Julie Starke

Mutterherz Teil 2


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Wetter drückt auf das Gemüt, senkt die Motivation und lässt auch den einen oder anderen verdrängten Gedanken ungewünscht zum Vorschein kommen. Irgendwann, ganz sicher, wird der Himmel wieder aufreißen und das vertrauenserweckende, sehnsuchtsvoll erwartete Blau wieder durchblicken lassen. Etwas ganz anderes ist es, wenn die Wolken beginnen, um das eigene Herz zu kreisen. Wenn sie dann allmählich so eng werden, dass kein anderes Gefühl außer bitterem Misstrauen mehr Platz hat, schwindet die Hoffnung auf einen Irrtum.

      Tim rieb sich den dunkelblonden Schopf. Frau Hänggis Information über die Geschäftsanteile ihrer Schwester war nachweislich falsch gewesen. Außerdem durfte er eines nicht außer Acht lassen: Silvia Hänggi hatte Gelegenheit gehabt, vor dem Detektivbesuch die E-Mail in den Drucker zu legen, das Telefonkabel durchzuschneiden und das Weinglas mit Heldmanns Spuren zu platzieren. Ihre milchkaffeefarbenen Augen leuchteten in seiner Erinnerung auf. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er wollte nicht, dass Frau Hänggi etwas mit dem Tod ihrer Schwester zu tun hatte. Er musste etwas tun. Irgendetwas, bevor Manfred Keller oder Franziska Lausitz ebenfalls misstrauisch wurden.

      ***

      Was war schlimmer: ihr eigener Anblick oder der Schmerz, der sie erfüllte? Das Bild im Badezimmerspiegel bewies, was sie noch immer nicht glauben konnte. Der Abdruck seiner einzelnen Finger zeichnete sich sichtbar auf ihrer Wange ab: Vier lange, kräftige Spuren, die sich von der Nasenfalte bis zum Ohr ausdehnten. Sie drehte ihren Kopf leicht und zuckte empfindlich. Der Schmerz zog sich durch die Halswirbel. Ihre Haut im Gesicht brannte bei der kleinsten Berührung. Sie ließ kaltes Wasser über einen Waschlappen laufen, kühlte ihre Backe. Im Spiegelbild sah sie sich selbst in die Augen.

      „Du bist wirklich zu weit gegangen, Franziska! Du hast ihn hintergangen. Du hast dich hinter seinem Rücken in seine Angelegenheiten eingemischt. Er leidet unter der Arbeitslosigkeit, versucht Ideen zu entwickeln und umzusetzen für uns und unsere Familie. Und dann wirfst du ihm Faulheit im Haushalt vor! Haushalt ist nun mal nicht sein Ding! Diese Rolle ist er nicht gewöhnt und er will sie auch nicht. Er leidet. Und was machst du? Du zerstörst seine Alternativen! Du schreibst hinter seinem Rücken seine Freunde an und streust auch noch Salz auf seine Wunden.“

      Neben dem Schmerz im Gesicht fühlte sie nichts als Scham darüber, mit unbedachten Äußerungen ihren Mann dazu gebracht zu haben, ihr weh zu tun.

      Montag, 02. April 2012

      An diesem unheilvollen Montag brachte Elena Siebert ihrem neuen Boss um 16:30 Uhr die Unterschriftenmappe, damit er die Post bis 16:45 Uhr unterschreiben konnte. Seit Callum Black zum Vorstand der Aktiengesellschaft ernannt worden war, war Elena Siebert schon fünf Mal zu spät zum Abholen in den Kindergarten gekommen. Die traurigen Augen und das vorwurfsvolle „Ich bin das letzte Kind. Warum holst du mich so spät?“ ihres Sohnes reichten völlig aus, ihr ein bleiernes Gewissen zu machen. Aber das war nicht das schlimmste. Die Erzieherinnen im Kindergarten nahmen die ersten vier Male das Zuspätkommen mehr oder weniger kommentarlos hin. Vergangenen Donnerstag jedoch wies die Gruppenleiterin auf die Klausel im Betreuungsvertrag hin, in dem wiederholtes, zu spätes Abholen als Grund zur Kündigung des Betreuungsplatzes genannt wurde. Frau Siebert verstand den Wink, gelobte Besserung und holte ihr Kind am Freitag vorbildlich eine Viertelstunde vor Ende der Abholzeit. Aber der Boss saß da in einem Meeting und sie konnte pünktlich gehen. Der Verlust des Kindergartenplatzes würde das Aus ihrer Arbeitsstelle bedeuten. Und mit nur einem Gehalt konnten Wieland und sie die Rate für das Haus nicht mehr bezahlen. Jetzt war es kurz vor fünf und die Mappe lag noch immer bei ihm. Beunruhigt sortierte sie die Unterlagen auf ihrem Arbeitsplatz, räumte den Tisch auf und spülte ihren Kaffeebecher in der Teeküche aus. Um Punkt 17:00 Uhr öffnete sie den Büroschrank, zog ihre bequemen Büroschuhe aus und ihre Straßenschuhe an. Sie schlüpfte in ihren Mantel, legte sich ihre Riemchenhandtasche um die linke Schulter und wartete. Was würde passieren, wenn sie jetzt einfach ging? Herr Black würde sehr wütend werden. Die Minuten vergingen. Ihre Unruhe wuchs. Sie spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. Sie musste spätestens um 17:15 Uhr gehen, um noch pünktlich zum Kindergarten zu kommen. Die Uhr zeigte 17:05 Uhr. Feierabend seit fünf Minuten. Doch solange die Unterschriftenmappe noch nicht zurück war, konnte sie die Post nicht zum Versand fertig machen – und das war nun mal ihr Job. Und heute war das wichtige Schreiben an die Bank dabei. Das Schreiben, um das den ganzen Vormittag ein irrsinniger Aufwand betrieben worden war.

