überrascht, als sie entdeckte, daß der höfliche fremde Herr, der sie so unterhaltend über die Geographie Südamerikas aufgeklärt hatte, auf demselben Dampfer fuhr. Sie war in der rosigsten Stimmung und freute sich, in das Land zu kommen, in dem es ihr so gut gehen würde. Ihre Hoffnungen auf die Zukunft waren himmelhoch. Und wenn sie auch ein wenig enttäuscht war, daß der liebenswürdige Mr. Gonsalez sich während der Überfahrt nicht viel um sie kümmerte, sondern sich merkwürdig zurückhielt, so war ihr sein Verhalten doch nicht besonders wichtig. –
*
Einen Monat, nachdem Miss Hacker die »Braganza« betreten hatte, waren ihre Hoffnung und ihr Glaube an die Menschheit beinahe ganz zerstört. Die Schuld daran trug Rafferty, ein stämmiger Irländer, der allerdings in Argentinien geboren war. Er war der Eigentümer der Tanzhalle »La Plaza« in einer kleinen Stadt im Innern des Landes, wo Viehmärkte abgehalten wurden. Mit zwei anderen Mädchen war sie dorthin geschickt worden. Ihre Gefährtinnen besaßen allerdings schon Erfahrung darin, wie man die Gauchos zu unterhalten hatte, die jede Nacht zur Stadt kamen und für die das Lokal »La Plaza« der größte Anziehungspunkt war.
»Sie müssen Ihr Benehmen aber von Grund auf ändern«, sagte Rafferty lässig. »Ich habe gehört, daß Sie gestern abend Spektakel machten, als Senor Santiago wünschte, daß Sie sich auf seinen Schoß setzen sollten.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Miss Hacker empört. »Ich kann mich doch nicht mit einem Farbigen einlassen!«
»Also hören Sie einmal zu. In diesem Land gibt es keine Farbigen. Verstanden? Mr. Santiago ist ein Gentleman, außerdem hat er dicke Gelder – und wenn er sich das nächstemal um Sie bemüht, dann sind Sie gefälligst nett und liebenswürdig zu ihm. Haben Sie das begriffen?«
»Das tue ich nicht.« Sie war blaß und zitterte vor Aufregung. »Ich fahre heute noch nach Buenos Aires zurück.«
»So? Sehen Sie einmal an!« Ein breites Grinsen ging über Raffertys Gesicht. »Die verrückte Idee können Sie sich aber gleich aus dem Kopf schlagen!«
Plötzlich ergriff er sie am Arm.
»Sie gehen jetzt sofort auf Ihr Zimmer und bleiben dort so lange, bis ich Sie heute abend zur Vorstellung herunterhole. Und wenn Sie Launen und Grillen haben sollten – dann wird Ihnen das noch leid tun!«
Er stieß sie durch die rohe Holztür der kleinen Kammer, die ihr als Schlafzimmer diente. Nachdem er die Tür zugeschlagen hatte, blieb er noch im Gang stehen. Seine Flüche und Drohungen brachten sie vollständig außer Fassung und ließen ihr fast das Blut stocken.
Am Abend kam sie herunter und absolvierte ihre Tanznummer. Zu ihrem Erstaunen und ihrer Erleichterung erregte sie nicht die geringste Aufmerksamkeit des protzigen Mr. Santiago. Dieser halbblütige Spanier mit dem gelben Gesicht saß unten und würdigte sie keines Blicks.
Auch Mr. Rafferty war ungewöhnlich höflich und liebenswürdig.
Sie ging etwas beruhigter in ihr Zimmer zurück. Aber plötzlich entdeckte sie, daß der Schlüssel verschwunden war. Erfüllt von neuer Sorge legte sie sich nicht zu Bett, sondern blieb auf und wachte. Worauf sie wartete, wußte sie selbst nicht. Um ein Uhr hörte sie leise Schritte im Gang, und gleich darauf versuchte jemand, ihre Tür zu öffnen. Aber sie hatte zur Sicherung die Stuhllehne unter die Türklinke gestellt. Es wurde heftig daran gerüttelt, und der morsche Stuhl krachte. Dann vernahm sie ein Geräusch, als ob ein Kissen mit einem Stock geschlagen würde, und es war ihr, als ob draußen jemand längs der Holzwand zu Boden gesunken wäre. Einen Augenblick später klopfte es leise an ihrer Tür.
»Miss Hacker!« Sie erkannte die Stimme sofort wieder, »öffnen Sie schnell, ich will Sie von hier fortbringen.«
Mit zitternden Händen rückte sie den Stuhl fort, entfernte die wenigen schwachen Möbelstücke, die sie gegen die Tür gestellt hatte, und öffnete. Bei dem Licht einer Kerze, die sie angesteckt hatte, sah sie Mr. Gonsalez, der mit ihr auf der »Braganza« nach Argentinien gekommen war.
