Joana Goede

Der Dichter und der Tod


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      Kromnagel wollte die Karte holen. Mehrings Karte. Alles in ihm schrie danach, beschützt zu werden. Beschützt vor einem Irren. Er kroch auf den Knien zu seinem Schlafzimmer, denn dort lag der Mantel, in den Mehring geistesgegenwärtig seine Karte mit der Telefonnummer für Notfälle gesteckt hatte. „Das ist ein Notfall“, dachte Kromnagel. „Das ist ganz bestimmt einer.“ Er erreichte das Bett, fand seinen Mantel, kramte darin herum und erstarrte. Er wurde richtig bleich und hielt inne. Denn das Telefon klingelte erneut. Erst konnte Kromnagel sich nicht bewegen, nach dem dritten Klingeln aber stürzte er erschrocken ins Wohnzimmer, griff nach dem Hörer und rief atemlos: „Ja?“

      Zugleich erhofft und gefürchtet hatte er die Stimme des unheimlichen Anrufers, denn er wollte ihm sagen, dass er ohne Brille praktisch blind auf die Entfernung war. Dass er ihn nicht hatte sehen können und deshalb auch niemandem etwas sagen konnte.

      Es war allerdings nicht die Stimme von vorhin, stattdessen war es Sixtus. „Du, wo warst du denn? Ich habe zehnmal bei dir geklingelt heute Vormittag. Ja. Hast du Essen da? Benni kommt heute direkt nach der Schule. Eigentlich sollte er heute nicht, aber seine Mutter hat Termine. Arzt oder so. Da hat sie ihn auf mich abgeschoben. Sie will nicht, dass er allein Zuhause rumhängt und am Rechner zockt. Er soll seine Schularbeiten erledigen. Naja. Da muss ich eben einspringen. Jetzt brauche ich für ihn Abendessen. Der frisst ja wie ein Scheunendrescher. Hast du nun was?“

      Kromnagel sagte sauer und erleichtert zugleich: „Nichts. Gar nichts. Nur Katzenfutter. Das wird er nicht wollen.“

      Sixtus seufzte tief und meinte: „Gut, dann werde ich noch einkaufen gehen müssen. So ein verdammter Mist. Brauchst du was, soll ich was mitbringen?“

      Kromnagel sagte wieder: „Nichts. Ich brauche nichts. Danke.“

      „Dann mache ich mich jetzt mal schnell auf die Socken, bevor der Bengel hier ankommt. Gut, dass heute meine freie Nacht ist. Da habe ich ja auch nichts Besseres zu tun als diesen Jungen zu hüten. Schönen Nachmittag noch, alter Hase.“ Er legte auf.

      Kromnagel fand es merkwürdig, gerade an diesem Tag, der mit einem toten Hasen angefangen hatte, als alter Hase von seinem Bruder bezeichnet zu werden. Zwar nannte Sixtus alle möglichen Leute alter Hase, aber gerade jetzt rief diese Bezeichnung bei Kromnagel eine Menge unangenehmer Assoziationen hervor.

      Und just als Kromnagel endlich wieder ins Schlafzimmer gehen und die so wichtige Karte suchen wollte, ging wieder das Telefon und dieses Mal nahm Kromnagel direkt ab. Nun war es Anabells liebe Stimme, die er hörte. Ein leichtes Wärmegefühl machte sich in ihm breit. Anabells Gutmütigkeit und Lebensfreude vertrieb ihm direkt ein wenig die schreckliche Angst, welche ihm die bedrohliche Stimme eingeflößt hatte.

      Anabell rief in den Hörer: „Mann, Winni, bei dir ist aber auch wirklich ununterbrochen besetzt! Mit wem bitte musst du denn permanent quatschen, wenn ich dich anrufen will? Ich melde mich an, für heute Abend. Hast du Essen im Haus?“

      Kromnagel sagte erfreut: „Nein, gar nichts. Nur Katzenfutter.“

      Anabell lachte: „Na, dann werde ich uns etwas mitbringen müssen. Was ist mit Chinesisch? Tristan und du, ihr mögt das doch beide gern.“

      Kromnagel erwiderte: „Ich möchte aber nicht, dass du dich für uns verschuldest. Eine Tiefkühlpizza würde es auch tun.“

      Anabell meinte: „Red keinen Stuss, bitte! Wenn ich komme, will ich auch, dass ihr was Vernünftiges esst. Wenn ihr das sonst schon nicht so oft tut. Also. Hast du wenigstens einen schlechten Wein da?“

      Kromnagel: „Schlechten Wein habe ich, wie du weißt, immer da.“

      Anabell: „Na wenigstens darauf kann man sich verlassen. Ich komme um 18.00 Uhr. Du kannst den Tisch decken und eine von den alten Platten anmachen. Das passt zu dem Wetter draußen, wirklich grässlich. Warst du schon draußen, heute? Unfassbar, nur Regen, Regen, Regen. Selbst mit Schirm kann man unmöglich trocken bleiben.“

      Kromnagel murmelte: „Ja, ich, ich weiß wohl.“

      Anabell: „Gut, ich komme dann. Bis gleich.“

      „Bis gleich“, sagte Kromnagel, dann hatte die flotte Anabell auch bereits aufgelegt. Er wusste nicht, ob er ihr hätte vom Friedhof erzählen sollen. Ob er ihr überhaupt etwas erzählen durfte. Schließlich wollte er sie unter keinen Umständen in diese Sache mit hineinziehen.

