Byung-uk Lee

Four Kids


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mochte, und sich selbst eine Fruchtgummistange. Der LADEN, so bezeichnete ihr Vater eine kleine Baracke, die vollgestopft mit allerlei Getränken und Snacks war. Eine Bezeichnung, die zum plumpen Charakter Jun-Sus passte. Manchen Menschen sah man vieles an. Sie brauchten kein Wort zu sagen. Allein ihre Erscheinung ließ Schlüsse zu. Der Gedanke war für Hyuna zu einfältig, aber ihre bisherigen Erfahrungen hatten ihn bestätigt. Klischees wollte jeder vermeiden, aber sie gehörten zur Regel.

      Den grauhaarigen Mann, bei dem sie schon jahrelang einkaufte, kannte sie bis heute nicht mit Namen. Er saß nur still auf seinem Plastikstuhl und schaute sich die Sportnachrichten an. Die neusten Tabellenstände in der Baseballliga, die aktuellen Fußballergebnisse oder Sumokämpfe aus Japan. Beim letzten murmelte er gelegentlich ein paar höhnische Kommentare und nahm Hyuna kaum wahr, die in aller Ruhe ihre Tüte mit Crackern, Süßigkeiten und Alkohol füllte. Wie ein aufgewachter Hund blickte der Verkäufer auf, als sie zahlen wollte. So verlief jeder Einkauf, und Hyuna war froh darüber. Keine Fragen, keine Unterhaltung, nur das Nötigste. Sie hatte es satt, sich mit anderen Nachbarn aus dem Viertel über ihre Familie unterhalten zu müssen. Manchmal kam sie sich vor, als würde sie in einem Glaskasten sitzen, in dem alle hineinstarrten. Die neugieren Voyeure, die dummen Schwätzer und die infamen Gerüchteverbreiter. All diese Menschen konnte sie nicht mehr sehen.

      Wie konnten die Leute nur so sein?

      Nach dem Einkauf saß sie wieder mit ihrem Bruder auf der Mauer. Die Cracker krachten zwischen seinen kleinen Milchzähnen.

      „Hört sich an, als würdest du einen Baum fällen“, scherzte Hyuna. Beide kicherten. Während ihr der süßliche Geschmack der Fruchtgummistange noch auf der Zunge lag, blickte sie wieder zum Himmel. Die Vögel waren verschwunden, genauso wie ihr Vater. Grimmig hatte er in die Tüte gegriffen und sich nur die Sojuflaschen rausgenommen. Wie ein hässlicher Troll war er dann wieder in seine Höhle getrottet. Als sie die rasselnden Ketten eines Fahrrads hörte, blickte sie nach unten.

      „Und Lust auf eine kleine Spritztour?“

      Das kahle Engelsgesicht Soo-Jungs lächelte sie an. Hyuna blickte besorgt über die Mauer zum Haus. Er stand nicht draußen. Sie presste ihren Zeigefinger auf die Lippen, um Ji-Min zu signalisieren, dass er Stillschweigen bewahren sollte. Wie zu erwarten nickte ihr Bruder brav. Die Belohnung: ein Kuss auf Stirn und Wange und einmal Kitzeln, das mit gellendem Lachen erwidert wurde. Mit rasanter Geschwindigkeit nahm das Rad an Fahrt auf. Wenn es über ein Schlagloch fuhr, spürte sie am Hintern die ganze Macht des harten Gepäckträgers. Der Wind blies ihr um die Ohren und ihr Pony bäumte sich auf. Sie mochte seinen Körper. Nicht weil er schlank war, sondern vielmehr die Wärme, die von ihm strömte. Ihre schmalen Finger ertasteten seine Rippen. Aus Spaß zählte sie die Knochen.

      „Wohin fährst du?“

      „Ist eine Überraschung. Schließ deine Augen.“

      Sie tat es. Wenn sie jemanden mochte, gehorchte sie ihm blind. Mit geschlossenen Augen nahm sie die Welt um sich herum anders wahr. Sie hörte vieles und in ihrem Kopf entstanden Bilder, sodass sie trotzdem noch sehen konnte. Das summende Geräusch des Reifens, der auf dem Asphalt rieb, die kahlen Äste, geschaukelt vom Wind, und das bröckelnde Gestein. Eine Ausgeburt des Verfalls. Alles bedurfte der Pflege, sonst zerstörte es sich selbst. Häuser, Maschinen und die Seele. Lange war ihre Seele eine verrostete, alte Maschine gewesen, die nicht mehr funktionierte. Doch Soo-Jung hatte sie wiederbelebt. Und sie hatte wiedergefunden, was sie zu verloren geglaubt hatte, wie eine Münze, die in einen See geschmissen wurde und für ewig verschollen blieb. Das Fahrrad fuhr langsamer und sie schienen sich ihrem Ziel zu nähern.

      „Du kannst deine Augen wieder öffnen.“

      Sie standen vor einem hässlichen Betonklotz. Im Erdgeschoss hatte sich ein Nudelimbiss eingenistet, der nicht ins Gesamtbild passte, aber trotzdem dort hinzugehören schien. Die Scheiben waren beschlagen und das Kondenswasser perlte vom Glas ab.

      „Wohnst du hier?“

      Zufrieden nickte er, als handelte es sich um eine prächtige Villa.