»Treten Sie ganz leise auf. Wir gehen über die Hintertreppe auf den Hof hinunter. Haben Sie einen Mantel? Nehmen Sie ihn mit, wir müssen über sechzig Kilometer mit dem Auto fahren, bevor wir die Eisenbahn erreichen ...«
Als sie durch die Tür trat, sah sie jemand im Gang liegen, und schaudernd erkannte sie, was das Geräusch vorhin bedeutet hatte.
Sie erreichten den großen Hof hinter der Tanzhalle, wo viele staubbedeckte Autos standen. Die Wagen gehörten den Farmern und ihren Gauchos, die in die Stadt gekommen waren, um sich am Abend zu amüsieren. Schnell gingen die beiden durch das Tor. Leon führte das Mädchen zu einem großen Wagen, der in der Mitte der Straße stand. Sie schaute sich noch einmal nach Raffertys Lokal um. Die Fenster waren hell erleuchtet, die Klänge der Kapelle tönten schwach durch die ruhige Nacht. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und weinte.
Leon Gonsalez hatte eine Anwandlung von Reue, denn er hätte ihr dies alles ersparen können.
Genau zwei Monate waren seit dem Tag seiner Abreise verflossen, als Leon die Treppe zu der Wohnung in der Jermyn Street hinauf eilte. Manfred saß behaglich in einem Sessel und las die Zeitung.
»Du siehst vergnügt und wohl aus, Leon.« George sprang auf und drückte dem Freund die Hände. »Du hast mir kein einziges Mal geschrieben – ich habe allerdings auch nicht erwartet, daß du Zeit, dazu finden würdest. Ich bin erst vor zwei Tagen zurückgekommen.«
Er berichtete kurz, wie es Poiccart in Sevilla ging.
»Hast du unseren Fall prüfen können?« fragte er dann.
»Ja, es bestätigt sich alles, was wir vermutet haben«, erwiderte Leon grimmig. »Nur vor Gericht können wir nicht beweisen, daß Lynne schuldig ist. Aber für uns liegt die Sache vollständig klar. Ich habe seinen Agenten besucht, als ich in Buenos Aires war, und habe in dessen Abwesenheit den Schreibtisch erbrochen und alle Papiere, durchgesehen. Es waren auch verschiedene Briefe von Lynne dabei. Aus ihrem Inhalt und Ton ging deutlich hervor, daß er genau weiß, um was es sich bei diesen Engagements handelt.«
Die beiden Freunde schauten einander an.
»Der Rest ist einfach«, sagte Manfred. »Ich möchte es dir überlassen, alle Einzelheiten auszuarbeiten, mein lieber Leon, und ich hoffe, Mr. Lynne wird es noch bitter bereuen, daß er vom schmalen Pfad der Tugend abgewichen ist.«
Es gab keinen unverdrosseneren und gewissenhafteren Mann als Leon Gonsalez. Wenn es solche Verbrechen zu strafen galt, so bedeutete die Ausarbeitung des Planes für ihn keine Anstrengung, sondern ein Vergnügen. Noch niemals wandte ein Feldherr auch der geringsten Kleinigkeit größere Sorgfalt zu als Leon.
Bevor der Tag zu Ende ging, hatte er die Gegend, in der Mr. Lynne lebte, ausgekundschaftet und dabei auch erfahren, daß Mr. Lynne Musik leidenschaftlich liebte.
Der Wagen, der Leon nach der Jermyn Street zurückbrachte, fuhr ihm nicht schnell genug, und als er endlich angekommen war, stürmte er in das Wohnzimmer.
»Das Unmögliche ist doch möglich, mein lieber George«, rief er und ging aufgeregt in dem Zimmer auf und ab. »Zuerst glaubte ich, daß ich meinen Plan nicht zur Ausführung bringen könnte. Aber denke dir, dieses Scheusal liebt Musik! Er hat ein mächtiges Grammophon in seiner Wohnung aufgestellt!«
»Willst du nicht erst einmal etwas Eiswasser trinken?« fragte Manfred freundlich.
»Nein, nein, mir ist es durchaus nicht zu heiß. Ich bin vollständig kühl und bei Sinnen, ich bin so kalt wie Eis. Wer hätte so günstige Umstände erwartet? Heute abend werden wir nach Hampstead fahren und uns einmal sein Konzert anhören!«
Es dauerte lange, bis er einen zusammenhängenden Bericht über alles gab, was er herausgebracht hatte. Mr. Lynne war denkbar unbeliebt bei seinen Nachbarn, und Leon erklärte auch die Ursache.
Manfred verstand alles noch besser, als er abends in der stillen Straße, in der Mr. Lynnes Haus lag, das Rollen der Pauken und Trommeln, das Schrillen der Trompeten, das Dröhnen der Glocken, die Schüsse der Kanonen und all den lauten Spektakel hörte, der »1812« bei unmusikalischen Leuten so