Henning Stühring

Von Stalingrad bis Kursk


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zu verdanken. Allein das Artillerieregiment GD hat in drei Wochen, vom 10. September bis 1. Oktober, über 30.000 Granaten verfeuert.

      Ihre bescheidenen Geländegewinne bezahlt die Rote Armee mit exorbitant hohen Blutopfern. Nach Abschluss der Kämpfe meldet Generaloberst Model fast 250.000 Feindtote. Eine Viertelmillion – eine unglaubliche, erschreckende Zahl! Ein russischer Offizier der 17. Garde-Schützendivision berichtet erschüttert über das Grauen auf dem Schlachtfeld:

      „Im ganzen Krieg habe ich nichts Schrecklicheres gesehen: Riesige Bombenkrater, bis zum Rand mit Wasser gefüllt, am Wegesrand zerstörte Fuhrwerke und Autos, tote Pferde und ringsherum nur Leichen. Und aus dem Wald das Stöhnen der Verwundeten.“83

      Zu den grässlichen Menschenverlusten kommen immense Materialeinbußen. Zwischen dem 11. August und 8. September sind 1.000 Russenpanzer zerstört worden. Das Flakregiment 10 hat mit seinen gefürchteten 88-Millimeter-Kanonen allein am 9. August nicht weniger als 50 sowjetische Kampfwagen außer Gefecht gesetzt.

      Schwer wiegen auch die deutschen Einbußen. Die Verluststatistik der 9. Armee verzeichnet bereits für die ersten beiden Wochen der Schlacht, vom 30. Juli bis zum 14. August, 15.000 Gefallene und Verwundete; oder anders ausgedrückt: täglich 1.000 Abgänge. Insgesamt meldet die Heeresgruppe Mitte nach dem Abflauen der Kämpfe 42.000 Mann blutige Verluste. Aber nicht nur die Grabenstärken sind bedenklich gesunken, auch die Moral scheint in einigen Verbänden angeknackst. Das Kriegstagebuch der sächsisch-fränkischen 256. I.D.84 vermerkt über den 10. August: „Die russischen Panzer verfolgen eine neue Taktik: Sie fahren nur auf 1500 bis 2000 Meter an die HKL heran, bleiben so außerhalb des Bereiches unserer panzerbrechenden Waffen und schießen systematisch als gepanzerte Artillerie jede Stellung, jedes MG und schließlich jedes Schützenloch zusammen. Demoralisierende Wirkung bei der Infanterie, beginnender Panzerschock.“

      Und in einem anderen Gefechtsbericht liest man: „Wir Jungen ahnten, die Alten bestätigten es überzeugt: Die Materialschlacht der Somme, der Kampf um stahlzerpflügte, blutgetränkte Quadratmeter wurden in Vorstellungen oder Erinnerungen zu neuerlebter Wirklichkeit.“

      Es ist an der Zeit, diese Erinnerungen endlich aus dem Dämmerreich des Vergessens, Verdrängens, Verschweigens zu reißen und in eine angemessene Reihe mit den berühmten militärischen Brennpunkten des Zweiten Weltkrieges zu stellen. Denn am Oberlauf der Wolga, rund um Rshew, sind zumindest kaum weniger Soldaten gefallen als am Unterlauf, bei Stalingrad. Auf russischer Seite kündet jahrzehntelang kaum mehr als eine Gedichtzeile von Alexander T. Twardowski vom Massensterben im Zentrum der Ostfront:

      „Ich wurde in der Nähe von Rshew getötet.“

      Es darf noch mehr der Menschenopfer gedacht werden. Auf beiden Seiten. Gerade weil es in dieser gigantischen Abnutzungsschlacht keine ruhmreichen Sieger, sondern nur Verlierer gibt, denn der deutsche Abwehrerfolg erweist sich letztlich als wertloser Pyrrhussieg. Zwar binden die 9. und Teile der 4. Armee starke Feindkräfte im Zentrum der Ostfront, und nicht zuletzt ihr Stehenlassen als Lanzenspitze gegen Moskau hat der Heeresgruppe Süd das Überraschungsmoment für den „Fall Blau“ in die Hand gegeben. Aber damit wäre die wichtige Aufgabe der Täuschung des Feindes bis zum Sommer 1942 erfüllt gewesen. Mit Fortschreiten der deutschen Großoffensive im Süden hätte eine vorausschauende Rücknahme des überdehnten Frontbogens um Rshew auf eine verkürzte Sehnenstellung jedenfalls Kräfte in Stärke von einer Armee bei der Heeresgruppe Mitte freigemacht. Ein gutes Dutzend Divisionen, die etwa zur Deckung der langen Donflanke herangezogen werden konnten, statt diese heikle Mission allein den schwachen verbündeten Streitkräften der Ungarn, Italiener und Rumänen anzudienen. Deutsche Verbände, die sehr wahrscheinlich ausgereicht hätten, nicht nur zur Verhinderung der Stalingrader Katastrophe überhaupt, sondern um der Kaukasus-Offensive genug Rückhalt für einen durchschlagenden und nachhaltig gesicherten Erfolg zu geben ...

      Aber Hitler will eben nicht mal an Nebenfronten Boden preisgeben, obwohl damit dringend benötigte Reserven für den Schwerpunkt im Süden gewonnen werden könnten. Die kräfteraubende Belagerung Leningrads, der gefährliche Kessel von Demjansk und der exponierte Frontbogen Rshew besitzen dagegen operativ keinen Wert mehr. Statt diese unhaltbar gewordenen Positionen spätestens im Herbst 1942 freiwillig zu räumen, soll die Rote Armee schon bald den Rückzug erzwingen.