      Anabell war für Kromnagel fast wie eine Tochter. Zwar war die Beziehung mit ihrer Mutter irgendwann zerbrochen. Doch sie waren in Freundschaft auseinander gegangen, sprachen noch ab und an miteinander und verstanden sich gut. Anabell sah in Kromnagel mehr als einen verflossenen Liebhaber ihrer Mutter. Für sie war er ein Ruhepol in ihrem aufwühlenden Leben, ein stiller Punkt, an dem man anhalten und durchatmen könnte. Einer, mit dem man fest rechnen konnte, weil er immer da war, wenn man ihn brauchte. Anabell hatte sich stets einen Vater gewünscht wie diesen Winfried Kromnagel, den sie liebevoll Winni nannte und der sich diesen Spitznamen von ihr, von sonst aber keinem gefallen ließ. Zu ihrem richtigen Vater hatte sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr.

      Sie war nun auch schon Ende Zwanzig und arbeitete zu Kromnagels Freude in einer Buchhandlung. Durch ihn hatte sie die Liebe zum Buch entdeckt, er hatte mit ihr das Lesen geübt, als sie ein kleines Kind war. Am Anfang natürlich nur einfache Kinderbücher, aber bald hatte sie alles verschlungen, was er ihr anschleppte. Und sich alles von ihm vorlesen lassen, das seine Bibliothek bereithielt. Zusammen hatten sie gezittert bei Moby Dick und auch bei der Schatzinsel, hatten über die drei Musketiere gelacht und Tom Saywers Tante verspottet. Am liebsten aber ließ sich Anabell von Kromnagel seine eigenen Gedichte vorlesen. Das war nicht immer so gewesen. Seine Lyrik hatte sie erst zu schätzen gelernt, als die Liebe zwischen Kromnagel und ihrer Mutter sich in Nichts aufgelöst hatte. Durch diese schönen, feingliedrigen und sauber gestalteten Gedichte war sie Kromnagel noch näher gerückt. Kromnagel hatte ihr, seit er sie kannte, alles gewidmet, was er veröffentlichte. „Für meine liebe, kleine Anabell/ Der Freude größter, schönster Quell“ hieß es da etwas altmodisch. Aber so war Kromnagel eben. In der Zeit zurückgeblieben, hoffnungslos exzentrisch.

      Und als er sich daran erinnerte, wie sehr er Anabell liebte, da ging ihm mit einem Mal einiges auf. Darüber vergaß er vollständig, dass er eine alte Platte hatte auflegen wollen.

      Wenn er in Gefahr schwebte und ganz klar bedroht wurde, bedroht von einem Menschen, der offenbar vor nichts zurückschreckte, dann musste auch Anabell in Gefahr sein, wenn sie Kromnagel besuchte. Immerhin wurde sie durch ihren Besuch zu einer potenziellen Mitwisserin Kromnagels!

      Erschrocken griff er zum Hörer, wählte mit zitternden Fingern Anabells Nummer, aber sie nahm nicht ab. „Wahrscheinlich“, dachte Kromnagel, „ist sie ohnehin unterwegs und hat vom Handy aus angerufen. Sie ruft meistens vom Handy aus an.“ Er wählte deshalb als nächstes die Handynummer, doch dort meldete sich nur die Mailbox. Kromnagel fluchte, legte auf und begann nachdenklich in seinem kleinen Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

      Tristan schnurrte auf dem Sofa. Er mochte es, wenn Kromnagel auf und ab ging. Das tat Kromnagel meistens, wenn er ein Problem hatte, das sich nicht mal eben so lösen ließ. Es konnte ein Gedicht sein, bei dem ihm noch ein passender Reim fehlte, aber auch die unbezahlte Stromrechnung. In diesem Fall war es die Sorge um Anabell, die augenblicklich die Sorge um ihn selbst abgelöst hatte. Zuerst war er bei dem Anruf des Mörders in Todesangst geraten, jetzt fürchtete er nur um Anabell.

      Er machte nachdenkliche Schritte Richtung Schlafzimmer, kam aber immer wieder unverrichteter Dinge zurück. Denn er traute sich einfach nicht. Er traute sich nicht, Mehring anzurufen und von dem unheimlichen Anruf zu berichten. „Womöglich“, sagte Kromnagel zu sich selbst, „womöglich schicken die dann einen Streifenwagen, der das Haus bewacht. Was sollen die Nachbarn da denken? Wie sollst du ihnen erklären, dass du den Mörder gesehen hast, ohne ihn zu sehen, und deshalb in Gefahr bist? Und was wird dann der Mörder tun?“ Er stellte sich die Frage, wie er eigentlich zu der merkwürdigen Meinung kam, dass er den Nachbarn überhaupt irgendetwas erklären musste. Es ging ja wohl keinen von ihnen etwas an. So verwirrt war er schon, dass er innerlich begann, sich für sein eigenes Leben vor anderen zu rechtfertigen. Als wenn