Byung-uk Lee

Four Kids


Скачать книгу

streckte ihr seine Arme entgegen. Ein Junge, eine Umarmung und Ratlosigkeit. Das war es, was sie für diesen Tag mit in die Schule nahm. Über ihr hatte der Himmel sein graues Zelt gespannt und auf den Dächern schwatzten emsig die Spatzen. Hyuna genoss die morgendliche Ruhe. In einem Alltag ohne Rast waren solche Momente selten und kostbar für sie geworden. Manchmal machte sie sich tatsächlich Gedanken darüber, wo sich ihre Mutter gerade befand und was sie tat. Lange beschäftigte sie sich allerdings nicht damit, da sie wusste, dass nur Groll in ihr hochsteigen würde, der ihre Seele vergiftete. Sie stellte sich einen wunderschönen Garten in Yokohama vor, in dem unzählige Kirschbäume standen. Das helle Gelächter ihrer Mutter schallte durch die milde Luft, während sie mit ihrem Liebhaber auf einer Bank saß und Reiskuchen aß, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, dass sie zwei Kinder in ihrer Heimat zurückgelassen hatte. Wie konnte man nur seine Vergangenheit wegwerfen wie einen angebissenen Apfel? Schmeckte die Zukunft so gut, so süß, dass man alles, was einem je etwas bedeutet hatte, einfach zurücklässt?

      Hyuna wollte ihre Mutter nicht mehr wiedersehen. Auch wenn sie eines Tages vor der Haustür stehen sollte, sie würde ihr einfach die Tür vor der Nase zuschlagen und leugnen, sie zu kennen. Für eine Rabenmutter gab es keine zweite Chance, da ihre Kinder auch nie eine hatten. So einfach rechtfertigte man seine Gefühle.

      Bis zum nächsten Treffen mit Soo-Jung würden noch einige Tage vergehen. Als Lieferjunge musste er flexibel bleiben und hatte nicht immer Zeit für sie. Sie beneidete ihn, da er täglich neue Sachen erlebte, wogegen sie im Kerker des Alltags gefangen gehalten wurde. Ihre Mutter war geflohen und genoss die Vorzüge der Freiheit, mit oder ohne schlechten Gewissen. Endlich war sie aus dem Mock ihres Viertels herausgetreten und betrat eine neue Welt. Die Reklamelichter täuschten den Glamour vor, der in Soaps ausgestrahlt wurde. Zwar wusste sie, dass alles nur Gaukelei war, aber auf den Betrug ließ sie sich gerne ein. Das Schulgebäude hingegen war ein pragmatischer Betonklotz und auf dem Gelände standen nur ein paar kahle Bäume, die ihre Kraft aus der trostlosen Atmosphäre zogen. Die Schuluniformen glichen den Arbeitskleidungen von Fabrikarbeitern und im gleichen Trott strömten alle Schüler, ins Gebäude, nachdem die Klingel ihren Befehl über den Hof ertönen ließ. Ein greller Schrei, der einem an manchen Tagen einen Schauer über die Haut trieb. Nur eine Freundin hatte sie in der Schule und ausgerechnet die war heute nicht da. Ansonsten mied Hyuna andere Kontakte. Zu groß war die Furcht, dass man herausfinden könnte, wo ihre sozialen Wurzeln lagen. Jahrelang hatte sie sie unter Erde verscharrt und geheim gehalten. Selbst ihrer besten Freundin hatte sie nichts erzählt. Es war ein merkwürdiges Gefühl von Scham, wenn sie bei der Kleiderspende neue Sachen abholen musste, die Schuluniform als Maske benutzte, die ihre wahre Identität kaschierte. Dabei machten ihr selbst Unterschiede nichts aus. Interessierte es sie wirklich, aus welchen Gefilden Soo-Jung kam? Ihr Interesse wäre nicht verblasst, wenn er aus reichem Hause käme. Denn sie spürte, dass er ein gutes Herz besaß, aber die Gesellschaft machte keine Ausnahmen. Alles wurde verurteilt und so stand sie mit ihren Gedanken allein da. Gestrandet auf einer einsamen Insel und umgeben vom Wasser, das zu salzig war, um ihren Durst zu stillen. Sie stand auf dem Hof und beobachtete, wie der Wind das trockene Laub über den Boden jagte. Im Schatten des Schulgebäudes, lieblos konstruiert, um nur die Funktion zu erfüllen, die jungen Leuten uniform umzufunktionieren. Hier wurden keine Kleider hergestellt, keine Spielwaren, keine Elektronikartikel, sondern humane Puppen, die alle gleich aussahen, damit sie den Anforderungen der Gesellschaft gerecht wurden. Die Produktion eigener Ideen wurde hier durch die Reproduktion altherbekannter im Keim erstickt. Alles wirkte dadurch auf Hyuna mechanisch, blechern und tot. Daheim wurde sie von negativen Emotionen überrumpelt. Hier in dieser Schmiede des Wissens wirkten Gefühle steril, luftdicht verpackt und unantastbar. Langsam trat sie ins Gebäude. Die kahlen Mauern wurden von Abbildungen geziert, die meist Männer darstellten, die sich in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen verdient gemacht hatten. Altbackene Herren in grauen Anzügen. Die Hornbrillen gaben ihnen einen intellektuellen Anstrich. Diese Dinosaurier aus einem längst vergangenen Zeitgeist dienten als Ansporn für eine junge Generation, die durch Videospiele und Partys kontaminiert war. Lesen war für Hyuna eine Möglichkeit im Land der Träume zu verschwinden. Selbst Schulbücher las sie gerne. Es war ihre geheime Leidenschaft, die sie sicher in der Schatulle ihrer Seele aufbewahrte. Nur sie besaß den Schlüssel, und eines Tages würde sie eine Person treffen, mit der sie ihr kleines Geheimnis teilen würde. Vielleicht war Soo-Jung dieser spezielle Mensch? Vielleicht war es sogar ein Anflug von Liebe? So leicht und zart wie der Atemzug ihres kleinen Bruders im Schlaf.

