Julie Starke

Mutterherz Teil 2


Скачать книгу

begann Tim und wurde von ihr sofort unterbrochen.

      „Ist klar, dann ruf ich erst mal jemanden an und frag, ob ich den Kerl auch wirklich rein lassen soll.“

      „Nein“, widersprach Tim. „Dann gibst du diesen Code ein und kannst an der Sprechanlage hören, was er sagt…“ er tippte auf das Tastenfeld „und dann bestätigst du das mit der Rautetaste.“

      „Was ist eine Rautetaste?“

      „Na, dieses Doppelkreuz hier, der Gartenzaun!“

      „Ach, Hashtag meinst du!“

      „Wie auch immer. Du drückst und dann öffnet sich die Absperrung und die Tür kann aufgedrückt werden.“

      „Und ich lass alle rein die klingeln? Einfach so?“

      „Jep!“ antwortete Tim.

      „Und was braucht‘s ihr dann so ein scheißmerkwürdiges Türabsperrungssystem? Wenn ich doch jeden rein lassen tu?“

      „Damit niemand, der hier arbeitet, einen Schlüssel braucht. Es funktioniert über den Fingerabdruck.“

      „Cool!“ antwortete Nuray und schob den Kaugummi von einer Backe kauend in die andere. „Wenn einer einbrechen will, muss er dir den Finger abschneiden und ihn an das Dings halten, damit die Tür aufgeht!“

      „Sensor“, korrigierte Tim und schob sie sanft vom Empfang weg.

      „Das hier ist der Kopierer. Wir können alles kopieren, Din A 4, Din A 3, schwarz und bunt, beidseitig und von zwei einzelnen Kopien auf eine Doppelseite…“

      „Und umgekehrt“, ergänzte Nuray.

      „Das weiß ich nicht“, gab Tim zu, der das noch nie probiert hatte. Er zeigte Nuray die kreischende Kaffeemaschine und wie man sie bediente.

      „Und wo ist das Labor?“ fragte Nuray, nachdem sie den Rundgang beendet hatten.

      „Welches Labor?“

      „Na, in CSI haben sie immer so coole Labore mit Schwarzlichtlampen, in denen sie dann die Spurensicherungen mit den Mikroskopen machen und so.“

      „Das ist bloß eine TV-Serie! Dort laufen sie auch mit Taschenlampen am Tatort herum, obwohl sie einfach Licht anknipsen könnten.“

      „Echt? Ist mir noch nicht aufgefallen“, antwortete Nuray und dachte einen Augenblick lang nach. „Du hast Recht, Mann, Alter! Gestern hatten sie auch Taschenlampen an. Hab noch nie darüber nachgedacht, weshalb sie das Licht nicht anmachen!“ Nuray sah sich um. „Also, kein Labor?“

      „Nein“, bestätigte Tim. „Kein Labor.“

      „Och“, Nuray zog eine Schnute. „Und ich hab mich schon so darauf gefreut, in so ‘nem Laborkittel am Tisch zu stehen und verfickte Proben auszuwerten und genetische Fingerabdrücke zu untersuchen und mit den assligen Tätern zu vergleichen und so ‘n Scheiß.“

      „Für so etwas beauftragen wir eine andere Firma.“

      „Für was?“

      „Für Vaterschaftsgutachten oder so, wenn ein genetischer Abgleich durchgeführt werden muss. Wir nehmen nur die Proben und schicken sie ins Labor.“

      „Cool. Darf ich das mal sehen?“

      „Wie wir die Proben verpacken und Briefmarken drauf kleben?“

      „Nein, wie die arbeiten, um die Täter zu überführen.“

      „Dann musst du ein Praktikum im Labor machen. Wir selber geben nur unsere Materialien ab und warten auf die Ergebnisse.“

      „Aha“, sagte Nuray verständnislos.