      Der Minutenzeiger sprang auf die 2. Elena Siebert fasste einen Entschluss. Sie würde beim Chef anklopfen und ihn um die Mappe bitten. Sie klopfte an. Nichts tat sich. Als sie ihre Hand auf die kalte Klinke legte, pochte ihr Herz aufgeregt. Sie klopfte erneut und öffnete gleichzeitig die Tür.

      „Herr Black“, begann sie. „Die Mappe!“

      Callum Black, der hinter dem schwarzen Monitor kaum zu sehen war, fuhr hoch. „Sehen Sie nicht, dass ich hier arbeite?“

      „Ich muss gehen. Wenn die Post heute noch raus soll, brauche ich die Mappe jetzt!“

      „Dann nehmen Sie sie doch einfach mit und lassen mich endlich in Ruhe!“

      „Haben Sie unterschrieben?“ wagte sie zu fragen.

      „Wie lange wollen Sie mich noch nerven? Nehmen Sie das Ding und verschwinden Sie! Auf Wiedersehen!“

      Frau Siebert angelte nach der Mappe. Ihre Lippen formten einen Abschiedsgruß, doch sie brachte es nicht fertig, ein „Wiedersehen“ hörbar auszusprechen. Im Sekretariat schlug sie die Mappe auf. Mit raschen Händen nahm sie ein Schreiben nach dem anderen heraus, faltete es geschickt und steckte es in einen weißen Umschlag. Beim vierten Bogen sah sie es. Ausgerechnet das Schreiben, welches an die Bank ging. Die Unterschrift fehlte. Hastig durchforstete sie die anderen Papiere. Die Unterschrift fehlte sonst nirgends. Die Uhr zeigte 17:15 Uhr. Sie musste jetzt das Büro verlassen, um ihr Kind zu holen.

      Was sollte sie bloß tun?

      Um Zeit zu gewinnen, tütete sie zunächst die unterschriebenen Briefe ein und frankierte diese. Dann fasste sie kurzerhand einen Entschluss. Sie klebte ein Post-it auf den nicht unterschriebenen Brief, kritzelte eine Notiz und faxte das Schreiben an die Bank. Es war sechs Minuten vor halb sechs. Mit hinter sich herfliegender Handtasche und der rutschenden Post unter dem Arm eilte sie zum Kindergarten.

      ***

      Der neue Praktikant hatte kugelrunde schokobraune Augen, bonbonrosafarbene Strähnen in fast pechschwarzem Haar und war ein Mädchen. Nuray Yilmaz‘ lilafarbene Sternenohrringe baumelten an ihren Ohren im selben Takt, wie sie ihren Kaugummi kaute. Die vierzehnjährige Neuntklässlerin war nicht groß - etwa einen guten Kopf kleiner als Tim - und wenn man die aufgetürmten Haare einmal hinunter kämmte und die Absatzschuhe wegließ, dann ging sie ihm nur knapp bis zur Brust.

      „Ich bin schon sehr gespannt, was ich hier alles tun darf!“ plapperte sie. „Ich habe mir extra so eine Fucking-Army-Hose gekauft, damit ich auch versteckte Beobachtungen durchführen kann. Alter, die war scheißteuer!“

      Tim stutze über ihre Ausdrucksweise. „Eine was?“

      „Eine Army-Hose. Mit so ‘nem Tarnaufdruck, damit man zwischen Büschen und Sträuchern nicht so leicht entdeckt wird.“

      „Ich glaube nicht, dass du hier eine 'versteckte Beobachtung zwischen Büschen und Sträuchern’ durchführen musst“, sagte Tim leicht belustigt.

      „Ich kann sie natürlich auch einfach so anziehen!“ antwortete Nuray schnell. „Ist gar nicht schlimm. Sieht auch so geil aus! Was machen wir denn sonst noch so?“

      „Die Arbeit ist ganz abwechslungsreich. Natürlich viel Bürokram. Herr Keller macht oft Observierungen. Das heißt, er beobachtet Leute und schreibt auf, was die so tun. Meist überprüfen wir Daten, Adressen, holen Schufa-Auskünfte und so was. Aber hin und wieder gibt es zum Beispiel auch Aufträge, bei denen wir in Geschäften, die uns dafür bezahlen, klauen, um Schwachstellen aufzuzeigen.“

      „Das ist cool. Dann wird man fürs Klauen bezahlt? Geil.“

      Tim zeigte ihr das Büro und führte sie dabei durch sämtliche