Byung-uk Lee

Four Kids


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nicht“, meinte er sanft lächelnd.

      Sie schwieg. Er hatte recht. Worte sollten diesen magsichen Moment nicht zerstören. Draußen dröhnte der Verkehrlärm mit einer unerträglichen Stetigkeit, die in das Summen des Kühlschranks einfloss.

      „Ich“, sagte sie zitternd, als wäre schlagartig ein kalter Luftzug durch die Wohnung gefegt, „sollte jetzt gehen.

      „Habe ich etwas falsch gemacht?“

      „Nein, hast du nicht.“

      Mit ungewohnter Hast zog sie ihre Uniform an, während sein nackter Oberkörper auf der Matratze ruhte. Es war ein Fehler gewesen. Die Begierde hatte sie blind gemacht. Blind für die Tatsache, dass sie noch nicht bereit für den nächsten Schritt war. Lange hatte sie davon geträumt, den Jungen zu finden, mit dem sie es wagen wollte, aber etwas hielt sie davon ab. Sie konnte selbst nicht erkennen, was es war. Es war so, als würde sie eine unsichtbare Hand führen und ihr Handeln bestimmen. Sichtlich zerstreut blieb Soo-Jung liegen, während sie die Tür öffnete und ihm einen letzten Blick zuwarf, bevor sie die Wohnung verließ und das Treppenhaus runterhastete. Die Seitentür zum Imbiss stand offen. Aus dem Geschäft klang es nach Menschen. Sie horchte genau hin, weil sie die Fähigkeit besaß, ihre Ohren für Dinge um sich herum öffnen. Neben Gelächter und undefinierbaren Gesprächen, war das Klappern von Besteck und schlürfende Schmatzen der Gäste zu vernehmen. Im Dampf eingehüllt sah sie die verschwommene Silhouette des Kochs, der ihr noch zum Abschied freundlich zuwinkte. Als Hyuna unfreundlich vom Straßenlärm empfangen wurde, verlangsamte sich ihr Tempo. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie doch zu Soo-Jung zurückkehren sollte, ihm wenigstens eine Erklärung liefern, die ihm aus dem Labyrinth der Verwirrung herausführen konnte. Doch sie entschied sich anders. Die Zeit für Erklärungen befand sich in der Zukunft. Zuerst musste sie nach Hause und sich ihrer Gefühle klarwerden. Aus unerfindlichen Gründen wollte sie Heim. Zu dem Haus, das sie jahrelang verlassen wollte, um Neues zu entdecken. Die einsame Insel im Meer aus Asphalt, der so hart und trostlos sein konnte, wie eine Steinwüste. Ihr Bruder war das einzige Licht, das sie an diesem düsteren Ort hielt.

      Es war schon dunkel in der Wohnung. Irgendwo in der Ecke konnte sie das unruhige Schnarchen ihres Vaters vernehmen, der wieder betrunken eingeschlafen war. Ein noch dunklerer Umriss schlich in der Schwärze herum. Schmunzelnd beobachtete Hyuna das Schauspiel. Ziel des bewegenden Schattens war der Kühlschrank, der sich lautlos öffnete und vom dumpfen Licht beleuchtet war kurz das junge Gesicht ihres Bruders zu erkennen, der etwas stahl, wonach sich der kleine Räuber wieder davonschlich. Draußen bellte ein Hund und riss Jun-Su fast aus den Träumen, wenn er überhaupt träumte. Hyuna kannte niemanden, der so wenig Fantasie besaß wie ihr Vater. Sein Gehirn schien jegliche Vorstellungskraft verbannt zu haben. Er beschäftige sich nur mit der Realität und wich von diesem Pfad stur nicht ab. Der kleine Diebstahl hatte sie einen Moment abgelenkt. Sie dachte immer noch an Soo-Jung. Heute hatte sie sich seinen Zärtlichkeiten verweigert. Wie sollte es mit ihnen weitergehen?

      Der kleine Ji-Min hockte in der Ecke seines Zimmers. Auch hier beleuchtete das schwache Licht den spärlich eingerichteten Raum. Gierig wie ein Raubtier zerrte er an der Stange aus gepresstem Krebsfleisch, die sich in seinem Speichel langsam auflöste.

      „Hast du wieder Hunger gehabt?“, fragte Hyuna liebevoll.

      Er nickte und schlang weiter alles hinunter.

      „Was hältst du von roten Tapeten?“, fragte er schmatzend.

      Mit seinen schmalen Augen betrachtete er den Raum. Die dunkelgrünen Tapeten waren stellenweise runtergerissen worden und gaben vulgär nackten Zement preis. Hyuna hockte sich auf ihre Schlafmatte, die sie mit ihrem Bruder teilte. In kalten Nächten wärmte sie sein kleiner Körper, in trostlosen Zeiten seine Liebe. Sie mochte es an seinen verschwitzten Haaren zu riechen, wenn sie hinter ihm lag. Denn der Schweiß eines Kindes roch anders. Er stank nicht, sondern strömte Unschuld aus.

      „Rote Tapeten“, wiederholte sie sich umblickend.