      Herr Keller kam schwungvoll durch die schwere Eingangstür. „Ah, die Praktikantin ist schon da!“ sagte er freundlich. „Wie heißt du?“

      „Nuray.“

      „Und dein Vorname?“

      „Immer noch Nuray. Das ist türkisch und heißt Mondlicht. Nur steht für Licht und Ay ist der Mond.“

      Herr Keller nickte abwesend. „Ich muss noch einiges mit dir besprechen!“

      Nuray nickte eifrig. Keller bat Tim um einen Kaffee, bevor er sich mit der Praktikantin zurückzog. Tim wusste, was jetzt kam. Er hatte die Prozedur ebenfalls in seiner ersten Praktikantenwoche über sich ergehen lassen. Es waren seitenweise Aufklärungen über die Vertraulichkeitsklausel, die sie unterschreiben musste und ausführliche Belehrungen über die notwendige Diskretion und Ernsthaftigkeit der jeweiligen Aufträge.

      Es dauerte 20 Minuten, bis Nuray seufzend aus dem Besprechungszimmer wieder herauskam. Keller wies Tim an, ihr die Archivierung zu zeigen und verließ dann die Detektei. Der kastige Aktenschrank und das Archiv im Keller waren nicht groß und Tim erklärte rasch, wie es funktionierte.

      „Und was soll ich jetzt machen?“ fragte Nuray und klang gelangweilt, als Tim sie dann am Empfang Platz nehmen ließ. „Warten bis jemand kommt und dann den Code eingeben? Kommt heut überhaupt jemand?“

      „Es sind keine Termine vergeben. Aber ich glaube, ich hab da was für dich!“

      ***

      Nacht auf Dienstag, 03. April 2012

      Die Brücke spannte sich fast endlos weit über grässliches, unheilvolles Nichts. Es war ihm egal, wohin oder worüber die Brücke führte. Vollkommen egal. Das einzige, was ihn interessierte, war die Person, die sich langsam, aber stetig, darüber bewegte. Er wollte sie sehen. Ihr Gesicht sehen. Unbedingt.

      Er folgte ihr.

       Dreh dich!

       Bitte.

      Sie drehte sich nicht um. Er lief ihr hinterher, setzte einen Fuß vor den anderen. Eilte weiter. Sein Wunsch, sie zu berühren - nicht grob, sondern vorsichtig nur am Saum zupfend, damit sie anhielt und ihn eines Blickes würdigte - wuchs ins Unermessliche. Doch hier lief etwas schrecklich schief. Er konnte sie nicht berühren. Seine Arme waren zu kurz. Er kam nicht voran – und sie entfernte sich weiter. Wenn er jetzt nichts tat, würde sie einfach entschwinden. Tim sammelte seine Kräfte und überwand sich. Er rief, sie solle stehen bleiben.

      Sie musste ihn doch gehört haben! Er rief, nein er schrie, bis ihm der Hals brannte.

      Für einen Moment hielt sie inne.

       Bitte, dreh dich um!

      Dann setzte sie wieder einen Fuß vor den anderen. Als sei gar nichts echt. Nicht sie, nicht er. Nicht die Brücke, nichts.

      Wut breitete sich in ihm aus. Er wollte sie an der Schulter packen. Sie dazu bringen, sich ihm zu zeigen. Doch der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer. Das war doch nicht möglich! Tim sah sich verwirrt nach hinten um und stellte fest, dass er keinen Meter zurückgelegt hatte.

       Bitte. Dreh dich um! Zeig nur einmal dein Gesicht. Bitte.

      Als sie nur noch ein winziger Punkt am Horizont war, liefen ihm Tränen übers Gesicht. Sie hatte ihn erneut verlassen. Die kalte Klaue ergriff sein Herz und drückte zu.

      „Tim!“

      Das Licht erhellte schlagartig den Raum. Tim schrak auf.

      „Was ist? Dein Gesicht ist ja ganz nass. Du hast geschrien!“

      Tim kniff die kurzsichtigen Augen zusammen, um die Digitalziffern seines Radioweckers abzulesen. Es war kurz nach vier. Sein Onkel legte ihm besorgt die Hand auf die Schulter. Tim zuckte hilflos mit den Schultern. Mit jeder Sekunde wurden die Traumbilder von seiner schwindenden Erinnerung zerhackt wie Nebelschwaden in einem Ventilator. Er konnte seinem Onkel nicht mehr erklären, was ihn so aufgewühlt hatte. Er wusste nur eins: Die vermaledeiten Gespenster waren zurück.

      Es gelang ihm, seinen