      Todeszone Orel – Unternehmen „Wirbelwind“

      Am Südflügel der Heeresgruppe Mitte ist die Stadt Orel der Dreh- und Angelpunkt, mit dem die Front steht oder fällt. Zu den Verbänden, die im Kampfraum der 2. Panzerarmee fechten, zählt die 25. I.D. (mot.). Generalleutnant Grassers Truppe führt während des Sommers 42 einen verbissenen Kleinkrieg an der Suscha. Darunter auch Bertold Elzer85, der als Zugführer im Infanterieregiment 35 eingesetzt ist.

      Am 11. Juli schleicht ein deutscher Stoßtrupp durchs Niemandsland. Der Auftrag der Einheit: Einen Steg über die Suscha zerstören. Unterwegs trifft der Trupp plötzlich auf eine Gruppe Rotarmisten. Leutnant Rauscher reißt die Maschinenpistole hoch. Aber auch der russische Führer bringt seine automatische Waffe blitzschnell in Anschlag. Die beiden Offiziere drücken ab. Zugleich. Treffen. Fallen. Beide. Zwei Gegner, im Tode vereint.

      Tragische Fälle, die sich dieser Tage hinter der Phrase „keine besonderen Kampfhandlungen“ verbergen. Die „Todeszone“ im Großraum Orel gilt als einer dieser leidigen Nebenkriegsschauplätze, damals wie heute wenig beachtet. Als Bertold Elzer am 28. Juli den Divisionsfriedhof in Deschkino besucht und die vielen bekannten Namen auf den Grabkreuzen liest, verliert er die Fassung. – „Nach zwei, drei Reihen war ich so erschüttert, dass ich weglief.“

      Am 10. Juli notiert Divisionspfarrer Wolf von der 18. Panzerdivision: „Die Toten mehren sich, die Verluste werden unheimlich. In meinem schwarzen Büchlein steht schon ein schwarzes Kreuz hinter dem anderen [...]“86

      Angesichts der über 400 Gräber für die Gefallenen des Schützenregiments 52, die die Abwehr eines russischen Großangriffs, vorgetragen von 150 Panzern und 21 Bataillonen, mit Stoßrichtung Shisdra, Fernziel Orel, gekostet hat, sagt der übernächtigte Kommandeur nach langem Schweigen: „Da liegt meine alte Garde. Eigentlich gehörten wir auch da hin. Dann wäre es vorbei.“

      Für die letzten zehn heißen Sommertage vom 1. bis zum 10. Juli meldet die 18. Panzerdivision den Abgang von 43 Offizieren und 1.363 Unteroffizieren und Mannschaften. Bereits im Vorjahr hat der sächsische Großverband einen überdurchschnittlich hohen Blutzoll an der Ostfront zahlen müssen. Zwischen dem 22. Juni und 31. Dezember 1941 verzeichnete die 18. Panzerdivision 1.009 Gefallene, 3.560 Verwundete, 480 Vermisste, dazu kamen noch 2.274 Kranke. Das bedeutete 7.323 Gesamtabgänge bei einer Ausrückstärke von zirka 13.000 Mann zu Beginn des Unternehmens „Barbarossa“. Allein der Anteil der blutigen Verluste betrug somit annähernd 40 Prozent, während es beim gesamten Ostheer gut 25 Prozent waren.

      Nach dem erneuten schweren Opfergang Anfang Juli 1942 sieht Divisionspfarrer Wolf den wegen „besonderer Tapferkeit und persönlichem Einsatz“ in den letzten Gefechten zum Ritterkreuz vorgeschlagenen Chef der 7. Kompanie/Schützenregiment 101, Oberleutnant Günter Schulze, „weinend über das Schlachtfeld“ laufen. Der verzweifelte Offizier ist auf der Suche nach seinem Bataillon, „das zerschlagen war“. Von einer Siegesstimmung über den hart errungenen Abwehrerfolg, die vernichteten 91 Feindpanzer, berichtet Pfarrer Wolf indes nicht. Am 18. Juli wird die ausgeblutete 18. Panzer- durch die 52. Infanteriedivision abgelöst, um endlich aufgefrischt zu werden. Es ist die erste Frontablösung seit August 1941.

      Noch einmal Vorwärtsstürmen soll die 2. Panzerarmee am 11.8.1942. An diesem Tag beginnt das Unternehmen „Wirbelwind“, der lange geplante konzentrische Angriff von Generaloberst Schmidts Großverband auf den sowjetischen Frontvorsprung bei Suchinitschi, nördlich Orel. An Artillerie haben immerhin 46 Batterien, insgesamt 184 Geschütze87, Feuerstellungen bezogen. Die Operation sieht vor, von Süden her eine schnelle Kampfgruppe auf die Schisdra anzusetzen, den Fluss zu überschreiten und dann weiter nach Norden bis zur Vereinigung mit der 4. Armee durchzustoßen. Einhundert Kilometer sind zu bewältigen. Aber nur am ersten Tag gelingt der 11. Panzerdivision ein tiefer Einbruch bis Uljanovo. Dann gebietet das befestigte, verminte Gelände, in dem sich der Gegner so geschickt wie verbissen verteidigt,