert, übernimmt die operative Planung. Vorgesehen ist das Überschreiten der Newa östlich des an der Flussmündung gelegenen Leningrad mit anschließendem Schwenk nach Westen zum Zwecke einer engen Einschließung. In der von deutsch-finnischen Truppen belagerten Ostsee-Metropole vegetieren zu diesen Zeitpunkt noch zirka 1,1 Millionen Menschen. Marija Bystrowa44, Leiterin einer Werkhalle, spricht davon, dass der Hunger „unerträglich“ war. „Wir ernährten uns sogar von Tischlerleim, aus dem wir eine Art Sülze machten. Während dieser Zeit konnte man feststellen, daß die schneller starben, die über den Hunger jammerten und ständig etwas vermißten.“

      Doch während die einfachen Genossen in Leningrad darben und auf Leichenwagen stapeln die menschlichen Kadaver, laben sich Angehörige der Parteispitze und des Geheimdienstes an Kuchen und sogar Kaviar. Eine unerhörte Dekadenz von Eliten, die eine klassenlose Gesellschaft predigen.

      Nach dem Willen des asketisch lebenden Führers soll Leningrad, wie im Falle Sewastopols erfolgreich vorexerziert, durch schwersten Artilleriebeschuss und massive Luftbombardements sturmreif geschossen werden. Anschließend ist die totale Vernichtung der Revolutionsmetropole geplant.45 In seiner pathologisch-destruktiven Phantasie malt sich der gefährlichste Brandstifter aller Zeiten das Inferno aus – es werde „in straffster Zusammenarbeit mit der Luftwaffe der größte Feuerzauber der Welt losgelassen“. Sein frisch gebackener Feldmarschall glaubt allerdings „beim Russen nicht an eine Terrorwirkung“. Manstein bemerkt gegenüber Küchler kühl, dass es wohl am zweckmäßigsten sei, „die Stadt einzuschließen und Verteidiger wie Bewohner verhungern zu lassen.“46 Denn die Blockade Leningrads ist bis dato nicht wasserdicht. Über den Ladogasee gelangt weiterhin Nachschub in die Stadt. Dieser größte Binnensee Europas konnte im Zuge der Herbstoffensive 1941 nicht mehr von der Heeresgruppe Nord und den finnischen Waffenbrüdern abgeriegelt werden.

      Aber vor Leningrad kommen die Deutschen immer zu spät. Bevor Hitler seine „Nero-Vision“ verwirklichen kann, tritt der Russe selbst zum Angriff an. Einerseits zum Entsatz Leningrads. Andererseits in präventiver Absicht, um Mansteins Eroberungspläne zu durchkreuzen. Am 27. August greift die Wolchowfront unter General Merezkow mit der 8. Armee an, dem widrigen Wald- und Sumpfgelände zum Trotz. Der überraschende Stoß richtet sich gegen den 20 Kilometer schmalen „Flaschenhals“. Jener deutsche Frontvorsprung, der bis ans Südufer des Ladoga-Sees reicht und Leningrad vom sowjetischen Hinterland östlich des Wolchow trennt.

      Am dritten Tag der Offensive sind die Sowjets auf 5.000 Meter Breite bis zu sieben Kilometer tief eingebrochen. Die Angriffsspitzen stehen vor den strategisch wichtigen Höhen von Sinjawino. Im Führerhauptquartier herrscht „größte Aufregung“. Hitler sieht „ein Bild willenloser Führung“. Er beauftragt Manstein mit der Abriegelung des sowjetischen Einbruches. Starke Luftunterstützung und neu zugeführte „Tiger“ der 1. Kompanie/Schwere Panzerabteilung 502 sollen die deutsche Schlagkraft erhöhen und die Initiative zurückgewinnen. Es ist die Premiere der schweren Kampfwagen mit der nahezu unverwüstlichen Frontpanzerung von 120 Millimetern und der vernichtenden Feuerkraft der 88-Millimeter-Kanone. Ihr Einsatz markiert einen Wendepunkt der Waffentechnik im Osten. Bis zum Auftreten der Tiger, die pro Kampfwagen 90 Schuss Kanonenmunition mitführen, verfügten die Sowjets mit ihren T 34 und KW über die schwersten Tanks mit der größten Feuerkraft.

      Die 20 Kilo schwere Panzergranate des Tiger erreicht beim