      „Ja, so rot wie Frau Lees Lippenstift.“

      Sie fuhr durch seine Haare und hielt sanft ein Büschel fest.

      „Eine andere Tapete bedeutet nicht ein anderes Leben, kleiner Bruder.“

      Er senkte enttäuscht den Kopf. Sie hasste sich selbst dafür, ihm seine Illusionen zu rauben. Mit einem Hammer seine Träume zu zerschmettern. Wie eine Glasur überzog Scham ihren Körper und sie legte sich mit ihm in den Schlafsack. Nach der harten Wahrheit wollte sie ihm wenigstens ein Quäntchen Trost spenden. Ji-Min schmiegte sich enger an ihren Körper. Außerhalb des Zimmers hörte sie Jun-Su, der wach geworden war und sich noch halb benommen einen Weg durch die Dunkelheit bahnte, um zu dem brummenden Kühlschrank zu gelangen, der den süßen Nektar des Alkohols in sich barg. Während sie den zitternden Körper ihres Bruders neben sich spürte, horchte sie genau hin. Sie fürchteten sich beide vor diesem Ungetüm, das sich nun zu ihrem Glück wieder hingelegt hatte. Ständig in Angst zu leben bedeutete für sie das wahre Grauen des Lebens. Die Launen ihres Vaters waren zuweilen unberechenbar wie die Wellen des Meeres. Manchmal peitschten sie hoch und drohten einen zu zerschmettern. Ein anderes Mal schwappten sie sanft ans Ufer, um lautlos ans Gestein zu branden. In diesem Meer segelten sie und ihr Bruder in einer kleinen Nussschale, die von Tag zu Tag mehr Risse aufwies. Land war noch nicht in Sicht, aber bald. Das schwor sie sich. Bald würden sie gemeinsam diesen wilden Sturm verlassen und ihr bestimmtes Leben finden.

      Pflichten

      Sein Zeigefinger ruhte still auf der Maus, während er mit einer gewissen Enttäuschung auf den Bildschirm starrte. Seit nun mehr als zwei Wochen war Soo-Jung nicht mehr online gewesen. Somit war er gezwungen, allein durch die virtuellen Welten zu reisen. Wilde Schlachten hatte er geschlagen und war über fantastische Mondlandschaften gereist. Doch die anregenden Gespräche mit seinem Freund fehlten ihm sehr. In gewisser Weise fühlte er eine bleierne Einsamkeit, obwohl er von vielen Menschen umgeben war. Sein Leben hatte sich kein Stück bewegt, dabei hasste er Stetigkeit mehr als alles andere. Sein Vater rügte ihn täglich, weil er keinen Schulabschluss hatte, seine Mutter verhätschelte ihn und nahm ihn während der wöchentlichen Treffen mit Frau No und Frau Oh, die einem Verhör gleichkamen, in Schutz.

      „Komm lass die Gäste nicht warten.“ Hee-Chul reckte seinen Kopf durch den Türspalt. Die strenge Haltung wies auf seine militärische Ausbildung in seiner Jugendzeit hin. Haekwon las gern in den Körpern anderer Menschen. Narben, Körperhaltung und Gesichtsausdrücke waren Spuren der Vergangenheit, die viel über eine Person preisgaben.

      Das vom Bildschirm beleuchtete Gesicht blickte auf und nickte. Im Flur hörte er einen lauten Seufzer. Hee-Chul war über sein Verhalten wieder mal mehr als enttäuscht. Seltsamerweise sollte er an diesem Kaffeekranz teilnehmen, da Frau No ihn, Kim Haekwon dem Träger des heiligen Schwertes, etwas fragen wollte. Genervt klappte er sein Notebook zu und schlurfte in die Küche wie ein Sträfling, der seinen letzten Gang zum elektrischen Stuhl beschritt. In den Dampfschwaden des frisch aufgebrühten Kaffees gehüllt saßen sie da in ihren Coco Chanel und Gucci Kostümen, drei verkleidete, reiche Clowns. Alberne Gestalten, für die Geld zum guten Charakter zählte. Haekwon nahm nur am Rand der Manege Platz. Sunia hastete zwischen den Damen hin und her, wobei Frau No am häufigsten die Dienste der pummeligen Haushälterin in Anspruch nahm. Während Sunia der grantigen Frau No ein Stück Kuchen servierte, zwinkerte sie Haekwon freundschaftlich zu.

      „Du solltest wirklich ein neues Mädchen finden. Gutes Personal gibt es wie Sand am Meer“, meinte Frau No zu seiner Mutter vornehm schmatzend. Im Hintergrund stand Sunia mit versteinerter Miene, um weitere Wünsche der Gäste zu erfüllen. Ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen nahm sie die giftigen Worte, die aus dem Pferdegebiss des unangenehmen Gastes drangen, standhaft in sich auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie so eine Demütigung ertragen musste. Haekwon hätte Frau No am liebsten eine reingehauen. Die einzige Frau auf Erden, bei der er so etwas getan hätte. So war doch Sunia die gute Seele des Hauses. Die Person, mit der er sich noch