Henning Stühring

Von Stalingrad bis Kursk


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des NKWD 4.000 Einwohner, vermeintliche Kollaborateure, „darunter auch Mädchen, die sich mit den deutschen Soldaten eingelassen hatten, besonders aber, wenn sie schwanger waren.“62

      Auf der Gegenseite hat sich mancherorts der russische Ersatz verschlechtert. Bei der 5. Jägerdivision ergeben Verhöre, dass viele der Überläufer im Alter zwischen 16 und 50 Jahren nur eine sehr kurze Ausbildung absolviert haben. Kanonenfutter für eine rohe Armee, die so verschwenderisch mit eigenem Blut umgeht wie keine zweite in der Kriegsgeschichte. Aber trotz der ungeheuerlichen Verluste scheint das Reservoir an wehrfähigen Männern (und Frauen!) unerschöpflich. In Puncto Kopfstärke bleibt die Rote Armee der Wehrmacht drückend überlegen, besonders an den Nebenfronten der Heeresgruppen Nord und Mitte.

      Zu der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes kommen die Unbilden der Natur. Das Gelände im Kampfraum Demjansk bleibt sumpfig, und die warme Jahreszeit produziert Massen an stechwütigen Mücken. Das Leben wird zur Qual. Zumal die Hauptkampflinie oft nur 20, 30 Meter Sicht bietet und lediglich über kilometerlange Knüppeldämme mit dem Hinterland verbunden ist. Das Vegetieren in feuchten, verrauchten Erdbunkern, mangelhafte Hygiene und Versorgung sowie Läuse, Juckreiz, Ausschläge, Durchfälle, Fieber zehren an den Kräften und Nerven. So bereitet auch eine Nebenfront den Soldaten beider Seiten schlimmen Dauerstress.

      Die Ruhe weg scheinen allerdings die dänischen Waffenbrüder des „Freikorps Danmark“63, einem Freiwilligenverband der Waffen-SS in Bataillonsstärke, zu haben. Mancherorts baden die lebensfrohen Skandinavier in wassergefüllten Bombentrichtern. Jedenfalls sind die Dänen nicht so lebensmüde, den Verheißungen der Russen zu folgen, wonach Überläufer angeblich „gutes Essen, weiße Betten, Wein und Frauen“ bekämen. Lieber kämpfen die „Wikinger“ um ihre Freiheit, statt sich ausgerechnet in die zu Recht gefürchtete sowjetische Kriegsgefangenschaft zu ergeben. Zumal die Lage aus damaliger Sicht noch recht hoffnungsvoll scheint.

      Das am 8. Mai mit über 1.000 Soldaten in die Kesselschlacht von Demjansk gezogene „Freikorps Danmark“ zählt Ende Juli noch eine Grabenstärke von etwa 300 Mann. Viele Kameraden liegen in russischer Erde begraben. Vergessene Tote. Die Gedenkstätte für die Gefallenen in Hoevelte wird 1945 von dänischen Widerstandskämpfern gesprengt. Toten Landsleuten, die auf der falschen Seite für eine ungerechte Sache ihre jungen Leben geopfert haben, verzeiht man zu dieser Zeit nicht. Selbst tolerante Dänen wollen kompromisslose Zeichen setzen – und das Mitmachen vergessen machen. Mit Donnerknall gegen ein Ehrenmal.64 Und Schimpf und Schande, Tritte und Schläge und mehr für die überlebenden Ostfrontkämpfer nach ihrer Heimkehr.

      Von einer anstrengenden Fahrt wieder in Porchow zurück, nimmt der beratende Chirurg der 16. Armee, Professor Dr. Hans Killian65, ein Bad im kühlen, kaffeebraunen Wasser des Schelon-Flusses. Der Freiburger, Jahrgang 1892, empfindet den Rhythmus der Natur dieser Tage als „geradezu hektisch“. Der kurze Sommer in Nordrussland läuft ab wie in einem Zeitraffer. Grüne Hetze. Als fühle die frische Sommerblüte schon wieder die nahe Herbstkühle.

      Keine Scheu vor den Blicken des in der Sonne liegenden Professors zeigen drei junge Russinnen, die sich am gegenüberliegenden Ufer entblößen. Die Nackedeis scheinen nicht die geringste Scham zu empfinden. Für Killian ist es, inmitten des nicht enden wollenden Kriegselends, „ein paradiesischer Anblick und ein in seiner Naivität entzückendes Bild […] wie Paris am Schelon“.

      Mit den paradiesischen Anblicken soll es schon bald wieder ein Ende haben. Zumal in den Stäben der 16. Armee das Unternehmen „Winkelried“ vorbereitet wird. Die Operation sieht vor, die Landbrücke zum II. Armeekorps im Kessel von Demjansk nach Süden zu verbreitern. Am 27. September beginnt der sorgfältig geplante Angriff. Wie eine chronische Krankheit mit immer wiederkehrenden Symptomen: Trommelfeuer, Luftbombardement, Sturmangriff – und im Anfangs- wie im Endstadium für zahlreiche Betroffene tödlich verlaufend.