      Der Unterricht hatte bereits angefangen und der Mathematiklehrer, der mit einem Holzstab auf die binomische Formel an der Tafel zeigte, bedachte sie mit strengem Blick.

      „Tut mir leid“, entschuldigte sich Hyuna mit gesenktem Kopf. Die gespielte Demut, Teil dieser Unterwerfungskultur, fiel ihr nicht schwer. Die anderen Schüler starrten gebannt auf die Ableitung auf der Tafel, die der Lehrer hektisch hinkritzelte. Alle blickten dorthin, als handelte es sich um eine Formel, mit der man ihre Leben verändern konnte. Hyuna hatte das Gefühl, sie würde zwischen Lernmaschinen sitzen, die unermüdlich Wissen aufnahmen, bis ihre Speicher voll war, um dann in gegebenen Momenten alles zu reproduzieren. Geld und Anerkennung durch REPRODUKTION. Das war das allerhöchste Ziel von jedem hier. In der Schulkantine verwandelten sich diese Maschinen wieder in Menschen. Der einzige Ort, an dem man Gelächter und heitere Gespräche vernahm. Alles untermalt vom kulinarischen Geräuschkonzert. Das Knistern, wenn jemand seinen Reis in ein getrocknetes Noriblatt hüllte, das Schlürfen von Misosuppe, das Krachen der Schweinerippchen. Hyuna saß vor ihrer Odengsuppe und hatte den Löffel nicht angerührt. Sie lauschte den Gesprächsfetzen, den Essgeräuschen, dem Klirren von Besteck. All das genoss sie mit geschlossenen Augen. Denn nach der lebhaften Kantine folgte wieder die mechanische Leere. Alle schlüpften in ihre eisernen Kokons. Die Menschen wurden zu Maschinen und die Maschinen wurden wieder zu Menschen. Ein ewiger Zyklus, den keiner wahrnahm. Nun blickte sie auf ihr Tablett. Rechts oben die Suppenschale, links oben die Schale mit rotleuchtendem Kimchi aus der Konservenfabrik, in der unteren Mitte der Reis, links davon immer die Essstäbchen und rechts der Löffel. Eine Mahlzeit im Micky-Maus-Format. Selbst das Essen hatte hier System. Endlich nahm sie ihre Stäbchen und begann mit ihrem Mahl, während sie die Welt um sich vergaß. Die Suppe war kalt, aber der Reis noch warm. So blieb alles im Gleichgewicht. Daheim ein zorniger Vater und ein liebevoller Bruder, kalte Worte im Klassenzimmer und warmer Reis in der Kantine. So sah ihr Leben aus. Ein Leben voller Gegensätze und sie vermochte nichts daran zu ändern. Nur eines lag in ihrer Hand: Sie konnte selbst entscheiden, wieviel Liebe sie der Welt gab. Eine Dosierung ihrer Gefühle, die sich je nach Person unterschied. Hass verspürte sie keinen, nur weniger Zuneigung. Selbst ihrer Mutter würde sie eines Tages verzeihen können. Vielleicht hatte sie irgendwann das Leben in Japan satt und würde zurückkehren in die Heimat ihrer Vorväter. Bis dato musste Hyuna sich um ihren Bruder und den arbeitslosen Vater kümmern. Die ständige Trinkerei war die Ursache für ihre Armut. Früher war er ein tüchtiger LKW-Fahrer gewesen, aber die Scheidung hatte ihn zum Reisschnaps getrieben und der Reisschnaps in die Arbeitslosigkeit. Deswegen hatte Hyuna sich geschworen nie einen Tropfen zu trinken. Wenn sie an Essständen vorbeiging und in die aufgedunsenen, benommenen Gesichter blickte, fühlte sie so etwas wie Stolz. Stolz nicht zu solchen Menschen zu zählen. Selbstbeherrschung war die einzige Barriere, die sie noch von Unvernunft trennte.

      Der Unterricht war so schnell an ihr vorbeigerauscht. Sie befand sich schon auf dem Heimweg. Am Straßenrand saß eine Frau, das Gesicht völlig verdreckt und den Körper in einer zerfledderten Bundeswehrjacke aus Deutschland gehüllt. Ihre groben Hände mit schwarzen Fingernägeln ausgestreckt für eine milde Gabe, aber die Fußgänger flossen einfach an ihr vorbei und vergaßen diesen erbärmlichen Anblick. Vergessen war einfacher als handeln. Verurteilen einfacher als Verständnis.

       Soll die sich doch einen Job besorgen.

       Zu faul zum Arbeiten und hier rumbetteln.

      Hyuna war eingefallen, dass sie noch einen getrockneten Tintenfisch im Rucksack hatte.

      „Gott schütze dich“, bedankte sich die Frau lächelnd.

      Die schmutzbedeckten Hände ergriffen ein Bein des Tintenfisches, als wäre es ein Rettungsring. Hyuna sagte nichts und ging einfach weiter. Über die Schulter hinweg sah sie, wie die Bettlerin mit ihren vergilbten, schiefen Zähnen