      „Dort ist mein Arbeitsplatz und da im dritten Stock wohne ich.“

      Mit kindlichem Enthusiasmus deutete er auf ein mit weißen Vorhängen verziertes Fenster.

      Nachdem er sein Fahrrad an eine Straßenlampe gekettet hatte, ergriff er ihre Hand und führte sie. Sie mochte das. Alles wirkte so unscheinbar und doch erweckte es ihr Interesse. Manchmal konnten Menschen einen Ort interessanter machen, obwohl die Orte es selbst nicht waren. Ein gewöhnliches Gebäude konnte Bedeutung erlangen, wenn ein berühmter Schriftsteller darin verstorben war, auf einer verwilderten Wiese konnte vor Jahrhunderten eine entscheidende Schlacht stattgefunden oder auf einem einfachen Stuhl ein berühmter Politiker gesessen haben, um ein historisches Dokument zu unterzeichnen. In diesem Fall war dieser schlichte Wohnkomplex bedeutsam für sie, da ein Junge darin wohnte, den sie mochte. Ein Grund, der so schlicht und schön war, wie Liebe nur sein konnte. Er ergriff ihre Hand und gemeinsam betraten sie den Wohnblock. Nachdem Soo-Jung mit ihr an dem Imbissbesitzer vorbeihuschte, der nur verdutzt dreinblickte, stiegen sie mühsam die Treppen hoch. Dabei drückte Hyuna seine Hand noch fester, als würden sie den nervösen Gang zum Traualtar vollziehen.

      Die Wohnung war unkompliziert eingerichtet, passend zum Charakter des Kahlkopfs. Auf einer fleckigen Matratze wand sich eine graue Decke in seltsamen Formen, in der Ecke summte ein Kühlschrank sein eigenes Lied und daneben schlief ein Hund in einem Korb, auf dessen Fell eine Fliege ruhte, die er knurrend mit der Pfote verscheuchte.

      „Setz dich“, bat Soo-jung.

      Sie nahm auf einem harten Stuhl Platz, während Soo-Jung das Maul des Kühlschranks öffnete, in dessen Innenleben sie einen kurzen Blick werfen konnte. Spärlich gefüllt, wie es sich für einen Junggesellen gehörte. Eine kleine Schale mit Kimchi, Nudelreste unter einer Frischhaltefolie, eine angebrochene Packung mit Würstchen, wahrscheinlich Leckerbissen für den Hund, und einige Dosen Bier und Limonade. Das summende Maul schnappte wieder zu und Soo-Jung kam mit zwei gekühlten Dosen 7up wieder zum Tisch.

      „Hier trink, du bist bestimmt durstig.“

      „Eigentlich nicht“, gestand sie offen.

      Trotzdem stellte er ihr die grüne Dose vor die Nase und öffnete seine, die ein bedrohliches Zischen von sich gab. Sie schob ihre Hand über die kühle Tischplatte und bat um seine Wärme. Soo-Jung trank einen kräftigen Schluck, wischte sich den Mund ab und gab ihr die Zärtlichkeit, nach der sich das Mädchen sehnte. Lange Zeit schwiegen sie und blickten sich in die Augen. Sie versank in seinen großen, schönen Augen, die mandelförmig ein kräftiges Braun in sich bargen. Und er versank in ihren Augen, die schmal, aber trotzdem schön waren, da sie eine weibliche Güte und Unschuld beherbergten. Über Jungs hatte sie sich vorher selten Gedanken gemacht. Vielleicht weil die meisten, die sie kannte, innerlich verroht waren. Soo-Jung kleidete sich gern im Mantel des Selbstbewussten, aber sie wusste, im Inneren war er ein kleiner, schüchternen und ängstlicher Junge, der Niemanden auf der Welt hatte und sich einsam fühlte. Sie hingegen hatte noch Familie und fühlte sich trotzdem genauso. Zwei Negativpole, die sich entgegen der physikalischen Gesetze anzogen. Gerade das war es, was Hyuna in ihrer Überzeugung bestärkte, dass das perfekte Glück nicht existierte. Sie wollte aus dem Käfig des grauen Alltags ausbrechen, die Sackgasse verlassen, die ihr den Weg versperrte. Die Gesetzlosigkeit und uneingeschränkte Freiheit der Krähen am Himmel das war es, wonach sie sich sehnte.

      Sein jugendliches Gesicht kam näher und sie küssten sich. Soo-Jungs Atem hatte durch den Softdrink einen Kaugummiduft, der nun künstlich warm über ihre Haut wanderte. Ihre Nasen berührten sich in einem liebevollen Schwertkampf. Heute würde es passieren. Sie würde ihm ihren Körper schenken, der noch unbefleckt war wie ein schneeweißes Laken. Es war nicht der Ort, den sie sich dafür vorgestellt hatte, aber ihre Begierde nach ihm war unbeschreiblich, sodass sie seine Hand ergriff und ihn zur Matratze führte. Von dem ganzen Liebesspiel bekam Kurt Cobain nichts mit. Der Taiwanhund schlief noch tief und fest in seinem Körbchen. Mit der Behutsamkeit eines Unerfahrenen zog Soo-Jung ihr die Schuluniform aus, während ihre Hand sanft unter seinem T-Shirt ruhte und seinen Brustkorb ertastete.

      „Woher stammt