      Nachdem sich der Frühnebel verzogen hat, herrscht sonniges Spätsommerwetter. Im Tagebuch der 126. Infanteriedivision66 heißt es, dass der Feind an der Ssosna „einzeln in den Löchern getötet werden [musste]; selbst Schwerverwundete schossen bis zum letzten Atemzug.“ Der 19-jährige Helmut Nosbüsch67, Schütze 4 an einem schweren Maschinengewehr (sMG) in der 4. Kompanie/Infanterieregiment 422, macht den Angriff im Südteil des Schlauches mit. Vor dem Antreten ist Glühwein ausgegeben worden. Jetzt teilt der Feind, dessen Stellungen trotz des Luftbombardements durch Stukas und Me 109 größtenteils intakt geblieben sind, aus, und zwar mit grausamer Rohheit, wie Nosbüsch zu berichten weiß:

      „Vor einem Erdbunker fanden wir einen deutschen Spähtrupp, tot, nebeneinander liegend mit durchgeschnittenen Kehlen; ein grausiger Anblick […] Wir hatten Kalmücken, Tataren und sibirische Sträflingsbataillone vor uns. Es waren die brutalsten russischen Einheiten, mit denen wir es zu tun hatten. Es gab kein Pardon, vorübergehend wurden keine Gefangenen gemacht.“

      Abends meldet Generalleutnant Laux, Kommandeur der 126. Infanteriedivision, 70 Gefallene und 465 Verwundete in den eigenen Reihen. Ein hoher Preis für ein paar Meter Sumpf mehr.

      Leichter voran kommt die rechts anschließende 5. Jägerdivision. Aber auch Generalleutnant Allmendingers Einheiten müssen örtlich erbitterten Widerstand brechen. Leutnant von Falkenhayn68, Kompaniechef im Regiment 54, erleidet bei den teils im Nahkampf geführten Gefechten Schuss- und Bissverletzungen!

      Neben dem zähen Gegner bereitet den Angreifern das unübersichtliche Gelände, das durch Wald, Moor und Heide geprägt ist, Schwierigkeiten. Nichtsdestotrotz gelingt es, die Landbrücke bis zum 11. Oktober von vier auf zwölf Kilometer nach Süden hin zu verbreitern. Die dünne Nabelschnur zum II. Armeekorps ist etwas dicker geworden. Mit diesem Erfolg sind überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen, den Kessel von Demjansk ausreichend versorgen zu können, um für den mit Sicherheit zu erwartenden nächsten Großangriff der sowjetischen Nordwestfront einigermaßen gerüstet zu sein.

      Man muss bedenken, dass schon der Bedarf einer einzigen Division riesengroß ist, und zwar nicht nur an Munition. Allein die 12. Infanteriedivision69 hat im ersten Halbjahr des Ostkrieges 8.110 Tonnen Verpflegung verbraucht. Das bedeutete einen durchschnittlichen Tagesbedarf von 66 Tonnen für das Jahr 1941. Die Bäckereikompanie der Division buk zwischen dem 22. Juni und 31. Dezember über zwei Millionen Brote. Und die Schlachtereikompanie zerwirkte 3.344 Rinder, 1.568 Schweine und 190 Hammel. An Zigaretten sind 1941 über 15 Millionen Stück, an Alkohol fast 100.000 Liter ausgegeben worden. Demzufolge rauchte jeder Divisionsangehörige in den ersten sechs Monaten des Russlandfeldzuges statistisch gesehen 750 Zigaretten. Also im Schnitt vier Glimmstängel pro Tag. Wenn er denn Raucher war; andernfalls tauschte er seine Zigarettenration ein, zum Beispiel gegen Verpflegung. Was den Alkohol betrifft, ergab sich für die genannte Zeitspanne ein durchschnittlicher Konsum von insgesamt fünf Litern. Daraus errechnet sich ein Tagesmittel von gut 25 Millilitern oder, anders ausgedrückt, ein Gläschen Schnaps.

      Das Unternehmen „Winkelried“, auch „Michael“ genannt, bezahlen die deutschen Angreifer mit 415 Toten und 1.875 Verwundeten. Die Verluste der russischen Verteidiger werden auf 10.000 (!) Gefallene geschätzt. Dazu kommen Zigtausende Verwundete. Als Gefangene werden 3.178 Rotarmisten eingebracht.70

      Um die Verwundeten beider Seiten müht sich der Stabsarzt Werner Forßmann71 nach Kräften. Als ihm zwei schwer getroffene Rotarmisten, die zehn beziehungsweise 15 Kilometer Fußmarsch hinter sich gebracht haben, vorgeführt werden, sieht der Chirurg nur geringe Überlebenschancen. Beiden ist die Bauchdecke aufgerissen, und sie halten ihre ausgetretenen Därme in einem Tuch. Ein Wunder und zugleich ein Beleg für die Härte der Iwans, dass sie es überhaupt bis zum Hauptverbandsplatz geschafft haben. Forßmann steht unter Zeitdruck, reinigt und vernäht notdürftig die Schlingen. Dann stopft er die Därme zurück in die Bauchhöhlen und schließt die Wunden. Als er sich ein paar Tage später nach den beiden Patienten erkundigt, bekommt er von seinem Feldwebel die überraschende Antwort:

      „Verdauung normal. Appetit gut.“

      Der Fleischwolf von Rshew – Sommerschlacht 42

      Südlich vom Demjansker Kessel liegt der Frontbogen Rshew. Jener berüchtigte Kriegsschauplatz am Nordflügel der Heeresgruppe Mitte, der 15 Monate lang, vom Dezember 1941